Hildegard von Bingen – eine Prophetin,
zur "Kirchenlehrerin" degradiert

Warum Hildegard von Bingen zu Unrecht von der römisch-katholischen Kirche vereinnahmt wird

Der Theologe Nr. 64, aktualisiert am 23.12.2024


Die berühmte deutsche Mystikerin des Mittelalters, Hildegard von Bingen (* Sommer 1098 nahe Alzey; + 17.9.1179), wurde im Mai 2012, also mehr als 800 Jahre nach ihrem Tod, von Papst Joseph Ratzinger in das Verzeichnis der katholischen "Heiligen" eingeschrieben. Und im Oktober 2012 hat sie der Papst auch noch mit dem Titel "Kirchenlehrerin" bedacht. Eine Frage dazu ist, ob das alles für die "große deutsche Prophetin", wie sie auch genannt wird, wirklich eine Ehre darstellt – oder nicht vielmehr eine Degradierung bzw. eine Herabwürdigung, ja sogar eine Beleidigung, gegen die sie sich nicht mehr wehren kann? Denn niemand hatte sie je gefragt, ob sie überhaupt "Kirchenlehrerin" sein will. Und kein Vertreter des Katholizismus hat öffentlich die Frage gestellt, ob ihr das überhaupt recht gewesen wäre? Und so könnte man nun stattdessen fragen: Was hat sie denn davon, dass sie 2012 zur "Heiligen" und Kirchenlehrerin gemacht worden ist?
Gemeinsam mit dem Kirchenlehrer und Kirchenheiligen Thomas von Aquin (1225-1274), der ca. zwei Generationen später auf Erden lebte, dürfe sie von ihrem neuen Ehrenplatz aus z. B. jetzt
angeblich die grässlichen höllischen "Strafen der Gottlosen vollkommen schauen", wie Thomas von Aquin über die Kirchenheiligen lehrt (zit. nach Markus Enders, Jahrbuch für Religionsphilosophie, Band 7, Redaktion: Institut für Systematische Theologie der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, Frankfurt am Main 2008, S. 82). Ob das Thomas von Aquin aber Recht wäre, bei jener extremst sadistisch-voyeuristischen Schau nun eine Frau an seiner Seite zu haben, muss bezweifelt werden. Denn die Frau sei laut Thomas von Aquin "von Natur aus mit weniger Tugend und Würde ausgestattet als der Mann" (Summa theologia I/92/1) und zudem sei "das Weib dem Manne von Natur aus unterworfen" (Summa theologia I/92/2). Und jetzt soll Hildegard dadurch ihre "Seligkeit besser gefallen", dass sie sich daran ergötzen dürfe, wie Männer, denen sie allesamt auf Erden von Natur aus unterworfen gewesen sei, im Höllenfeuer brennen. Würde nun Thomas von Aquin einen solchen jenseitigen Zustand an der Seite von Hildegard von Bingen akzeptieren oder hat er bereits "Reißaus" genommen, falls Hildegard womöglich schon laut katholischer Doktrin neben ihm Platz genommen habe?
Was wie eine Satire klingt, ist leider bitterernst. Lesen Sie mehr Informationen zur den Hintergründen der Verehrung von Hildegard von Bingen durch die Vatikankirche.



Jedes Geschöpf ist mit einem anderen verbunden

Statt Degradierung: Hildegard soll Status der Gottesprophetin zurück gegeben werden

Das Lebenswerk von Hildegard und die Abwertung der Frau in der Kirche

Irreführung und Betrug an der Bevölkerung

Die Berufung zur Gottesprophetin

Warum "Kirchenlehrerinnen"?

