Der Theologe Nr. 80, aktualisiert am 24.7.2022
Dem "Lügengriffel" in
der Bibel auf der Spur
Wie konnte Mose über seine
eigene Beerdigung berichten?
(5. Mose 34)
Wie ist es möglich,
dass
der Gott der Liebe, der Vater aller Menschen und Seelen, rücksichtslos
Eroberungsfeldzüge befiehlt und zu Mord- und Totschlag, Plünderung und
Vergewaltigung aufruft? Den Schlüssel zum Verständnis gibt der
Gottesprophet Jeremia, der den Priestern und Schriftgelehrten seiner Zeit
vorhielt: "Wie könnt ihr sagen: Weise sind wir, und das Gesetz des
Herrn ist bei uns? Ja! Aber der Lügengriffel der Schreiber hat es zur Lüge
gemacht." (Jeremia 8, 8)
Was der Griffel der Schriftgelehrten und Priester wohl alles an der Wahrheit verdreht hat?
Heute geht die Forschung von vier Hauptsträngen der Überlieferung aus,
die sich zum Teil erheblich voneinander unterscheiden. Der älteste Strang wird als
"Jahwist" bezeichnet. Dieser Jahwist scheint in der Zeit des Königs Salomo
(965-926 v. Chr.) gelebt zu haben, denn er beschreibt viele Vorgänge an dessen Hof. Der
Jahwist "schildert, wie Jahwe durch zurückhaltendes Eingreifen den auf der Suche
nach verloren gegangener Seligkeit immer wieder strauchelnden und vom rechten Weg
abkommenden Menschen" wieder zu Gott zurückführt. (3) Der
Alttestamentler Gerhard von Rad bezeichnet "die künstlerische Meisterschaft dieses
Erzählers als eine der größten Leistungen der Geistesgeschichte aller Zeiten".
"Dieses Erzählen strömt ein überwältigendes Vertrauen in die Nähe Jahwes aus, in
die Unmittelbarkeit seines Waltens und die Möglichkeit, von dem allen aufs einfachste in
der neuen religiösen Sprache zu reden." (4)
Gefälschte Zeugen für die grausamen Tieropfer
Zur Rechtfertigung des
heidnischen Tieropferbrauchs, der die Menschen abstumpft und verrohen lässt, wurden von
späteren "Verbesserern" der Texte unter anderem David und
Salomo Tieropfer
angehängt.
Außerdem berief man sich auf Abraham, der seinen Sohn opfern wollte. Abraham
hatte eine Weisung Gottes, seinen Sohn nicht zu vergöttern, missverstanden, weil er von
heidnischen Vorstellungen noch nicht frei war. Ein Engel Gottes verhinderte die Bluttat.
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Wer von den Israeliten unter
diesen Umständen nicht in die alte Heimat zurückkehren wollte, wurde mit dem Tod durch
Pfählung bestraft (Esra 6, 11). Später bezahlten auch Johannes der Täufer und Jesus von
Nazareth ihren Protest gegen die Herrschaft der Priesterkaste mit dem Leben. Die
Samariter, die sich weigerten, die Rituale und Vorschriften des Zweiten Tempels
anzuerkennen, wurden seit dieser Zeit verachtet und ausgestoßen.
Im Olymp lebten alle Geschöpfe in Seligkeit und
Harmonie – bis ein hohes Wesen des Olymps mit Namen Eosphoros (der
Lichtträger) sich gegen diese Ordnung des Schönen und Guten auflehnte
und selbst die Leitung der Schöpfung übernehmen wollte. Es gelang
Eosphoros, einen Teil der Wesenheiten des Olymps für sich zu gewinnen.
Doch Zeus befahl, dass der abtrünnige Geist und seine Anhänger aus dem
Olymp verbannt und in den Hades (die Unterwelt) gestoßen wurden. Die
Rückkehr in den Olymp wird ihnen erst dann wieder möglich sein, wenn ein
anderes hohes Wesen des Himmels in die Unterwelt eindringt und deren
Herrscher besiegt.
