Bischof genehmigte
tödlichen Exorzismus
– was wusste Joseph Ratzinger?

Aktualisiert am 30.6.2022


Im Jahr 2010 fragten sich erstmals die Menschen: Was wusste Joseph Ratzinger über die Sexualverbrechen in seinem Bistum München-Freising in der Zeit, als er dort als Erzbischof residierte (1977-1982)? Was wusste er später in allen den Jahren als Präfekt der Glaubenskongregation in Rom? Und was wusste er, seitdem er im Jahr 2005 Papst Benedikt XVI. wurde? Wie lange kann er zu den unzähligen Kinderschänder- bzw. Missbrauchs-Skandalen schweigen? Kaum bekannt ist, dass Joseph Ratzinger schon einmal im Verdacht stand, mehr über ein Verbrechen bzw. Vergehen in der Kirche zu wissen, als er zugab. Es geht dabei um den Exorzismus an Anneliese Michel in den Jahren 1975 und 1976, den damals Bischof Josef Stangl (Foto seines Denkmals im Würzburger Dom siehe rechts), der Vertraute von Joseph Ratzinger, genehmigte. Mehr dazu lesen Sie in diesem Artikel.

Das Bistum Würzburg feierte im Jahr 2007 ein Bischof-Stangl-Jahr. Denn der umstrittene katholische Oberhirte wurde 100 Jahre zuvor, am 12.8.1907, in Kronach in Oberfranken geboren. Und 50 Jahre zuvor, am 12.7.1957, wurde er zum Bischof von Würzburg geweiht. Gestorben ist er am 8.4.1979 ebenfalls in Würzburg. Der Name Josef Stangl ist dabei immer auch mit einem sehr populären Namen verbunden: Joseph Ratzinger, seit 2005 Papst Benedikt XVI. Zusammen sind beide "Exzellenzen" (der offiziellen Anrede für Bischöfe) auch für ein drittes "Jubiläum" verantwortlich: Denn vor 30 Jahren, am 28.5.1977, weihte Bischof Stangl Professor Dr. Joseph Ratzinger aus Regensburg zum Erzbischof von München und Freising. (PS: Es ist in der Kirche durchaus möglich, dass – wie in diesem Fall – ein Bischof einen Erzbischof weiht.)
Zu diesem Zeitpunkt war die Katholikin Anneliese Michel schon fast ein Jahr lang tot. Die gläubige 23jährige Studentin starb am 1.7.1976 nach 67 von Bischof Stangl in Auftrag gegebenen vergeblichen Exorzismus-Sitzungen an Entkräftung. Ihre Verfassung lasse sich laut Obduktionsbericht
"am ehesten vergleichen mit der getöteter Lagerinsassen im Zweiten Weltkrieg" (Felicitas Goodman, Anneliese Michel und ihre Dämonen, Stein am Rhein/Schweiz 1993, S. 14). Im Vorfeld des Prozesses wegen "fahrlässiger Tötung" und "unterlassener Hilfeleistung" ließ der Sprecher von Bischof Josef Stangl erklären, der Bischof hätte "von allem nichts gewusst". Aufgrund dieser später als Lüge nachgewiesenen Erklärung wurden die beiden römisch-katholischen Exorzisten Arnold Renz und Ernst Alt kirchenrechtlich ins Unrecht gesetzt, denn ein Exorzismus muss vom Bischof der jeweiligen Diözese genehmigt werden. Und auch strafrechtlich wurden die Exorzisten deshalb zur Verantwortung gezogen und zu Haftstrafen mit Bewährung verurteilt, obwohl sie nachweislich im Auftrag ihres Bischofs handelten.
Doch die beiden Priester deckten letztendlich Joseph Stangl und seine Berater, zu denen wahrscheinlich auch der damalige Theologie-Professor Joseph Ratzinger gehört hatte. Denn Stangl und Ratzinger hatten eine "tiefe Beziehung" (Main-Post, 6.9.2006) zueinander, und es wäre unwahrscheinlich, wenn der heutige Papst (der schon damals als Experte für alle kirchlich wesentlichen Themen galt) von dem Exorzismus ebenfalls "nichts gewusst" haben will.
Joseph Stangl hat sich von den Turbulenzen um den Tod der Studentin anscheinend nie mehr richtig erholt. Er baute in der Folgezeit gesundheitlich und geistig immer mehr ab und musste noch vor seinem Tod (am 8.4.1979) als Bischof zurück treten. Kritikern zufolge ist er an seiner unrühmlichen Rolle vor und nach dem Tod von Anneliese Michel und an seiner Lüge zerbrochen (siehe unten). Der spätere Papst las dann am 11.4.1979 die Totenmesse für den Bischof im Würzburger Kiliansdom, wo der Bischof begraben wurde und ihm später auch ein gesondertes Denkmal errichtet wurde (Foto oben).
Es dauerte ca. 30 Jahre, bis der tragische Tod der aus Klingenberg am Main stammenden Würzburger Studentin noch einmal neu aufgerollt wurde. Und ähnlich lange oder gar länger dauerte es bis jetzt ja auch bei der Aufarbeitung der Kinderschänder-Verbrechen durch Priester. Ausführlich wird das Thema des Exorzismus an Anneliese Michel und der zugrunde liegende Sachverhalt auch besprochen in Der Theologe Nr. 9 – Todesfalle Kirche – Warum musste Anneliese Michel sterben? Zur erneuten Aufarbeitung trugen vor allem zwei Kinofilme bei. Die US-amerikanische Produktion Der Exorzismus von Emily Rose und der deutsche Spielfilm Requiem. Nun stellt sich das Bistum Würzburg ebenfalls den Ereignissen dieser Zeit, indem es das Jahr 2007 zum Stangl-Jahr erklärte, um der Verdienste des Ex-Bischofs zu gedenken. Dabei hätte das Bistum allerdings auch das Versagen bei Anneliese Michel zugeben können und sich für die kirchenamtliche Lüge angeblichen Nichtwissens entschuldigen können. Auch wäre das Stangl-Jahr eine Gelegenheit gewesen, um einzugestehen, dass das kirchliche Dogma der ewigen Verdammnis die junge Frau maßgeblich mit in den Tod getrieben hat. Doch nichts in dieser Richtung geschah, und es bleiben weiterhin wichtige Fragen offen.
Dabei ist zum Beispiel zu untersuchen, inwieweit Papst Benedikt XVI. damals von der Tragödie wusste oder gar als möglicher Berater von Bischof Stangl direkt in die Vorfälle verwickelt war. Dies ist insofern von großer Bedeutung, da Joseph Ratzinger als Benedikt XVI. die Praktiken des Exorzismus in der Kirche wieder ausweiten möchte und dies auch bereits getan hat. Auch aus diesem Grund ist es also notwendig, dass man nicht vergisst, was vor ca. 35 Jahren in Klingenberg und Würzburg passierte und dass bekannt wird, warum dies so gekommen ist.
Nachfolgend einige Einzelheiten dazu, die im wesentlichen aus dem
Theologen Nr. 9 entnommen sind und die im Stangl-Jahr 2007 weit gehend unberücksichtigt geblieben sind.

