Ein langer Weg
aus der evangelischen Kirche heraus

Ein Aussteiger berichtet

Aktualisiert am 12.12.2024  



Seit dem 1
. Februar 1992 bin ich kein Pfarrer mehr. Einige Tage später habe ich die evangelisch-lutherische Kirche verlassen.
Der Weg bis zu dieser Entscheidung war lang. Als ich mit 18 Jahren den Entschluss zum Theologiestudium fasste, blickte ich zurück auf eine glückliche Kindheit und Jugend. Ich hatte mich als Jugendlicher für ein Leben mit Jesus Christus entschieden. Und die Berufswahl "Pfarrer" wurde in dem gesellschaftlichen Umfeld, in dem ich lebte, als logische Konsequenz dieser Entscheidung verstanden. Seither begann für mich aber ein kompromisshaftes Leben, für das ich einen hohen Preis bezahlen musste. Schon die alten Sprachen Latein, Altgriechisch und Hebräisch hatte ich nicht so gerne gelernt, denn ich wollte lieber in der Gegenwart und auch in Sprachen von heute leben, nicht in der Vergangenheit. Meine theologischen Fragen bzw. Glaubensfragen waren damals bald weitgehend beantwortet. Weil ich aber für mich keine überzeugende Alternative zum Theologiestudium fand und mein damaliges Blickfeld sehr auf die Universität eingeschränkt war, vertiefte ich mich trotz einiger innerer Widerstände und sogar manchem Überdruss bis zum Ende des Studiums in unzählige Worte und Lehren über Gott. So war ich froh, nach dem abgeschlossenen Studium nicht mehr so viele Worte machen zu müssen, sondern mit dem praktischen Dienst in der Kirche beginnen zu können.


Doch musste ich mich jetzt noch mehr als zuvor damit auseinandersetzen, dass ich durch meine Berufsentscheidung auf den evangelischen Glauben festgelegt war und diesen Glauben in dem gesetzten Rahmen der zugehörigen Institution auch öffentlich repräsentieren musste. Es ging offiziell darum, "Gottes Heil in Jesus Christus in der Welt zu bezeugen". So heißt es wörtlich in der Verfassung der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern. Doch spürte ich deutlich, dass ich in meinem eigenen Leben noch weit davon entfernt war und auch in den Dienst nur einen kleinen Teil von dem einbringen konnte, was ich aus dem Neuen Testament von Jesus von Nazareth wusste. Einerseits passte ich mich nun an oder versuchte, in kleineren Bereichen etwas in dem von mir gewünschten Sinne zu tun; andererseits war ich bemüht, auch in Randbereichen des Berufes Orte zu finden, wo das Leben mehr von den "Früchten" tragen konnte, die mir wichtig waren. Dabei konnte ich an manche früheren Erfahrungen anknüpfen. So kamen mir schon als Jugendlichen die evangelischen "Gottesdienste" fremd und eher bedrückend vor. Beeindruckt hatten mich stattdessen die "Jugendstunden" mit Sport, Besinnung, "Abenteuer" und gemeinsamen Aktionen. Doch das war nun überwiegend Vergangenheit. Ich war jetzt evangelischer Pfarrer – im Bewusstsein der meisten Gläubigen eine Art höher gestellter Auftrag mit einer besonderen "Berufung" und auch einer speziellen Beauftragung, der so genannten "Ordination"= Amtseinsetzung zum evangelischen Pfarrer. Als Mitte des Gemeindelebens wird dabei der Gottesdienst verstanden. Und dort grenzt sich der evangelische Pfarrer wie der katholische Priester auch äußerlich von den anderen Gottesdienstteilnehmern ab – durch ein eigenes Gewand und durch seine besondere Stellung am Altar oder auf der Kanzel. Und in vielen kirchlich-liturgischen Formeln grenzt er sich auch aus, indem er z. B. in der 2. Person zu den anderen spricht ("Der Herr segne euch", "Friede sei mit euch", "Ihr seid gekommen" usw.) statt in der 1. Person Plural, dem "Wir". Seine Rechte, Pflichten und Einflussmöglichkeiten sind größer als die der anderen Gemeindeglieder. Verschiedene Studien aus den unterschiedlichsten Kirchen stimmen so auch darin überein, dass der Pfarrer die "Schlüsselperson" für den Gemeindeaufbau ist, der wichtigste "Faktor", der zu berücksichtigen ist.