Verfälschungen

Hildegard von Bingen und die Katharer

Die Traumatisierung Hildegards und Kritik von asketischen Zeitgenossen

Hildegard von Bingen entlarvt die Kirchenführer

Hildegard von Bingen kann sich nicht mehr wehren

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Viele hatten ja gedacht, die berühmte Äbtissin der Benediktinerinnen, Mystikerin und Seherin aus dem 12. Jahrhundert sei von der Kirche längst "kirchenheilig" gesprochen worden. Doch dem war offiziell nicht so, auch wenn der Name der bekannten Nonne bereits seit 1584 inoffiziell im katholischen "Heiligenkalender" stand. Erst am 10.5.2012 schrieb sie Papst Joseph Ratzinger kirchlich verbindlich in das katholische Verzeichnis der Heiligen der Vatikankirche ein. Und am 7. Oktober 2012 wurde Hildegard von Bingen auch noch zur "Kirchenlehrerin" ernannt. Ihr offizieller katholischer "Titel" lautet seither "doctor ecclesiae". Die dafür notwendigen innerkirchlichen Kriterien für den Titel "Kirchenlehrer" oder "Kirchenlehrerin" sind: "Rechtgläubigkeit" im Sinne des katholischen Dogmas (orthodoxa doctrina), "herausragende Lehre" (eminens doctrina), ein hoher Grad von angeblicher Heiligkeit (insignis vitae sanctitas) und offizielle Erhebung durch die Kirche (ecclesiae declaratio). Zuständig ist die Kommission für "Heiligsprechungen" im Vatikan. (zit. nach Wikipedia, Stand: 9.10.2012)
Und im Vatikan passiert bekanntlich nichts zufällig. Eines der Motive solchen Handelns ist die Imagepflege. Der Vatikan wird seit 2010 durch die Aufdeckung immer neuer Kinderschänderverbrechen durch Priester erschüttert. Seit 2012 kamen dann verstärkt interne Enthüllungen über hauseigene Machtkämpfe, Korruption und Geldwäsche im großen Stil ans Tageslicht. Und besonders in Deutschland und Österreich gehen protestierende Katholiken auf die Barrikaden gegen mangelnde Reformbereitschaft des Klerus und gegen schmerzhafte Einschnitte in die Infrastruktur der Ortskirchen aufgrund der zunehmenden Kirchenaustritte und des Priestermangels. Und auch mit seinem Alleingang beim Versuch, die erzreaktionären Pius-Brüder in den Schoß der Kirche zurück zu holen, geriet Papst Joseph Ratzinger mehr und mehr ins Abseits.

"Jedes Geschöpf ist mit einem anderen verbunden"

Hildegard von Bingen passt zudem gut in die heutige Zeit hinein. Vieles von dem, was sie lehrte, ist heute sehr aktuell. Sie liebte und erforschte die Natur, die Tiere, die Pflanzen und die Mineralien, und sie sah im Universum die faszinierenden Zusammenhänge zwischen dem Mikrokosmos des Menschen und seiner Umgebung und dem Makrokosmos des Weltalls. Dazu gab sie unzählige Anregungen für Ernährung und Heilkunde, man spricht heute sogar von Hildegard-Medizin und betrachtet Hildegard von Bingen manchmal als erste Ärztin. Auch würde man heute sagen: Sie dachte ökologisch: Alles steht mit allem in Verbindung, so ihre Gesamtschau, die sie bis ins Detail entfaltete.
Sie schrieb: "Jedes Geschöpf ist mit einem anderen verbunden, und jedes Wesen wird durch ein anderes gehalten." (Hildegard von Bingen, Welt und Mensch, zit. nach zitate-welt.de)
"Hildegards Annahme, dass Menschen, Tiere, Steine und Pflanzen alle in einer Unzahl von Wechselwirkungen miteinander verknüpft sind (´Alles, was in der Ordnung Gottes steht, antwortet einander`), ist in gewisser Hinsicht eine Vorwegnahme der Quantenphysik", schreibt welt.de. (7.10.2012)
Wörtlich schrieb Hildegard von Bingen weiterhin: "
Oh Mensch, schau dir den Menschen an: Er hat Himmel und Erde und die ganze übrige Kreatur in sich. In ihm ist alles verborgen schon vorhanden. Oh wie herrlich ist Gott, Der schöpferisch wirkt und Seine eigene Herrlichkeit durch die Geschöpfe offenbart. Wenn du zu deinem Schöpfer aufblickst und sagst 'Mein Gott bist du', dann entzündet sich in dir das Feuer der Liebe, aus der alles Leben entsteht und alles Gute hervorgeht. Du hast also die Wahl, denn du kannst nicht zwei Herren dienen. Darum, oh Mensch, schau auf zu deinem Gott und die Erde wird neu werden!" (aus: Scivias, zit. nach abtei-st-hildegard.de)
Hildegard von Bingen war auch sehr musikalisch. Sie dichtete und komponierte, und sie setzte sich mit einem erstaunlichen Stehvermögen in einer ausschließlich von Männern dominierten Welt durch – und in einer Kirche, in der bis heute das Wort aus dem 1. Korintherbrief des Paulus der Bibel als "Gottes" unfehlbares und verbindliches Wort gilt: "Das Weib schweige in der Gemeinde!" (1. Korinther 14, 34)

"Der Mensch hat Himmel und Erde und die ganze übrige Kreatur in sich", so die Worte von Hildegard von Bingen. Und lehrte nicht auch Jesus von Nazareth etwas Ähnliches, als Er sagte: "Das Reich Gottes ist inwendig in euch"?