Die Lüge des Bischofs und die Folgen

Juristisch wird der Tod Anneliese Michels am 21. April 1978 abgeschlossen. Die Eltern Anna und Josef Michel, die auf ihre Weise ebenfalls Opfer ihrer Kirche sind, und die von ihrem Bischof Josef Stangl beauftragten Exorzisten Arnold Renz und Ernst Alt werden wegen "fahrlässiger Tötung" und "unterlassener Hilfeleistung" von der ersten großen Strafkammer des Landgerichts Aschaffenburg zu Freiheitsstrafen von je sechs Monaten verurteilt, die auf je drei Jahre zur Bewährung ausgesetzt werden. Während das Urteil für die überforderten Eltern als hart erscheinen mag, kommen die beiden Exorzisten sehr glimpflich davon. Und der verantwortliche Bischof und mit ihm die römisch-katholische Kirche als Institution kommen jedoch völlig ungeschoren davon. Hier stellt sich die Frage, wie ihnen das in der für ihr Ansehen und ihre Machtstellung nicht ungefährlichen Situation gelungen ist. Man wählte dabei einen schnellen und effektiven Weg, die plumpe Lüge.
Durch seinen Sprecher lässt der Bischof von Würzburg nämlich kurz nach dem Tod Anneliese Michels verlauten: "Wir haben von allem nichts gewusst! ... Uns wurde der Fall erst nach dem Tode des Mädchens bekannt. Ich habe niemanden die Genehmigung zu den Exorzismus-Gebeten erteilt." (Welt am Sonntag, 25.7.1976)