Wenn in Gemeinden aber wenig bis nichts von der neutestamentlichen Verheißung eines kommenden Friedensreiches spürbar ist, wird die geistliche Ohnmacht nicht selten selbstzufrieden gerechtfertigt: Es wäre eben damals eine andere Zeit gewesen, und Gott wirke auch durch unsere Schwachheit. Oder, wie es eine damalige Kollegin einmal in einer Predigt formulierte: "Ein Held tut, was er kann." Und da wir alle anscheinend ja mehr oder weniger tun, was wir können, könnten wir uns alle als "Helden" betrachten, auch wenn sich dadurch nicht besonders viel zum Positiven ändert. 
Mit solchen Antworten konnte ich mich aber auf Dauer nicht zufrieden geben. Ich war überzeugt, dass Jesus Christus auch heute in Vollmacht wirken kann. Nur wusste ich nicht, wie genau und wo. Zwar habe ich auch in der Kirche Menschen kennen gelernt, die sich bemühen, nach der Lehre von Christus zu leben und die den Eindruck erwecken, nach ihrem Bewusstsein ihr Bestes zu geben. Vor allem vor der Arbeit von manchen ehrenamtlichen Mitarbeitern hatte ich großen Respekt. Doch aufs Ganze gesehen habe ich Kirche nicht als "Gemeinde Jesu Christi" erlebt. Ich habe sie damals eher recht nüchtern erfahren als sehr großen religiös und sozialpädagogisch orientierten Bürgerverein mit bestimmten Zeremonien, Feiern, Kleingruppen, Gremien und Bildungsveranstaltungen, wo man, wenn das einigermaßen klappt, anständig miteinander umgeht. Und um Kirchenaustritte zu verhindern und die Kirche als "Volkskirche" zu erhalten, ist eine wesentliche Aufgabe des Pfarrers dabei das Integrieren von unterschiedlichen oder gar gegensätzlichen Meinungen und Glaubensrichtungen (z. B. Jägern und Tierrechtlern, Metzgern und Vegetariern, Kriegsbefürwortern und Pazifisten).
Was ich damals aber noch kaum mitbekommen hatte, war dabei die Tätigkeit der so genannten "Sekten- oder Weltanschauungsbeauftragten". Die Nachfolger der früheren Inquisitoren üben ihren Dienst im Auftrag der gesamten Kirche aus. Und Andersdenkende, die nicht mehr im breiten Kirchen-Strom mitschwimmen und den Verantwortlichen der Kirche aus verschiedenen Gründen ein Dorn im Auge sind, werden von ihnen ausgegrenzt und vielfach als "Sekten" verleumdet, und es wird sogar versucht, zum Beispiel ihre wirtschaftliche Existenz durch Warnungen, Boykottaufrufe u. ä. zu zerstören.
Bald würde ich selbst in das Visier dieser aus damaliger Sicht Noch-Kollegen geraten. Dabei müssten sich die Kirchenvertreter, wenn sie schon unbedingt von "Sekten" sprechen wollen, dieses Etikett am treffendsten selbst anheften. Denn das lateinische Wort "secare" heißt "abspalten", und die katholische Kirche ist eine Abspaltung vom Urchristentum und vom antiken Heidentum, und die evangelische Kirche ist wiederum eine Abspaltung von der katholischen, also, wenn man so will, eine Sekte im doppelten Sinne bzw. eine "Sekte hoch 2". Somit ist auch ein "Kirchenaustritt" nichts anderes als ein Sektenausstieg.

Doch noch einmal zurück zum kirchlichen Leben: Während meiner Zeit in dieser Kirchen-"Sekte" erlebte ich zunächst, dass viele Gruppen und Personen dort einen Ort gefunden haben, an dem sie ihre Ideen einbringen konnten. Nur: Sind diese Ideen alle christlich? Welche sind es und welche sind eben "Abspaltungen", also "sektenhafte" Vorstellungen?
Die evangelische Kirche gibt sich gern pluralistisch, und zu den eher negativen Aspekten dieses Pluralismus gehört die dauernde Suche nach kompromisshaften folgenlosen Übereinkünften statt klarer positiver Vorgaben und der zunehmende Bedeutungsverlust, wenn es um Entscheidungen zu aktuellen Glaubens- und Lebensfragen geht – im spirituellen, sozialen oder politischen Bereich. Manchmal wurde um Kompromisse mit vielen Worten mühsam gerungen, ein andermal wurden Konflikte mit dem Hinweis auf den "Pluralismus" beschwichtigt oder vermieden. Nur in wenigen Einzelfällen gab es Situationen, wo sich einige Leute zumindest auf die Frage einigten "Was will Christus von uns? Was würde Er jetzt tun?" und wo sie bereit waren, ihre eigene Antwort auf diese Frage bei der Entscheidungsfindung zumindest mit zu berücksichtigen. Und in den Jahren seit meinem Austritt ist die Frage nach Christus dort noch unwichtiger geworden oder wird überhaupt nicht mehr gestellt.