Soweit ein (weniger bekannter) Ausschnitt aus der Mythologie der alten
Griechen. Wer die Bibel kennt, müsste eigentlich stutzig geworden sein:
Im letzten Buch der Bibel, in der Offenbarung des Johannes, steht
eine ähnliche Geschichte, die ebenfalls von einem "Engelsturz"
berichtet:
Plato (427-347 v. Chr.), der Schüler des Sokrates
(469-399 v. Chr.), spricht an einer Stelle vom Logos sogar als dem
"Bildner des wunderbar geordneten Weltalls, der Sohn des über allen
waltenden Gottes". Von daher verwundert es nicht, wenn der
frühchristliche Philosoph Justin der Märtyrer (gestorben in Rom um 165
n. Chr.) Sokrates als einen "Christen" bezeichnet, da er im Besitz der
Wahrheit um den Logos gewesen sei. Origenes sagt Ähnliches über Plato.
Die frappierende Übereinstimmung der Glaubensinhalte zwischen einem Teil
des griechischen Volkes und der frühen Christenheit erleichterte die
Ausbreitung des christlichen Glaubens in der damaligen Griechisch
sprechenden Welt. Diese Übereinstimmung bestätigt indirekt auch ein
Bannfluch, der im Jahre 543 anlässlich einer Synode in Konstantinopel
von Kaiser Justinian ausgesprochen wurde:
"Wer behauptet, glaubt oder für möglich hält, die Seele des Herrn habe
schon vor dessen Menschwerdung und vor seiner Geburt aus der Jungfrau
Maria bestanden und sei der göttliche Logos gewesen – den treffe der
Bannfluch!"
Auf derselben Synode wurde indirekt auch die Lehre der
Wiederverkörperung von der Kirche verworfen. An diese glaubten nicht nur
Sokrates und Plato, sondern schon der Philosoph Pythagoras (geb. um 600
v. Chr.). Dieser wurde für über zehn Jahre (525-514) an den Hof des
Königs von Babylon verschleppt. Dort hielten sich damals noch zahlreiche
Israeliten auf, so dass Pythagoras auch die Schriften der späteren Bibel
kennen gelernt haben könnte, die dort als das Werk Salomos bezeichnet
werden (siehe oben Teil 1). Im Buch der Weisheit wird
der Gedanke "... und keiner kommt zurück" (aus dem Reich des Todes) als
"verkehrter Gedanke" bezeichnet! (Weisheit 2, 5)
Pythagoras warb übrigens auch für eine vegetarische
Ernährung, und zwar aus ethischen Gründen. Die hohe Ethik der ionischen
Griechen, die wir auch bei Homer, Hesiod, Heraklit und vielen anderen
finden, stammt aber sicherlich auch aus eigenen, inneren Quellen.
Sokrates berief sich z. B. auf eine "innere göttliche Stimme". Er sprach
von dem verborgenen Gott, der in der unsterblichen Seele jedes Menschen
lebt.
Doch weshalb wurde Sokrates zum Tode verurteilt? Weshalb wurde im 6.
Jahrhundert nach Christus der letzte Rest griechischer Geistigkeit, die
Origenes (184-253 n. Chr.) in genialer Weise mit dem frühen Christentum
in Verbindung gebracht hatte, von der Kirche verdammt?
Wir haben es hier offenbar mit einem geistigen Kampf zu tun, der immer
wieder in der Geschichte der Menschheit auftrat: Das Wissen um den Sinn
des Erdenlebens und um die höhere Ethik und Moral, die den Menschen Gott
wieder näher bringt, wurde von Gegensatzkräften bekämpft. Dies gelingt
umso mehr, je weniger wir Menschen das im täglichen Leben verwirklichen,
was an geistigem Gut in den einzelnen Zeitepochen gelehrt wurde und
wird. Ähnlich wie im Alten Testament (siehe oben Teil 1),
und ähnlich wie im Falle des Jesus von Nazareth war es wiederum die
Kaste der Priester, die in diesem Kampf die Hauptrolle spielte. Sokrates
wurde wegen angeblicher Gotteslästerung angeklagt und musste den
Schierlingsbecher trinken. Doch welche Götter waren es, die Sokrates
angriff?