Tatsächlich hatte Bischof Stangl aber in seinem offiziellen Brief an Pater Arnold Renz vom 16.9.1975 geschrieben: "Hiermit beauftrage ich nach reiflicher Überlegung und guter Information H. H. P. Renz, Salvatorianer, Superior in Rück-Schippach, bei Fräulein Anna Lieser [ = Deckname für Anneliese Michel ("Anna Lieser" als Verfremdung von "Anneliese") aus Gründen der weitmöglichsten Geheimhaltung] im Sinne von CIC can. 1151 § 1 zu verfahren. Mein Gebet gilt seit längerer Zeit diesem Anliegen
. Möge Gott uns helfen! Ich danke aufrichtig für diesen Einsatz. Mit herzlichen Segenswünschen; gez. Josef Bischof von Würzburg" (nach Kaspar Bullinger, Anneliese Michel und die Aussagen der Dämonen, zit. bei anneliese-michel.de.ms; auch bei Wolff, S. 21; (4)).

Und wohl aufgrund der eindeutigen Beweislage wird dies mittlerweile auch offiziell zugegeben. So heißt es unmissverständlich in einer offiziellen Presseerklärung der Deutschen Bischofskonferenz am 15. November 2005, kurz vor dem Kinostart von Der Exorzismus von Emily Rose: "Pfarrer Alt ersuchte im Sommer 1975 um die Erlaubnis zum Großen Exorzismus. Der damalige Bischof von Würzburg Josef Stangl erteilte diese nach Vorlage eines Gutachtens des Jesuiten P. Adolf Rodewyk, und P. Arnold Renz erhielt die Erlaubnis zur Durchführung." Im Jahr 1976 log man noch: "Wir haben von allem nichts gewusst" (siehe oben).

Hilferuf an Bischof Stangl: Anneliese Michel "bis zu einem Skelett abgemagert"

Dies ist auch insofern von nahezu krimineller Dreistigkeit, da die Exorzisten den Bischof immer wieder bis ins Detail über den Zustand von Anneliese Michel und die Wirkungen des Exorzismus informieren. Ein Beispiel ist der Brief von Pfarrer Ernst Alt vom 24. Juni 1976, eine Woche vor dem Tod der Studentin: "Anneliese ist bis zu einem Skelett abgemagert". "Anneliese sagte öfters ´Ich kann nicht mehr`". "Mit dem Kopf ging sie durch die Scheibe der Korridortür." "Mit den Zähnen hat sie ein Loch in die Wand gebissen, so dass ein Teil der Vorderzähne abbrach. Immer wieder biss sie sich selbst in den Arm." "Es ist uns nicht gelungen, den Teufel wieder zum Reden zu bringen. Mir scheint es bewiesen zu sein, dass es sich hier um den typischen Fall einer Sühnebesessenheit handelt." "Zur Zeit wird sie meistens gefesselt auf der Couch an den Händen und Füßen. Das hat den Vorteil, dass sie sich nicht wesentlich verletzen kann." Sie "hat sich hin und her geworfen", "das Gesicht zerschlagen, die Nase blutig". "Anneliese richtet sich so zu, dass ihre beide Augen so aussehen, als ob man sie mit Fäusten rot, blau und schwarz geschlagen hätte." (Satan lebt, WDR 2006)

Ein Besuch von Bischof Josef Stangl ist schließlich die letzte und einzige Hoffnung, an die sich die sterbenskranke junge Frau noch klammert. Und auch ihre Familie, alle ihre Freunde und die Exorzisten hoffen immer wieder auf den Bischof. Doch Josef Stangl sitzt den Exorzismus der Anneliese Michel bis zum bitteren Ende aus und lässt dann verlauten: "Wir haben von allem nichts gewusst." So könnte man dem Bischof hier symbolisch die Worte aus dem 1. Buch Mose zusprechen, die lauten: "Kain, wo ist dein Bruder? Wo ist deine Schwester?" Vielleicht ahnt der Bischof schon das tödliche Ende seiner Anordnung und organisiert bereits vorab den Versuch einer kirchlichenpolitischen "Schadensbegrenzung". Denkbar ist jedoch auch, dass Drahtzieher im Hintergrund ihm die Briefe und Hilferufe vorenthalten haben. Von der Kirche selbst erfährt man dazu aber nichts, wodurch Bischof Josef Stangl weiter schwer belastet bleibt.