"Salz der Erde" sein – so bezeichnete Jesus die Menschen, die Ihm nachfolgen. Ich fühlte mich aber eher wie eine Zutat in einem "Eintopf", der aus allen vorhandenen Materialien und Mitteln bereitet wird und der jeweils nach den stärksten Einflüssen schmeckt. Ich fragte mich immer mehr: "Geht es hier wirklich um den Auftrag Jesu Christi in dieser Welt, oder geht es in erster Linie um die Selbsterhaltung der kirchlichen Institution und des staatsbeamtenähnlichen Pfarramtes?" Dies wäre ohne die alljährlichen staatlichen Milliarden-Subventionen, die alle Bürger finanzieren müssen und ohne die vom Staat für die Kirche eingezogene Kirchensteuer nicht möglich, die von Menschen zusammengetragen wird, die zu einem großen Teil Mitglied der Kirche bleiben, obwohl sie innerlich längst distanziert sind.

Während Kirche sich bei wesentlichen Lebensfragen also um meist wortreiche Kompromiss-Aussagen bemüht und dabei mehr und mehr der Nichtigkeit verfällt, gibt es auf der anderen Seite auch eine kirchliche Macht. Dazu zählen vor allem die Macht des Pfarr- bzw. Priesteramtes, die Macht des politischen Einflusses und vor allem die Macht des Geldes. Auch für mich gehörten das gesicherte feste Einkommen und äußere Vergünstigungen neben einer gewissen Vielseitigkeit zu den Gründen, die diesen Beruf attraktiv erhielten. Außerdem haben ja die meisten Pfarrer "nur" Evangelische Theologie studiert und "nur" zwei kirchliche Examina abgelegt, aber kein staatliches. Sie sind damit ohne "weltliche" Ausbildung und damit scheinbar ohne berufliche Alternative. Dies kann im Konfliktfall vor allem dann schwer wiegen, wenn eine ganze Familie materiell vom Gehalt des Pfarrers lebt.

Innerlich spürte ich jedoch immer mehr: Die Institution Kirche hat sich zwar selbst den Auftrag gegeben, das "Heil" in Jesus Christus zu "bezeugen", doch steht sie Ihm dabei vor allem im Wege. Sie bietet z. B. in Predigten und veräußerlichten Handlungen (in der evangelischen Kirche z. B. die Sakramente Taufe und Abendmahl) ein kaum näher definiertes "Heil im Glauben" an, das aber nur zu finden wäre, wenn man die Botschaft des Jesus von Nazareth in allen Lebensbereichen auch konkret anwendet. So war z. B. Jesus klar gegen jeden Krieg. Die Kirchen befürworteten jedoch mit viel Wenn und Aber zuletzt erst wieder den ersten Golfkrieg und später auch den Kosovo- und Afghanistan-Krieg – um nur ein Beispiel zu nennen, wo die Kirche Jesus bis heute nicht folgt. Und je konkreter das Thema, je scheuer und nebulöser die Kirche, und je mehr versucht sie sich, möglichst den von den großen Medien vorgegebenen Mehrheitsmeinungen anzupassen.

Der bekannte evangelische Theologe Dietrich Bonhoeffer schrieb in diesem Zusammenhang von der "billigen Gnade", die man unkonkret und bedingungslos über die Menschen ausgießt. "Wie die Raben haben wir uns um den Leichnam der billigen Gnade gesammelt, von ihr empfingen wir das Gift, an dem die Nachfolge Jesu unter uns starb", so Bonhoeffer wörtlich. "Man gab die Verkündigung und die Sakramente billig, man taufte, man konfirmierte, man absolvierte ein ganzes Volk, ungefragt und bedingungslos, ... man spendete Gnadenströme ohne Ende ... Wann wurde die Welt grauenvoller und heilloser christianisiert als hier? Was sind die 3000 von Karl dem Großen am Leibe getöteten Sachsen gegenüber den Millionen getöteten Seelen heute?" (Nachfolge, 1982, 13. Auflage, S. 24 f.)
Auch wenn Bonhoeffer hier die grausame mörderische Zwangskatholisierung der Sachsen vermutlich verharmlost, sind seine Worte bedenkenswert. Denn wer kann das Leid einer Seele im Jenseits ermessen, die als Mensch von der Kirche in die Irre geführt wurde? Was ist – um nur ein Beispiel zu nennen – mit der Seele eines Soldaten, der mit kirchlicher Erlaubnis getötet hat und eines Tages im Jenseits auf seine womöglich sehr vielen Opfer trifft?