Der Mensch trägt also alles Göttliche in sich. Es braucht folglich keine Priester, keine Hostie, keine Wassertaufe, kein kirchliches Steinhaus und dergleichen. Hildegard von Bingen zeigte die Einheit allen Lebens auf, wenn sie erklärte, dass der Mensch "alle Kreatur", also auch die Teilseelen der Tiere, in sich trägt, was zu einem ganz anderen Umgang den Tieren und der Natur gegenüber führt als die Grausamkeiten, die sich bis zum heutigen Tag im kirchlichen Abendland heraus gebildet haben.

Statt Degradierung und Vereinnahmung: Hildegard soll Status der Gottesprophetin zurück gegeben werden

Doch was ist aus dem geworden, was Hildegard erfahren und gelehrt hat? Gott offenbart nach den Worten Hildegards Seine Herrlichkeit durch die Geschöpfe, also durch alles, was Er geschaffen hat. Das bedeutet, dass Gott auch in der gesamten Schöpfung zu finden ist. Was aber hat die Kirche aus dieser Lehre der Gottespropheten, des Jesus von Nazareth und aus den ähnlich lautenden Aussagen der Hildegard von Bingen gemacht? Sie verteufelt sie bis heute als "Pantheismus". Das kirchliche Dogma missachtet grob die Einheit allen Lebens und hat die Menschen stattdessen äußeren Ritualen und Zeremonien unterworfen und an die Priester festgebunden, die angeblichen "Vermittler" zwischen Gott und den Menschen, die der Mann aus Nazareth in Wahrheit nie eingesetzt hatte.
Und was hat die Kirche mit der Erkenntnis Hildegards gemacht, dass Menschen und Natur gemeinsam ein Teil dieser großen Einheit sind, die von Gott beatmet wird, und dass alles mit allem in Verbindung steht? In den Dogmen und Lehrsätzen der Kirche wird der Natur und der Tierwelt die Beseeltheit eindeutig abgesprochen (siehe dazu hier). Und fast alle Menschen wurden blutig verfolgt, die solches gelehrt haben. Hildegard selbst ist mit Weisheit und Geschick der Verfolgung gerade noch einmal entkommen. Die Kirche ist also nicht nur mitverantwortlich, sondern hauptverantwortlich für die Naturverachtung und heutige Ausbeutung, die uns auch immer tiefer in die gegenwärtige Klimakatastrophe hinein führt.

Rechts: Miniatur aus dem Rupertsberger Codex des Buches Scivias von Hildegard von Bingen (Lizenz: gemeinfrei) Die Feuerflammen symbolisieren: Die Prophetin Hildegard von Bingen empfängt eine Gottesoffenbarung. Zu einem echten Propheten, der in Verbindung mit dem "Wesenskern" seiner Seele steht, können Gott und die geistige Welt sprechen. Zum Priester und Theologen, der hier staunend daneben steht, nicht. Der Konflikt zwischen Prophet und Priestern, die nicht auf die Gottespropheten hören, währt bereits seit Tausenden von Jahren.