Die scheinheilige "Heiligkeit" der Kirche

Schließlich versuchte man von Seiten der römisch-katholischen Kirche auch, den aufgrund der Ereignisse irritierten Katholiken Sand in die Augen zu streuen, wenn es um die Vorgänge geht, die zur Genehmigung des Exorzismus führten. Anneliese Michel wäre ja gar nicht "besessen" gewesen, sondern nur seelisch krank, und die Exorzisten einschließlich des katholischen Chef-Dämonologen und kirchlich weltweit anerkannten Experten, Pater Rodewyk, hätten mit ihren Diagnosen eben geirrt. Wieder glaubt man als Außenstehender fast, seinen Augen und Ohren nicht mehr trauen zu können. Betonen doch die Kirchenführer sonst bei jeder passenden Gelegenheit die Existenz von Teufel und Dämonen und die Möglichkeit ihrer Austreibung. Und stimmt doch der Sachverhalt bei Anneliese Michel in Klingenberg ganz mit den allgemeinen Darlegungen der römisch-katholischen Kirche zu diesem Thema überein.
Doch das Bistum Würzburg distanziert sich schon bald nach dem Tod Anneliese Michels von den Exorzismus-Sitzungen, und die Deutsche Bischofskonferenz zieht in diesem Sinne nach. Man setzt eine Kommission zur "Untersuchung" der Vorgänge ein, die dann zu dem Ergebnis kommt, dass bei Anneliese Michel "keine Besessenheit vorgelegen habe" (Rheinischer Merkur Nr. 15, 14.4.1978, zitiert bei Goodman, S. 322), ein an Verlogenheit und Scheinheiligkeit nicht mehr zu überbietendes Ergebnis.
Wohlgemerkt: In ähnlichen Fällen ohne tödlichem Ausgang sind nach katholischer Lehre die Dämonen echt. Geht die Sache schief wie in Klingenberg, sind die Dämonen eben nicht echt gewesen. Anneliese Michel wird auf diese Weise nach ihrem Tod noch ein weiteres Mal ein Opfer der Kirche – jetzt zusammen mit ihren Eltern und den kirchlichen Helfern. Anna und Josef Michel, Ernst Alt und Arnold Renz – sie alle werden am 21. April 1978 vom Landgericht Aschaffenburg verurteilt. Obwohl sie ihrer Kirche treu ergeben waren und nur das taten, was die Kirchenleitung ihnen auftrug und riet, werden sie von den Kirchenführern auf dem Altar der Justiz und der öffentlichen Meinung (die z. B. die unterlassene medizinische Hilfeleistung in der Endphase der Exorzismus-Sitzungen zurecht missbilligt) geopfert, während die geistig Verantwortlichen im Hintergrund unbehelligt bleiben. Die Agierenden und Betroffenen im Vordergrund werden demgegenüber fallen gelassen, denn die "Heiligkeit" der Kirche soll ja bekanntlich so wenig wie möglich "behindert" werden (vgl. Katholischer Katechismus, Nr. 829). Und hier ist die Kirche auch im Einzelfall brutal: "Kein Wort des Trostes kommt aus Würzburg, kein Schuldbekenntnis, kein Eingeständnis, die Situation zumindest falsch beurteilt zu haben, nicht einmal Solidarität in der Trauer", schreibt Uwe Wolff. (S. 33)

Die Kirche steht immer auf allen Seiten

Doch geht es hier nicht nur um eine weitere kriminelle oder moralisch-sittliche Verfehlung der Kirchenoberen. Deren Verhalten hat hier auch unmittelbare Folgen für die Rechtssprechung. Denn im Strafverfahren gegen die Eltern von Anneliese Michel und die beiden Exorzisten hätte es berücksichtigt werden müssen, wenn sich Bischof Josef Stangl und die römisch-katholische Amtskirche zu ihrer tatsächlichen Verantwortung bekannt hätten. Auch hätte die Staatsanwaltschaft wohl ein Ermittlungsverfahren gegenüber Bischof Josef Stangl einleiten müssen. So aber lässt die Kirche entgegen den Tatsachen mitteilen, Exorzisten und Eltern hätten sich nach römisch-katholischer Lehre grundsätzlich falsch verhalten.** Dahinter steckt auch eine in der Kirchengeschichte vielfach erprobte strategische Manöverleistung, die man mit den Worten zusammenfassen kann: Die Kirche steht immer auf allen Seiten. Und im Konfliktfall steht sie immer auf der Seite, die der Zeitgeist gerade erfordert, um den kirchlichen Einflussbereich auf die Gesellschaft und die Seelen der Menschen erhalten und vergrößern zu können.***