Und obwohl auch vom Wiederkommen Jesu im kirchlichen Glaubensbekenntnis gesprochen wird, war mir bewusst, dass es keine größere Existenzbedrohung für die Kirchen geben würde als dieses von ihr selbst angekündigte Ereignis. Denn ich hatte keinen Zweifel daran, dass Christus heute ähnlich reden und handeln würde wie damals und sich nicht den kirchlichen Sakramenten, Theologien, Juristereien und Organisationsformen anpassen würde. Und umgekehrt wurde mir immer klarer, dass die Kirchen nicht bereit sind, sich von Christus an wesentlichen Stellen in ihrem Selbstverständnis in Frage stellen zu lassen. Sie würden wohl bis zuletzt mit ganzer Kraft an ihrer Selbstzweck-Erhaltung und ihren Traditionen festhalten und nur dann etwas ändern, wenn es für ihre äußere Weiterexistenz unvermeidlich zu sein scheint – auch wenn derjenige, den man zu verkünden vorgibt, es ganz anders möchte. Dies dann alles frei nach dem Motto: "Wehe, er kommt wirklich wieder!" Und in der katholischen Kirche heißt es dazu noch: "Hoch lebe sein Stellvertreter!" Ich spürte ab einem bestimmten Zeitpunkt: Christus und Kirche würden nicht mehr zusammenfinden, sind letztlich Gegensätze, was mir, je länger, je mehr immer klarer wurde.

In der damaligen Zeit stieß ich auf das Buch Das ist Mein Wort, nach dem Selbstzeugnis des Buches eine "Botschaft aus dem All" von Christus für unsere heutige Zeit. Lange Zeit prüfte ich, ob es wirklich stimmen könnte, dass Christus hier durch Prophetenmund wieder gesprochen hat, wie es in der Einführung zu diesem Buch heißt. Ich las und prüfte und verglich mit dem Neuen Testament. Der Inhalt dieser "Neu-Offenbarung", wie es unter Theologen heißt, z. B. eine Auslegung der Bergpredigt für unsere Zeit, sprach mich sehr an, und ich wendete einiges in meinem Leben an, was auch zu positiven Veränderungen führte. So wuchs das Vertrauen, Christus über diesen Weg ganz neu finden zu können. Als ich in diesem Buch aber auch gelesen hatte, dass die Kirchen letztlich die Gegner und Widersacher von Christus sind, war es mir zuerst zu hart, obwohl Widersprüche zwischen Kirche und Christus auch an mir schon lange genagt hatten. Immer wieder betonte ich deshalb das Gute, das in den Kirchen tatsächlich oder vermeintlich geschah, auch durch kirchliche Amtsträger in "hohen" Positionen. Zunächst wollte ich mit dieser Haltung noch Pfarrer bleiben. Doch sie führte innerlich allmählich aus der Bindung an diesen Beruf und an diese Institution heraus. Gerade als mir die Kirchenleitung das großzügige und verlockende Angebot eines "Medienjahres" für eine journalistische Zusatzausbildung bei voller Gehaltszahlung machte, zog ich die "Notbremse" und damit die  nun fällige Konsequenz aus vielen meiner Gedanken und Empfindungen. So war ich auch zu der Schlussfolgerung gelangt, dass vieles Positive in den Kirchen für andere Interessen vereinnahmt wird statt dem "Heil" in Jesus Christus zu dienen, wie es vorgegeben wird. Und ich habe mich jetzt auch gefragt, ob ich in den fast zwölf Jahren als Theologiestudent, Vikar und Pfarrer genügend bedacht hatte, dass man "ungestraft" nur ein bestimmtes Maß an Kompromissen eingehen kann. So manche persönliche Krise in dieser Zeit hatte darin nämlich auch ihre Wurzeln.

Blickte ich nun um mich, dann sah ich aber auch andere Menschen, die wie ich innerlich darauf vorbereitet sind, sich von veräußerlichten kirchlichen Handlungen zu lösen und die Spuren von Christus außerhalb der Kirche zu finden. Und ich weiß auch von Amtsträgern, die zwar äußerlich ihre Funktion ausfüllen, doch im Inneren ebenfalls mehr und mehr Mühe damit haben. Warum bleiben dann aber so viele dieser Menschen in den Kirchen oder in den kirchlichen Ämtern? Aus Überzeugung? Oder aus Angst, aus Einschüchterung, aus Gewohnheit? Oder wegen fehlender Alternativen? Oder weil man es vorzieht, die dafür nötigen Kompromisse auch weiterhin einzugehen? Obwohl andernfalls ein ehrlicheres, klares und zufriedeneres Leben möglich wäre. Eine Erfahrung wurde mir in der Zeit, in der die Entscheidung für den Ausstieg reifte, sehr wichtig: Treffe ich eine Entscheidung für Christus, kommt Er mir zwei und mehr Schritte entgegen. Lasse ich etwas los im Vertrauen auf Ihn, kann er meine so frei gewordenen Hände mit Seinen Geschenken füllen.