Denn die Vatikankirche hält sich weiter an eiskalte intellektuelle Männer wie Augustinus oder Thomas von Aquin, für welche zum Beispiel Tiere und Natur "vernunftlose Wesen" seien, ohne unsterbliche Seele und einzig dem menschlichen Nutzen unterworfen. Es seien Geschöpfe, die man nicht zu lieben brauche, so die Kirchenlehre (vgl. Katholischer Katechismus Nr. 2418) oder, wie es der "heilige" Thomas von Aquin sinngemäß lehrte, es spiele keine Rolle, ob man Tiere gut oder schlecht behandele und Freundschaft mit ihnen sei nicht möglich. Man könne – wörtlich – "nur bildhaft davon sprechen, dass ihnen etwas Gutes oder Böses zustößt", da sie "vernunftlos" seien und vielfach dazu bestimmt, vom Menschen verzehrt zu werden. (Summa theologica II. 64. I)
Warum folgte man also bis heute gefühlskalten Rhetorikern wie Augustinus oder Thomas von Aquin und nicht einer Frau wie Hildegard von Bingen? Denn Augustinus und Thomas von Aquin gelten schon lange als Kirchenlehrer. Daraus ergibt sich für uns folgende Forderung an die Romkirche: Entweder man erkennt Augustinus und Thomas von Aquin den Titel "Kirchenlehrer" wieder ab, oder man gibt Hildegard von Bingen von Bingen den Status der "Gottesprophetinnen" wieder zurück, statt sie ebenfalls zur Kirchenlehrerin zu degradieren. Dies ist eine unzulässige Vereinnahmung. Und dies gilt auch für zwei der drei anderen noch existierenden "Kirchenlehrerinnen" (Therese von Avila, Katharina von Siena, Therese von Lisieux), die vom Vatikan ebenfalls auf diese Weise degradiert wurden, Theresa von Avila und Katharina von Siena.

Bedenken wir: Was hat die Kirche aus dem Vorbild von Hildegard von Bingen gemacht, die der damaligen Männerwelt an Geistestiefe weit überlegen war? Rund 400 Jahre nach (!) dem Tod von Hildegard von Bingen begannen in Mitteleuropa die Scheiterhaufen für Abweichler von der Kirchenlehre zu brennen, auf denen auch Zehntausende von angeblichen "Hexen" lebendig verbrannt wurden, deren Verbrechen vielfach ihre Intelligenz war. Ein Papst, Innozenz VIII.,  hatte 1487 mit seiner "Hexenbulle" die päpstliche Erlaubnis und zugleich den Startschuss dazu gegeben.
Doch für die bestialische Gewalt der Kirche gegen Frauen waren auch noch weitere "heilige Kirchenlehrer" verantwortlich, z. B. Kyrill von Alexandria, dessen Anhänger bereits im Jahr 415 die angesehene Naturphilosophin Hypatia, eine geistig Verwandte von Hildegard von Bingen, nackt auszogen, auf den Altar der katholischen Kirche legten und dort mit Glasscherben in Stücke schnitten. Man geht davon aus, dass der Heilige und "Doctor ecclesiae" den Ritualmord befohlen hat, da Hypatia weder zum Katholizismus konvertierte noch sich als Nichtkatholikin an das Gebot der Bibel "Die Frau schweige in der Gemeinde" halten wollte, was Kirchenlehrer Kyrill aber nicht nur auf die Kirchengemeinde, sondern auf die ganze Gesellschaft bezog.

Hildegards Lebenswerk und die Abwertung der Frau in der Kirche

Und was macht man heute mit Hildegard von Bingen? Man schickt sie zu Kyrill und zu Augustinus in den "Himmel" der "Heiligen" und zu Thomas von Aquin, der lehrt: "Damit den Heiligen die Seligkeit besser gefalle und sie Gott noch mehr dafür danken, dürfen sie die Strafen der Gottlosen vollkommen schauen" (zit. nach Markus Enders, Jahrbuch für Religionsphilosophie, Band 7, Redaktion: Institut für Systematische Theologie der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, Frankfurt am Main 2008, S. 82). Und Thomas von Aquin schreibt weiter: "Gemäß diesem Unterordnungsverhältnis ist das Weib dem Manne von Natur aus unterworfen. Denn im Manne überwiegt von Natur aus die Unterscheidungskraft des Verstandes" (Summa theologia I/92/2). Und: "Die Frau ist von Natur aus mit weniger Tugend und Würde ausgestattet als der Mann. Denn immer ist das ehrenwerter, was handelt, als das, was erleidet, wie Augustinus sagt." (Summa theologia I/92/1)
Schließlich lehrt Thomas von Aquin, "dass es notwendig war, dass die Frau wurde, wie die Schrift sagt, als Hilfe des Mannes; freilich nicht als Hilfe irgendeines anderen Werkes, wie einige sagten, weil ja zu jedem anderen Werk der Mann durch einen anderen Mann entsprechendere Unterstützung fände als durch eine Frau; sondern als Hilfe zur Fortpflanzung." (I/92/1)
Dies alles veröffentlichte der große Kirchenheilige und Kirchenlehrer ca. 100 Jahre nach (!)  Hildegard von Bingen. Dies war, wenn man es so sehen will, also der damalige "Fortschritt" in der Kirche. Doch Hildegard stellte sich keinem Mann als dauernde Fortpflanzungshilfe zur Verfügung, worin demnach ihre Aufgabe bestanden hätte. In der Konsequenz seines Denkens hat Thomas von Aquin Hildegard von Bingen dann in seinem Werk auch mit keinem Wort erwähnt. Denn Hildegard war in Deutschland die erste Frau, die sogar öffentlich Ansprachen gehalten hatte, z. B. in Mainz, Würzburg, Bamberg, Trier, Metz, Bonn und Köln. Ihre Nichterfüllung der ihr von der Kirche als Frau zugeschriebenen Mutterrolle und ihre Einweisung als Jugendliche in das Benediktiner-Kloster hatten jedoch nichts mit kirchlich-asketischen Verklemmungen und Verteufelungen der Körperlichkeit zu tun. So beschreibt Hildegard positiv auch die natürliche Sexualität zwischen Mann und Frau.