Bischof Josef Stangl widmet sich bald wieder "Höherem". So weiht er z. B. am 28.5.1977 den späteren Papst Benedikt XVI., Joseph Ratzinger, zum Erzbischof von München und Freising. "Ratzinger hat Stangl persönlich hoch geschätzt", so die Würzburger Main-Post (6.9.2006) mit einem gewissen Stolz, und sie schreibt über eine "tiefe Beziehung" der beiden "Exzellenzen" zueinander.

"Das bricht dem Bischof das Genick"

Doch wenigstens Anneliese Michels Freundin, die Katholikin Thea Hein, nimmt das Verhalten der römisch-katholischen Amtskirche nicht duldsam hin. So verweigert sie z. B. eine Hausdurchsuchung, wodurch die Vertreter der Kirche in den Besitz von Tonbändern Annelieses kommen wollten. Weiterhin bringt sie die Lüge von Bischof Josef Stangl in einen Zusammenhang mit seinem weiteren Schicksal: "Da habe ich gesagt: ´Gebt acht, das bricht dem Bischof das Genick!` Und genau ein Jahr danach war er tot. Er hat ja den Verstand verloren; das werden Sie ja wissen," so Thea Hein, die Freundin Annelieses (Wolff, a.a.O., S. 21), und der Autor Uwe Wolff entlehnt aus ihrer Stellungnahme seinen Buchtitel.

Was ist mit Josef Stangl kurz darauf passiert? Das Gehirn des Bischofs wird seit 1978 "nicht mehr richtig durchblutet", so die medizinische Umschreibung des Leidens, und die beiden Nonnen Gottwalda Fahrmeier und Alberadis Schüßler glauben am Morgen des 8.4.1979: "Heute wird Bischof Josef in das himmlische Jerusalem einziehen" (Main-Post, 7.4.2004). Gegen Mittag ist er dann tot. Drei Tage später, am 11.4.1979, kommt der ihm vertraute spätere Papst, Erzbischof Joseph Ratzinger, nach Würzburg und würdigt Bischof Stangl im Requiem im Würzburger Dom als "großen Seelsorger, der sein Bistum durch das Beispiel seines Glaubens und seine überzeugende Güte gelenkt hatte" (Main-Post, 6.9.2006).

Einschüchterung und Angst

Die Distanzierung der Kirchenleitung und der Kommission der Deutschen Katholischen Bischofskonferenz von Annelieses Eltern und dem kirchenamtlich beauftragten Exorzisten Renz und seinem Kollegen Alt hat aber nicht nur die hier dargelegten kriminellen, moralischen und juristischen Dimensionen, sondern eine noch tiefere existenzielle. Denn eine solche kirchenamtliche Distanzierung kann in einem gläubigen Katholiken Seelenängste auslösen, die wohl nur der wirklich erahnen kann, der selbst dieses Milieu erfahren hat. "Der sei ausgeschlossen", heißt es bis heute in zahlreichen kirchlichen Lehrdokumenten gegenüber in Einzelfällen Andersdenkenden oder Zweiflern, und damit verbunden ist nach angeblich unfehlbarer Kirchenlehre die wiederum angebliche ewige Verdammnis (vgl. dazu Der Theologe Nr. 18). Mit einer Distanzierung schließt man den Gläubigen zwar noch nicht aus. Man rückt ihn aber gefährlich nahe an den Abgrund heran, vor dem jeder gläubige Katholik bis ins Mark Angst haben soll und vor dem auch die gläubige Katholikin Anneliese Michel zeitlebens in unfassbarer panischer Angst lebte, von der sie sich nicht befreien konnte. "Ich habe Angst", das waren ja auch ihre letzten Worte, unmittelbar bevor sie angeblich in den "Himmel" aufgenommen wurde.

Doch kein Opfer der Kirche muss ein Opfer bleiben. Und für jeden Menschen, der die Wurzeln dafür findet, warum er zum Opfer geworden ist, kann sich ein neuer Weg zum Leben auftun – im Diesseits und, wer daran glauben möchte, warum nicht auch im Jenseits. Das ist auch die gute Hoffnung für Anneliese Michel. Und ohne dass sie es plante oder wusste, hat die Aufarbeitung ihres Lebens schon heute dazu beigetragen, dass unzählige Menschen die höllischen Abgründe der kirchlichen Lehre besser erkennen und verstehen können. Ihr Leiden und Sterben ist nicht vergeblich gewesen.