(Dieter Potzel, März 1992, aktualisiert am 12.12.2024)


Nachtrag (April 2005, aktualisiert am 12.12.2024):

Solange ich Theologiestudent, Vikar und Pfarrer war, erlebte ich die Kirche ähnlich vielfältig, wie sie sich vor allem auf ihren Kirchentagen gerne selbst präsentiert – nicht aber als bedrohlich. Das hat sich schnell geändert, nachdem ich die Kirche verlassen hatte und mich einer damals noch kleinen (und heute weltweiten) urchristlichen Gemeinschaft angeschlossen hatte. So zog ich z. B. in das unterfränkische Dorf Michelrieth (einem Stadtteil von Marktheidenfeld), das die evangelisch-lutherische Kirchengemeinde bis in die jüngste Vergangenheit hinein als ihr Revier betrachtete. Deswegen wurden Andersgläubige dort vom Pfarrer, vom Mesner und von einigen ihrer Helfer immer wieder angefeindet. Da ich nicht der einzige – übrigens völlig friedliche – nicht (mehr) evangelische Neubürger war, ließ der evangelisch-lutherische Pfarrer Michael Fragner öffentlich und schriftlich verlauten, das Dorf werde von "Sektenanhängern" "aufgefressen". Auch kursierten Karten, auf denen die Häuser markiert sind, in denen Andersgläubige wohnen. Und hin und wieder kam es auch vor, dass der Pfarrer mit einer Besuchergruppe die Wohnhäuser von mir und meinen nicht evangelischen Freunden besichtigte. Besonders bedrohlich war es immer, wenn sich Menschen mit Fernsehtechnik auf dem Bürgersteig neben dem Pfarrer postierten – dann stand wieder eine böse und verlogene Berichterstattung im Fernsehen bevor. Vor laufenden Fernsehkameras bejammerte sich dann z. B. einmal ein damaliger kirchlicher Meinungsführer als eine Art Märtyrer, weil er die Nachbarschaft der Kirchenaussteiger erträgt und weil er erdulden müsse, dass diese in eigenen Betrieben sogar Arbeitsplätze schaffen, wo auch noch viele Kirchenmitglieder arbeiten. Dagegen müsse man sich wehren, denn der Glaube dieser Menschen, welche die Betriebe gegründet haben, stimme ja nicht. So hat man z. B. seit einigen Jahren sogar den Friedhof für Verstorbene gesperrt, die zu Lebzeiten nicht evangelisch-lutherisch oder römisch-katholisch waren [dies gilt auch noch im Jahr 2024]. Konsequenterweise hätte man dann aber auch das Kruzifix entfernen müssen, denn der daran Hängende war auch weder evangelisch noch katholisch, und Er hätte an diesem kirchlichen Ort folglich auch keinen Grabplatz bekommen. Doch Ihn vereinnahmt man lieber, um ehrliche Gottsucher zu täuschen.

Auch in meiner früheren Kirchengemeinde in Bamberg, in der ich als Pfarrer tätig war, wurde das Klima vielfach unerfreulich. Man ließ nach meinem Auszug aus der bisherigen Pfarrerdienstwohnung sofort einen "Sektenbeauftragten" zum Vortrag kommen. Und während einige ehemalige Mitstreiter fair blieben, führt der Auftritt eines offiziellen kirchlichen Beauftragten oft zu Misstrauen, Zwietracht und Verleumdung. Und hier? Ich selbst wurde – obwohl man in der Lokalzeitung öffentlich bekannt gab, dass es bei dieser Veranstaltung um die "Gründe" für meinen Kirchenaustritt ging – ausdrücklich ausgeladen. Und gleich mehrfach musste ich in den folgenden Wochen in der kirchlichen Presse oder durch Leute aus dem vormals gemeinsamen kirchlichen Umfeld erleben, wie man mir im Nachhinein manches Wort im Munde verdrehte und mir manches unterschob, das so nicht stimmte. Sogar Kultgegenstände aus einem Abendmahlskoffer hätte ich womöglich mitgehen lassen. Anstatt – wie unter normalen Menschen üblich – höflich nachzufragen, wenn man etwas Bestimmtes sucht und vielleicht im Besitz eines anderen vermutet, stellte mir mein in "Inquisition" speziell geschulter Nachfolger auf der Pfarrstelle unvermittelt ein schriftliches Ultimatum von 14 Tagen, innerhalb derer ich die Kultgegenstände zurückbringen oder anderweitig reagieren müsse. Andernfalls würden sie mir in Rechnung gestellt. Da ich jedoch von nichts wusste, versuchte ich, dem neuen Pfarrer sachlich weiterzuhelfen, indem ich schrieb, wo er vielleicht danach suchen könnte. Auch wurde ich von der Kirchenleitung unter Androhung von Maßnahmen unfreundlich aufgefordert, den Missbrauch des Titels "Pfarrer a.D." zu unterlassen, obwohl ich in einem Leserbrief an eine evangelische Zeitung korrekt geschrieben hatte, ich sei "ehemaliger Pfarrer", was durch die dortige Redaktion allerdings irrtümlich als "Pfarrer a.D." (= "Pfarrer außer Dienst", eine offizielle kirchliche Amtsbezeichnung) interpretiert und so gedruckt wurde, und, und, und ... Der Wind war rau geworden.