Neben der
– oder vielmehr gegen die – Auffassung
eines himmlischen Gottvaters Zeus, der als der Inbegriff des Guten und
Schönen galt, machte sich unter den Griechen auch eine entgegen gesetzte
Auffassung breit: Der Zeus, der sich von menschlichen Schwächen
beherrschen lässt, der unberechenbar ist. Unter verschiedenen (Götter-)
Masken schlich sich der Gott der Unterwelt in den Olymp ein: der
bocksbeinige Dionysos (man denke an die Redensart: "den Bock zum Gärtner
machen"), der sich und andere berauschte; der scheinbar schöngeistige
Apollo, dessen Name (von Abullu) dem babylonischen Baal, dem Gott der
Unterwelt, verdächtig ähnlich klang; der Keulen schwingende Herkules –
ein verdächtig brutaler "Held" fürwahr. Diese drei Götter bildeten eine
"Dreifaltigkeit" – ähnlich der kirchlichen Dreifaltigkeit späterer
Jahrhunderte. Während Pythagoras blutige Opfer ablehnte und auf die
klare Vernunft des Menschen setzte, wurden andernorts in
geheimnisumwitterten Orakelstätten mit Opfertieren und Rauschmitteln
angebliche Zukunftsvisionen ermittelt. Bei den Kretern und den
Spartanern waren zeitweise sogar Menschopfer üblich; die Spartaner
setzten schwächliche Kinder einfach aus oder warfen sie in Abgründe.
Die Ordnung schaffende "Engelsgestalt" Kronos/Michael, dessen Symbol ein
Stier war, wurde symbolisch in Form lebendiger Stiere gequält und
getötet. Bis heute haben sich möglicherweise Reste dieses Brauches, über
Jahrhunderte weiter verbreitet, im spanischen Stierkampf erhalten.
Solche heidnischen Bräuche und Göttervorstellungen bekämpfte Sokrates
mit feinem Spott und tiefgründigen Fragen. Deshalb musste er sterben.
Das ionische Griechentum unterlag dem dorischen Griechentum (siehe
unten). Dennoch blieb vieles von der hoch stehenden Botschaft
erhalten, die das freie Griechenland der Menschheit vermachte. In
späteren Jahrhunderten, als die Macht der Kirche nachließ, kam es wieder
an die Oberfläche. Seine eigentliche Botschaft ist heute aktueller denn
je. (Matthias Holzbauer)
Stelle dir vier Fragen
am Abend |
Jesus von Nazareth, der größte Prophet aller Zeiten, zeigte den Menschen Seiner Zeit und nach Ihm bis heute den Weg zum Herzen Gottes auf. Er musste dabei nicht nur gegen die Verstocktheit Seiner unmittelbaren Umgebung ankämpfen, sondern auch immer wieder gegen das durch die "Lügengriffel der Schreiber" (siehe Teil 1) verfälschte jüdische Gesetz, das Mose untergeschoben wurde. Denn viele Menschen waren überzeugt, sie könnten durch die äußere Einhaltung von Vorschriften und durch Tieropfer den Himmel erreichen, statt durch innere Wandlung und durch Aufopferung ihres Egos.
Nach dem Tod des Nazareners bauten urchristliche Gemeinden auf der hohen Ethik auf, die Er gebracht hatte. Die Glieder der Urgemeinden waren untereinander gleichberechtigt, auch die Frauen gegenüber den Männern. Sie wurden von Christus unmittelbar geführt durch das innere Wort von Propheten und Prophetinnen. Die Urgemeinden waren Lebens- und Arbeitsgemeinschaften, in denen jeder durch seiner Hände Arbeit seinen Lebensunterhalt erwirtschaftete und darüber hinaus etwas zum Gemeinwohl beitrug. Priester gab es keine. Die ersten Christen feierten ein gemeinsames Liebesmahl, bei dem sie vegetarische Speisen verzehrten. Die ersten Christen kannten auch keine Säuglingstaufe und keine Beichte.