 


Anmerkungen
:
* Pater Adolf Rodewyk hat mehrere Studien zum Thema Exorzismus geschrieben, darunter das römisch-katholische Standardwerk
Dämonische Besessenheit heute. Tatsachen und Deutungen, Aschaffenburg, Imprimatur 1966. Aufgrund der persönlichen Kontakte mit Anneliese Michel und ihrer Familie diagnostizierte er 1975 zunächst "einen Verdacht auf Besessenheit". Der Verdacht wurde für ihn mit der Zeit aber zur Gewissheit. Während des späteren Prozesses gegen die Exorzisten und die Eltern von Anneliese Michel erklärte er, dass er ohne jede Einschränkung von der Besessenheit von Anneliese Michel überzeugt sei (Goodman, a.a.O., S. 321
). Er ist 1989 im Alter von 95 Jahren in Münster/Westfalen verstorben.

** Der Salvatorianerpater Arnold Renz starb am Pfingstsamstag, den 17.5.1986, "unbemerkt von der Öffentlichkeit" (Goodman, a.a.O., S. 305). Pater Ernst Alt konnte später "unter dem Schutz des Erzbischofs Josef Stimpfle" in Augsburg untertauchen. Im Jahr 1994 sprach er mit dem Autor Uwe Wolff nur telefonisch, nicht persönlich, da Wolff ihm mitteilte, dass er nicht katholisch sei. "Die persönliche Begegnung", so Wolff, "scheute er deshalb mit der Begründung: ´Der Exorzist muss sich rein halten`" (Wolff, a.a.O., S. 268).

*** Auf ähnliche Weise ist es der Kirche auch gelungen, z. B. mit zahlreichen Diktaturen im Bunde zu sein (z. B. 1976-1983 mit der Militärjunta in Argentinien) und nach deren Fall sofort auf Seiten der neuen Machthaber zu stehen. Entweder indem man zum richtigen Zeitpunkt einfach die Seiten wechselte. Oder indem man auf allen Seiten seine Leute hatte und hat. Und je nach den Erfordernissen des Zeitgeistes werden die einen hochgehoben und die anderen lässt man bedeckt oder umgekehrt.

**** Ein Hintergrund der Ereignisse von Klingenberg ist die innerkirchliche Auseinandersetzung zwischen den Reformern, die sich vom 2. Vatikanischen Konzil (1962-1965) ermuntert sehen und den "Traditionalisten", welche Reformen der Kirche beargwöhnen. Das religiöse Umfeld von Anneliese Michel und ihrer Exorzisten wird den "Traditionalisten" zugerechnet. So sind z. B. die Marienerscheinungen in San Damiano bzw. Assisi in der Toskana, an denen auch Anneliese Michel mehrmals teilnahm, bis heute kirchenoffiziell nicht "bestätigt". Sie sind jedoch fest in der katholischen Volksfrömmigkeit verwurzelt. Der damalige Würzburger Bischof Josef Stangl wird hingegen zu den Reformern gezählt. Praktisch überschneiden und ergänzen sich jedoch beide Flügel. So auch beim Exorzismus an Anneliese Michel. So handelten die beiden Exorzisten Renz und Alt ganz offiziell im kirchenamtlichen Auftrag und mit dem offiziell dafür vorgesehenen Rituale Romanum. Und die Kritik an diesem Exorzismus sowie seiner Vorgeschichte und seinen Folgen trifft nicht nur einen Flügel der Kirche, sondern die römisch-katholische Kirche in ihrer Substanz.

 


Autor des Textes
: Dieter Potzel (Jahrgang 1959), Theologe, ehemaliger Pfarrer, Autor der Untersuchung Todesfalle Kirche – Warum musste Anneliese Michel sterben? Die Fakten über Bischof Josef Stangl sind im Wesentlichen dieser Untersuchung entnommen.

 


Der Text kann wie folgt zitiert werden
:
Zeitschrift "Der Theologe", Hrsg. Dieter Potzel, Bischof genehmigte tödlichen Exorzismus: Was wusste Joseph Ratzinger?, zit. nach theologe.de/bischof_josef_stangl.htm, Fassung vom 30.6.2022
 

 

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