"Und ich habe Ihnen geglaubt!", rief mir eine Frau aus der ehemaligen Gemeinde eines Tages vorwurfsvoll auf offener Straße zu. Ich war zunächst irritiert. Was hatte das denn nun wieder zu bedeuten? Offenbar stimmten die Lügen und Unwahrheiten, die man ihr in der Kirche über meinen jetzigen Werdegang erzählt hat, nicht mit dem überein, was sie von mir selbst als Pfarrer jahrelang gehört und mit mir zusammen erlebt hatte. Ihre wahrscheinliche Schlussfolgerung: Dann müsste ich mich wohl früher verstellt haben. Denn der "Horror", für den ich jetzt angeblich einstehe, den hätte man früher gar nicht an mir beobachtet. Eine ganz üble Sache also, die hier zusammengebraut wurde.

Ich war nun also ein Aussteiger, der sich seither "Urchrist" nannte, und ich musste als solcher noch einiges mehr erleben. "Warum haben Sie denn nichts gesagt? Ich hätte Ihnen doch geholfen", das war eine weitere typische Reaktion aus meinem ehemaligen kirchlichen Umfeld. Es war zwar von dem betreffenden Kirchenvorstand ehrlich und gut gemeint, was ich in diesem Fall auch anerkannte, doch wofür hätte ich denn Hilfe gebraucht, da es mir doch nach der Entscheidung, die Kirche zu verlassen, gut ging und ich mit mir im Reinen war? Auch in dem Bewusstsein, die richtige Entscheidung getroffen zu haben. Hier stimmte also die Wahrnehmung des anderen überhaupt nicht, und das ist mir in allen den Jahren seither bei Kirchenleuten immer wieder passiert: Man reagiert aus einer verinnerlichten Grundhaltung heraus, die von vordergründiger Naivität bis hin zu mehr oder weniger bewusstem oder unbewusstem "geistlichem Hochmut" reicht. Durch Jahrhunderte lange Indoktrination wähnen sich die meisten Kirchenvertreter dabei so selbstsicher im Besitz des angeblich zumindest in wesentlichen Zügen richtigen Glaubens, dass man Aussteiger automatisch als "verlorene Söhne" betrachtet, die angeblich Hilfe brauchen. Der Gedanke, dass ein solcher Mensch anderen vielleicht auch einen Schritt voraus sein könnte und man selbst vielleicht der "verlorene Sohn" sei, wird gar nicht zugelassen. Denn wohin würde das auch führen – so das Unterbewusstsein mancher Kirchenführer –, wenn dem einen "Ketzer" ein zweiter oder gar unzählige andere folgen?

So wie hier beschrieben erging es mir auch bei einem Podiumsgespräch mit einem Pfarrer in Plauen im sächsischen Vogtland im Jahr 2004: Meine Darlegungen zu Beginn der Veranstaltung hielt er zunächst für so "ungeheuerlich", dass er, als er mit seinem Beitrag an der Reihe war, den Zuhörern erklärte, dass er jetzt am liebsten den Saal verlassen möchte. Nachdem der Pfarrer jedoch von den daraufhin erschrockenen Veranstaltern zum Bleiben bewegt werden konnte, kam er nach dem offiziellen Teil des Abends noch einmal auf mich zu. Er war mittlerweile wieder gefasst und fragte, was denn "schief gegangen" sei, so dass ich als ehemaliger Pfarrer sogar aus der Kirche ausgetreten sei. Trotz des vermeintlichen Wohlwollens, aus dem heraus er jetzt zu sprechen schien, wieder das alte Sitzen auf dem "hohen Ross" – diesmal in einem etwas anderen Gewand, verpackt in eine Frage. Denn bei einer solchen Frage, was den "schief" gegangen sei, setzt der Fragende ja voraus, dass beim Befragten tatsächlich etwas nicht richtig gelaufen sein müsste. In Wirklichkeit ist aber gar nichts "schief gegangen", so dass der anstehende "Sektenausstieg" = Kirchenaustritt geglückt ist. Doch die meisten Kirchenmänner sind bis in Körperzellen und Knochen hinein so mit dem Anspruch ihrer Kirche, angeblich die Wahrheit zu lehren, verwachsen, dass ihnen von vorne herein das Bewusstsein dafür fehlt, dass sie es sein könnten, die womöglich auf die "schiefe Bahn" geraten sind, indem sie sich z. B. einer gefährlichen "Großsekte" verschrieben haben. Folglich möchte man stattdessen wissen, wo denn der andere daneben liege.