Die periodisch auftretende Verfolgung der Christen durch die römische Herrschaft veranlasste die Urchristen einerseits zu großem Bekennermut, andererseits wurden die Gemeinden dadurch geschwächt, weil gerade die Stärksten das Martyrium auf sich nahmen. In Zeiten größerer Toleranz des Staates drängten viele Heiden, die ihre Vorstellungen mitbrachten, in die Gemeinden. Es fehlte jedoch an Vorbildern, an Urchristen, die ihnen aus der eigenen Verwirklichung der Gesetze Gottes eine klare Linie vorgaben.
"Denn er [Origenes] sagt, dass die Seelen vor den
Körpern existierten und aus der Heiligkeit in böse Begierden verfielen und von Gott
abfielen; aus diesem Grund habe er sie verurteilt und eingekörpert,
und sie seien im Fleische wie in einem Gefängnis." |
Für Menschen aus den damaligen antiken Mysterienkulten war es einfacher
vorstellbar, an einen einzigen Gott zu glauben, der ihnen die Erlösung von allen Sünden
zusichern konnte – möglichst ohne eigenes Zutun. Sie waren eine strenge Hierarchie und
eine Priesterkaste gewohnt, die als Vermittler zwischen Gott und den Menschen auftraten.
Sie hielten rituelle Messopfer und Prozessionen ab, verehrten Götterstatuen und glaubten
an eine "Dreifaltigkeit" (z. B. Jupiter, Juno und Minerva). All diese Elemente
aus den heidnischen Mysterienkulten und noch viele mehr fanden in der Folgezeit Eingang in
die Institution Kirche. Damit gewannen die "Götzenkulte" innerhalb der
Kirche immer mehr an Einfluss.
Christus wurde für die
Heiden herausgestellt als "einziger Gott", der die Erlösung gebracht hat
–
sprich: alle Sünden sind dadurch weggenommen. Dies ist bis heute zentrale Lehraussage
beider Kirchen!
"Denn indem so eine Geburt
auf die andere folgt, will sie uns im allmählichen Fortschreiten zur
Unsterblichkeit führen." (Clemens von Alexandria, Stromateis IV, 160,3) |
Origenes ging nach Palästina. In jahrzehntelanger Arbeit analysierte er
genauestens die "heiligen" Schriften der Juden und arbeitete heraus, was
ursprüngliche Texte und was spätere Einschübe der Schriftgelehrten waren. In einigen
Fällen gelang es ihm, Bischöfe, die einer (vor allem von Rom ausgehenden) Verfälschung
der Lehre das Wort redeten, wieder von der ursprünglichen Wahrheit zu überzeugen.
Doch Origenes starb im Jahre 254 an den Folgen der Folterungen, die er bei
der Christenverfolgung von 250 erlitten hatte. Es dauerte Jahre, bis jemand an seine
Arbeit wieder anknüpfte. Einer davon war Arius, der jedoch von seinem Widersacher
Athanasius, einem bekannten Wortverdreher und Verleumder, vertrieben und gejagt wurde. 336
starb Arius in Konstantinopel, höchstwahrscheinlich durch Gift.
Bis dahin hatte sich bereits ein fataler Wandel vollzogen. Kaiser
Konstantin, ein blutrünstiger Tyrann und bis zu seinem Todestag ein Anhänger heidnischer
Kulte, hatte das bereits zum Scheinchristentum herabgesunkene Christentum zu seiner
Staatsreligion gemacht. Der "christliche" Klerus wurde privilegiert und half ihm
seinerseits, seine Herrschaft ideologisch abzusichern. Konstantin verschmolz den
heidnischen Glauben – in dem der Gedanke eines einzigen Gottes auf dem Vormarsch war
– mit
dem scheinchristlichen. Auf dem Konzil von Nizäa (325) setzte er durch gewiefte Taktik
das Dogma der "Wesensgleichheit" von Gott und Christus durch. Später wurde auch
noch der heidnische Gedanke einer Dreifaltigkeit von drei "wesensidentischen"
Göttern im kirchlichen Dogma verankert. Dies kam heidnischen Vorstellungen entgegen. Eine
völlige Identität dreier "Götter" in einem ist jedoch unlogisch.