Aus demselben Grund ist auch die Religionsfreiheit des deutschen Grundgesetzes im Unterbewusstsein vieler Kirchenanhänger immer noch nicht angekommen. Man denkt ungebrochen mittelalterlich und unterscheidet grundgesetzwidrig zwischen der "im Prinzip guten, nur leider etwas schwachen Kirche, wo eben auch nur sündhafte Menschen arbeiten würden" und den "gefährlichen bösen Sekten", womit man die Minderheiten verleumdet, die einem ein Dorn im Auge sind. Und damit vergiftet und zerstört man das Klima einer ganzen Gesellschaft. Und die kirchenkriecherischen Politiker bedanken sich auch noch für diese "hilfreichen Informationen" der Kirchen gegenüber ihrer "Konkurrenz". (PS: Man nenne mir einen Politiker, der nicht vor der Kirche auf die Knie fällt.)

Ein Ex-Kollege hielt mir in diesem Zusammenhang sogar vor, dass ich mein Konfirmationsversprechen gebrochen hätte – als ob man als Kind mit 13 Jahren eine Entscheidung für die Ewigkeit hätte treffen können. Der Vorwurf ist, gelinde gesagt, nicht seriös. Bzw. er entlarvt die Organisation des Urhebers einmal mehr als "Sekte", der es darum geht, schon Kinder (die späteren Kirchensteuerzahler) mit Psycho-Druck in der eigenen Institution festzubinden. Offenbar hatte ich in allen den Jahren als kirchlicher Theologe und Pfarrer gar nicht gemerkt, dass die Kirche und ihre Amtsträger gar nicht so locker und frei denkend waren, wie ich mir eingebildet hatte, dass sie es seien, und dass ich wohl auch aufgrund dieser Einbildung so lange Kirchenmitglied und sogar Amtsträger bleiben konnte. Mittlerweile war ich aber offenbar tatsächlich ein Kandidat für die kirchliche "ewige Verdammnis". Doch nun konnte ich wenigstens frei heraus sagen, dass diese Lehre nur Unsinn und "Einschüchterung" ist, um ängstliche Menschen am "Sektenausstieg" = Kirchenaustritt zu hindern. Als Pfarrer musste man beim Thema der kirchlichen Höllenlehren immer um den heißen Brei herum reden, denn man war ja zur Loyalität gegenüber dem Arbeitgeber verpflichtet. Denn würden die Theologen den Gläubigen hier den Wein der reinen evangelischen oder katholischen Lehre einschenken (wozu auf evangelischer Seite auch grundgesetzwidrig der angeblich unfreie Wille in Glaubensdingen gehört, was kaum ein Kirchenmitglied weiß), würden noch viel mehr Menschen austreten.

Doch in der Auseinandersetzung ging es bald schon nicht mehr nur um Glaubensfragen, sondern für mich als Kirchenaussteiger (oder sollte ich mich als "Sektenaussteiger" bezeichnen?) schlicht um die Existenz. Denn der Wind wurde noch rauer. Ich musste mich ja vor allem beruflich neu orientieren, und ich war eine kurze Zeit auch als Verkäufer für kontrolliert-ökologische Lebensmittel in Ansbach tätig – der Stadt, in der ich meine beiden theologischen Examina einst erfolgreich abgelegt hatte. Damals hatte mich die Stadt Kaspar Hausers und Hauptstadt des bayerischen Regierungsbezirks Mittelfranken (in der im Jahr 2009 auch ein junger evangelischer Amokläufer wütete) freundlich empfangen. Die Orangerie im schönen Hofgarten von Ansbach war für die Prüfungen reserviert, und es gab kostenloses Frühstück bei einer gastfreundlichen Kirchenvorständin, und ich glaube mich zu erinnern, dass sogar die Fahrtkosten erstattet wurden. Jetzt holte man den evangelischen "Sektenbeauftragten" in die Stadt (den man aufgrund dieser Wortwahl treffend als den "Beauftragten seiner evangelischen Sekte" betrachten könnte), der so verleumderisch und falsch vom Leder zog, dass man mich mit meinem kleinen Lebensmittelstand unmittelbar danach aus der Stadt jagte – natürlich unter einem Vorwand und mit einer heute üblichen Fristsetzung. Mein kleines Warenangebot wäre angeblich schon anderweitig ausreichend auf dem Markt vertreten und im Raum Ansbach wohnhafte Händler würden in diesem Fall eben bevorzugt. Eine Nachfrage bei diesen Kollegen löste dort für mich glaubhaft jedoch ehrliches Bedauern aus. Sie hätten damit nichts zu tun. Fakt war jedoch: Eine Lokalzeitung hatte unmittelbar vor der Kündigung die kirchlichen Verleumdungen in großer Aufmachung abgedruckt. Früher hätte man wohl Steine nach mir werfen lassen. Heute erfand man einen Vorwand für die Kündigung und klärte mich "ordnungsgemäß" darüber auf, bis wann ich den Marktplatz der mittelfränkischen Hauptstadt zu verlassen hatte. Und der Mann vom Ordnungsamt der Stadt Ansbach blieb dabei immer freundlich. Denn wie sagte schon Papst Benedikt XVI. sinngemäß: "Die Inquisition hat sich geändert."