Hier wurde durch eine verwirrende Lehre der Boden bereitet für das
spätere Aufkommen des Islam, der aus dem Judentum und dem Christentum
hervorging und all diese Ungereimtheiten mit einem Federstrich beiseite
wischte.
Wenn man einen Gegner (noch)
nicht direkt bekämpfen kann, verfälscht man seine Aussagen. Genau das taten Generationen
von Theologen mit Origenes, darunter so bekannte Köpfe wie der "heilige"
Hieronymus. Man leugnete oder vertuschte, dass Origenes (wie Salomo, Pythagoras und
Sokrates) die Wiedergeburt gelehrt hatte, das Gesetz von Saat und Ernte und die
Wiederherstellung aller Dinge. Letztere besagt, dass alle gefallenen Engel einst wieder
bei Gott sein werden. Eine ewige Verdammnis gibt es nicht.
"Das ist ja nur unsere Hülle
[d. h. der Körper des Menschen], die uns aus Anlass unseres Eintritts
in diese Welt von außen umgelegt ist, damit wir diese gemeinsame
Erziehungsanstalt [die Erde] betreten konnten; aber verborgen im
Inneren wohnt der Vater und sein Sohn, der für uns gestorben und mit
uns auferstanden ist." (Clemens von Alexandria, Paidagogos, Kap. 33, 6) |
Fragen selbst verliehen hatte. Im
Jahre 543 formulierte der Kaiser auf einer Synode der Ostkirche neun Bannflüche gegen die
Lehre des Origenes (und damit gegen wesentliche Teile der ursprünglichen Lehre des Jesus
von Nazareth). Zehn Jahre später wurden diese Bannflüche von der gesamten Kirche, also
auch von der römisch orientierten Westkirche, sinngemäß wiederholt, sogar auf 15
Bannflüche erweitert. Die Kirche verurteilte darin unter anderem die Wiederherstellung
aller Dinge und die Präexistenz der Seele vor der Geburt des Menschen, und damit indirekt
auch die Wiederverkörperungslehre.
Bemerkenswert ist dabei, dass die Lehre des Origenes in diesen
Bannflüchen plötzlich wieder viel klarer dargestellt wird als in den Jahrhunderten
zuvor. Worauf ist das zurückzuführen?
Sträuli
weist hier auf ein auffallendes zeitliches Zusammentreffen hin: Das Jahr
543 fällt mitten in den zwanzigjährigen Vernichtungskrieg der Byzantiner
gegen die Ostgoten in Italien – die arianischen, also origenistischen
Glaubens waren! Stammte die überraschend genaue Kenntnis der Lehre des
Origenes von den arianischen Ostgoten? Und waren die schauerlichen
Bannflüche des Justinian Teil einer "okkulten" psychologischen
Kriegführung?
"Wer
behauptet oder glaubt, die Seelen der Menschen hätten schon vor
ihrer Geburt bestanden; sie seien einstmals Vernunftwesen gewesen
und hätten heiligen Mächten angehört; sie seien dann der göttlichen
Schau überdrüssig geworden und hätten sich dem Bösen zugewandt;
dadurch sei ihre Liebe zu Gott erkaltet, weshalb sie die Bezeichnung
‘Abgefallene’ erhielten; zur Strafe seien sie in Körper einverleibt
worden – den treffe der Bannfluch!" So lautet der erste der neun Bannflüche des Justinian gegen die
Origenisten aus dem Jahre 543. Wer diese neuen Flüche (oder die 15 des Jahres 553)
hintereinander liest, kann vielleicht die Wirkung auf die Menschen damals erahnen. Wie
Hammerschläge fallen die Worte: "den treffe der Bannfluch" immer wieder auf
einfache Glaubensaussagen hernieder.
In Afrika und anderen Teilen der Welt kennt man noch heute die Praxis der
schwarzen Magie: Wer einen Feind schädigen will, der geht zu einem Schamanen, der dann
eine Puppe bastelt, die den betreffenden Menschen darstellt und diese z. B. mit einer Nadel
ersticht und dazu verhexende Zaubersprüche murmelt. Erfährt der Betreffende von dieser
"Verhexung", so kann er in tiefe Ängste stürzen und unter Umständen
tatsächlich sterben. Ähnliches gilt für die soziale Ausgrenzung in Stammesverbänden,
die manches Mitglied nicht verkraftet. Auch Gedanken sind Energie, die beim Empfänger
ankommen, wenn dieser nicht wirklich "über den Dingen steht".
Für die Kirche waren solche schwarzmagischen Mechanismen der Abschreckung
und sozialen Ausgrenzung schon immer ein beliebtes Instrument zur Festigung ihrer Macht.
Die zahlreichen Bannflüche gegen verschiedenste Lehrmeinungen, so z. B. auch gegen Luther,
sind bis heute nicht aufgehoben. So stellt sich die Kirche auch als
schwarzmagischer Götzenkult dar.
Immer wieder wird sie gefeiert:
Die "Christianisierung" Germaniens durch irische Wandermönche oder den
Angelsachsen Bonifatius, die, Heiden bekehrend, durch die Lande zogen. Immer wieder
dringen aber auch merkwürdige Lichtstrahlen durch das neblige Dunkel der germanischen
Vorgeschichte im "christlichen Abendland". So etwa, als man
sich in Würzburg anlässlich des Kiliani-Festes 1989 die Frage stellte:
"Bekehrten die Frankenapostel womöglich gar keine Heiden?"
(Main-Post)
Die "Frankenapostel" sind die Iren Kilian, Kolonat und Totnan,
die 689 aufgrund einer kirchenrechtlichen Ehestreitigkeit in Würzburg von den Gehilfen
einer germanischen Herzogin erschlagen wurden. Abgebildet wurde zur oben genannten
Schlagzeile die Rückseite eines fränkischen Grabsteins aus der Zeit vor der
angeblichen Bekehrungstätigkeit der frommen Iren. Der Grabstein zeigt einen über den Tod
triumphierenden Christus.
Inzwischen geben auch katholische Autoren zu, dass das Christentum schon
vor der Eingliederung Germaniens in die römisch-katholische Kirche im 8. Jahrhundert
durch den Angelsachsen Winfried (genannt Bonifatius, 672-754) dort verbreitet war.
Ein Großteil der germanischen Stämme hat sich zwischen dem vierten und
sechsten Jahrhundert, also mitten in der Völkerwanderungszeit, zum Christentum bekehrt
–
aber eben nicht zum römischen, sondern zum arianischen. Welchen Unterschied machte das
aus?
Arius (ca. 260-336, vgl. Teil 3) war ein einfacher Priester aus Alexandria in Ägypten, der wegen seiner Ansichten von seinem eigenen Ortsbischof Alexander verflucht und aus der Heimat vertrieben wurde. Arius vertrat im wesentlichen die Position des großen frühchristlichen Theologen Origenes (184-254), der ebenfalls aus Alexandria stammte und von dort flüchten musste. Origenes und Arius wehrten sich dagegen, dass der Einfachheit halber Gott und Christus in ihrem Wesen gleichgesetzt wurden. Diese Gleichsetzung kam den in Massen zum Christentum strömenden Heiden entgegen, weil sie dann nur einen "Gott" anzubeten brauchten, der sie auch gleich noch angeblich von allen Sünden erlöst hatte.
Europa zur Zeit Theoderichs (um 500 n. Chr.)