Und so könnte ich noch vieles mehr schreiben, was ich nicht geahnt hatte, als ich noch Pfarrer war, und was damals schon Tausende von Menschen erlitten hatten, während ich noch dank meines A-13-Pfarrergehalts mit einem Glas Rotwein am Kamin saß und über die Zukunft von Kirche und Gesellschaft philosophieren konnte. Heute jedoch weiß ich, dass der Philosoph Karl Jaspers leider recht hat, wenn er erklärt: Der "biblisch fundierte Absolutheitsanspruch" der Kirchen "steht nach wie vor ständig auf dem Sprunge, von neuem die Scheiterhaufen für Ketzer zu entflammen" (Der philosophische Glaube, 9. Auflage, 1988, S. 73). Das Leben als Aussteiger und freier Mann ist also nicht ungefährlich, doch ich habe diese Entscheidung niemals bereut. Schon am Tag des Kirchenaustritts hatte ich ein so befreites Gefühl, als hätte ich eine zentnerschwere Last abgelegt. Und in allen den Jahren seither habe ich auf meinem nichtkirchlichen Weg zu Gott so viel Wertvolles erleben können, dass ich dafür froh und dankbar bin. Ich habe erfahren: Gott ist der Freie Geist, und dieser weht außerhalb der Kirche.

So glaube ich heute, dass Gott auch in uns lebt. Er lebt in der ganzen Schöpfung, und in unserem Atem ist auch der Atem Gottes, der alles Leben durchdringt. Das ist teilweise auch schon zu meiner inneren Erfahrung geworden. Und aus diesem Grund esse ich z. B. auch kein Fleisch mehr, da ich nicht mehr will, dass Tiere für meinen Gaumengenuss gequält und geschlachtet werden. Laut kirchlicher Lehre haben Tiere jedoch keine unsterbliche Seele und sind gar nicht oder nur wenig leidensfähig – ein Irrtum, wie das meiste andere auch, was die Priester und Pfarrer der Kirchen lehren, was man vielfach auch treffender als "Lüge" bezeichnen könnte. Davon bin ich heute überzeugt. Der Philosoph Friedrich Nietzsche hat einmal gesagt: "Was ein Theologe als wahr empfindet, das muss falsch sein; man hat daran beinahe ein Kriterium der Wahrheit." Doch zum Glück hat jeder Mensch ja auch einen gesunden Menschenverstand und ein Gewissen mit bekommen, das einem immer wieder hilft, die nächste Weiche für sein Leben richtig zu stellen ... (Dieter Potzel)

 

Weitere Informationen zum Thema: Zum 1.2.1992 legte Dieter Potzel das Pfarramt nieder. Am 7.2.1992 trat er dann aus der evangelisch-lutherischen Kirche aus. Am 4.3.1992 informierte seine ehemalige Kirchengemeinde in einer öffentlich angekündigten Veranstaltung über die "Gründe" für seinen Kirchenaustritt. Da er an diesem Abend zur "unerwünschten Person" erklärt wurde, lud er kurzerhand parallel zu einer eigenen Informationsveranstaltung ein. Lesen Sie hier seinen Vortrag in Bamberg vom 4.3.1992. Dieter Potzel ist heute auch für die Online-Zeitschrift "Der Theologe" (theologe.de) verantwortlich.

 


Der Text kann wie folgt zitiert werden
:
Zeitschrift "Der Theologe", Hrsg. Dieter Potzel,  Ein langer Weg aus der evangelischen Kirche heraus. Ein Aussteiger berichtet, Wertheim 1992, zit. nach theologe.de/kirchenaussteiger.htm,
Fassung vom 12.12.2024, Copyright © und Impressum siehe hier.
 

 

 

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