Für Origenes war Christus
der erstgeborene Sohn Gottes, ein mächtig wirkendes himmlisches Geistwesen, das den
Menschen Beistand leistete – doch nicht einfach Gott selbst. Origenes lehrte die
Wiederverkörperung des Menschen und die Wiederherstellung aller Dinge – das heißt, alle
Seelen und Menschen werden einst wieder bei Gott sein. Es gibt demnach keine ewige
Verdammnis. Der Mensch – im Innersten ein reines Wesen der Himmel, das zur Erde fiel
–
kann und soll sich durch Befolgung der göttlichen Gebote von den Sünden reinigen, um
wieder zum Ebenbild Gottes zu werden.
Die Lehre des Arius – in Wirklichkeit die des Origenes, der aber damals
noch zu angesehen war – wurde 325 auf dem Konzil von Nizäa auf Geheiß Kaiser Konstantins
ein erstes Mal verurteilt. Nach dem Tod des Bischofs Alexander erwuchs dem Arius ein neuer
Gegner in Athanasius, der auch vor Verdrehungen der Aussagen seines Gegners und vor
Verleumdung seiner Person nicht zurückschreckte. Arius wurde 336 in Konstantinopel
vergiftet, nachdem er zuvor rehabilitiert worden war. Der theologische Streit zwischen
Katholiken und Arianern tobte noch viele Jahrzehnte lang in beiden Hälften des römischen
Reiches – wobei die Katholiken schließlich die Oberhand behielten. Die Arianer
–
übrigens auch keineswegs immer lammfromm – wurden verketzert, vertrieben, enteignet,
umgebracht.
Die "Ketzerei" hielt sich jedoch außerhalb des Römerreiches
–
bei den Germanen. Wie war sie dort hingekommen?
Nicht durch Arius. Im Grunde genommen übernahmen die Germanen auch nicht die Lehre des Arius, sondern die seines Vorkämpfers Origenes. Der Überbringer war ein Gote mit griechischem Einschlag: Wulfilas (313-383). Mitte des dritten Jahrhunderts wurden seine Vorfahren mütterlicherseits von Goten aus Kappadokien in Kleinasien entführt und auf den Balkan gebracht. Kappadokien war eine Hochburg der Origenisten; dort war z. B. bis 268 der Origenes-Schüler Firmian Bischof.
Die Grabkirche des arianisch gläubigen Theoderich in Ravenna (links) und die Kapelle auf dem Marienberg in Würzburg (rechts), wohin seine Nichte Amalberga geheiratet hat, haben denselben Grundriss. Würzburg entwickelte sich in der Folgezeit zu einem Zentrum der arianischen Mission unter den Germanen.
Der Gote Wulfilas traf während eines Aufenthaltes in Konstantinopel (337) mit Bischof Eusebios von Nikomedien (heute Izmit) zusammen, der sich auf dem Konzil von Nizäa nach anfänglichem Zögern gegen das neue Dogma Konstantins ausgesprochen hatte. Eusebios war Origenes-Anhänger. Wulfilas begründete zunächst die Schriftsprache der Goten und übersetzte dann die gesamte Bibel ins Gotische. Wulfilas, der "Gotenbischof", wurde 383 in Konstantinopel – wie vor ihm Arius – höchstwahrscheinlich vergiftet, als er sich gerade einem Glaubensgespräch mit katholischen Theologen stellen wollte. Doch die Impulse, die er seinen Zeitgenossen gegeben hatte, waren nicht mehr aufzuhalten: Von den Goten aus übernahmen die meisten anderen Germanenstämme – Vandalen, Sueben, Alemannen, Thüringer, Bajuwaren, Langobarden, ansatzweise wohl auch Teile der Franken und Sachsen – das origenistisch geprägte christliche Glaubensverständnis des Wulfilas.
Dieser Glaube ist zwar nicht
in allen Punkten mit demjenigen der ersten Christen gleichzusetzen. So waren die Germanen
durchaus keine Pazifisten, wie Jesus von Nazareth einer war. Sie kannten auch Priester,
obgleich der Nazarener keine Priester eingesetzt hatte. Doch es gibt eine Reihe
gravierender Unterschiede zur römischen Kultreligion: Die Priester mussten einem Beruf
nachgehen, also von ihrer Hände Arbeit leben; es gab keinen Kirchenzehnt. Es gab zwar
Klöster, doch nicht mit lebenslanger Verpflichtung, sondern mit Mönchen und Nonnen
"auf Zeit". Bischöfe und Ortspriester waren grundsätzlich verheiratet
– weil
dies Paulus so erwähnt. Es gab keinen Papst. Es wurden keine Heiligen und Reliquien
verehrt, es gab keinen Mutter-Gottes-Kult, keine Ohrenbeichte, keine Kindertaufe, kein
rituelles Abendmahl, sondern ein "Brudermahl" nach urchristlichem Vorbild. Die origenistischen Germanen waren bekannt für ihre Toleranz in Glaubensdingen:
"Religion kann man nicht anbefehlen", lautete der Grundsatz des Italien
regierenden Ostgotenkönigs Theoderich. Die Germanen machten also keine Versuche, die
katholische Bevölkerung der von ihnen eroberten Gebiete zu ihrem Glauben zu bekehren. Sie
griffen erst dann ein, wenn der katholische Klerus zu Gunsten ihrer militärischen Gegner
intrigierte und spionierte – und das war sehr häufig der Fall. Auch die Vandalen, die
sich in Nordafrika in einer sehr schwierigen Lage befanden und zeitweise die katholische
Bevölkerung diskriminierten, waren insgesamt wesentlich besser als ihr (ihnen später
angehängter) Ruf.
Zu Beginn des sechsten Jahrhunderts beherrschten arianische Germanenstämme weite Teile Europas (siehe Karte oben). Der Ostgote Theoderich (471-526) hatte von Ravenna aus durch eine geschickte Heiratspolitik ein Bündnis für Frieden geschaffen. Seine Nichte Amalberga heiratete um 500 den Thüringer Herzog Hermanfried und zog in dessen Hauptstadt Würzburg. Diese Stadt wurde in der Folgezeit zu einem Zentrum arianischer Mission unter den Germanen. Der Grundriss der Rundkapelle auf der Würzburger Marienfestung entspricht demjenigen der Grabkirche Theoderichs in Ravenna.
Die Gegenkräfte hatten sich
zu diesem Zeitpunkt jedoch längst formiert. Zum einen stachelte der katholische Klerus
den byzantinischen Kaiser Justinian (482-565) dazu auf, die arianische
"Irrlehre" in einer Art "heiligem Krieg" auszurotten. Seine Truppen
vernichteten zuerst (534) das nordafrikanische Vandalenreich, kurz darauf, in einem
verheerenden Krieg (535-555), das Reich der Ostgoten in Italien. Während dieses Krieges
(vgl.
Teil 3)
ließ Justinian
nicht zufällig die Lehre des Origenes verdammen (543/553). Von Vandalen und Ostgoten
verliert sich seitdem jede Spur in der Geschichte; sie waren als Völker ausgelöscht.
Die arianische
"Ketzerei" war damit ausgelöscht. Es dürfte jedoch kein Zufall sein, dass
ehemals gotische Gebiete – Oberitalien, Südfrankreich, Bulgarien und Bosnien
– im
Mittelalter zum Nährboden für die bogumilische und katharische Bewegung wurden. Aus
Nordspanien stammte der Theologe und Mediziner Michael Servet (Serveto), der 1553 in Genf
auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurde. Servet brachte es in seinem kurzen Leben (ca. 40
Jahre) fertig, zweimal unter verschiedenen Namen von der Inquisition verurteilt zu werden:
Als Theologe und als Mediziner. Vor der katholischen Inquisition gelang ihm die Flucht
–
doch in Genf ereilte ihn der tödliche Bannfluch des Reformators Calvin. Servets
"Verbrechen": Er vertrat die Ansicht, dass die kirchliche Lehre von der
Dreifaltigkeit unwahr sei. Er war "Antitrinitarier" und stand damit in bester
Tradition des Origenes, der ebenfalls die Auffassung bekämpft hatte, dass Gott-Vater,
Christus und der Heilige Geist sich in nichts unterscheiden würden.
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