Hildegard von Bingen war daran gelegen, den Menschen bei ganz praktischen Alltagsfragen weiter zu helfen. So schrieb sie nach ihrem Buch Wisse die Wege auch noch die beiden Bücher Buch der Lebensverdienste und Buch der göttlichen Werke, gezwungenermaßen auf Latein, also Liber Vitae Meritorum und Liber Divinorum Operum. Begleitend dazu schrieb und komponierte sie zahlreiche Lieder, die in einem eigenen Liederbuch zusammen gefasst sind, der Symphonie der Harmonie der himmlischen Erscheinungen (Symphonia armonie celestium revelationum). Auch fertigte sie selbst die Bauzeichnungen für ihr Kloster.
Bekannt wurde Hildegard von Bingen aber vor allem durch für die damalige Zeit einzigartige Medizin- und Naturkundebücher, z. B. Liber simplicis medicinae bzw. physica. Eines davon ist ein Buch über die Ursache und Entstehung der verschiedenen Krankheiten, Causae et Curae, ein anderes ein Buch über das Wesen, also die Beschaffenheit und Heilkraft, der verschiedenen Kreaturen und Pflanzen
(Liber subtilitatum diversarum naturarum creaturarum).
Zu ihrem Lebenswerk gehören weiterhin Bücher über Tiere, ein spezielles über Vögel und Fische, Bücher über Pflanzen, darunter ein eigenes über Bäume, und Bücher über Steine und die Elemente der Erde. Dies nur einige Beispiele.
Seit ihrer offiziellen Heiligsprechung 2012 dürfe Hildegard von Bingen ihre Zeit bzw. "Ewigkeit" nun aber angeblich zusammen mit den drei Männern Kyrill von Alexandria, Augustinus und Thomas von Aquin in dem so genannten "Himmel" der Kirchenheiligen verbringen. Und sie dürfe sich nun daran
ergötzen, wie ein Teil der Männerwelt, der sie auf Erden unterworfen wurde, im Höllenfeuer brennt – eine Unverschämtheit gegenüber dieser genialen Frau. Außerdem müsste man hier auch einmal folgende Frage stellen: Würde beispielsweise Thomas von Aquin einen solchen jenseitigen Zustand an der Seite von Hildegard von Bingen überhaupt akzeptieren? Oder hat er bereits "Reißaus" genommen, nachdem Hildegard angeblich neben ihm Platz genommen habe?

Irreführung und Betrug an der Bevölkerung

Was wie eine Satire klingt, ist leider bitterernst. So kann man eindeutig sagen: Die Kirche schmückt sich hier mit fremden Federn. Sie vereinnahmt eine Frau für sich, deren Lehre und Vorbild sie in entscheidenden Punkten missachtet und vor allem nicht umgesetzt hat. So, wie sie den Namen des Jesus von Nazareth zwar im Munde führt, Seine Lehre und Sein Vorbild aber ebenfalls bis heute mit Füßen tritt. Dieses Verhaltensmuster lässt sich immer wieder in der Kirchengeschichte beobachten: Große Männer und Frauen werden zu Lebzeiten verdächtigt, verfolgt, verleumdet, nicht wenige auch umgebracht – doch nach einer gewissen Zeit, wenn sie lange tot sind, werden sie dann von der Kirche vereinnahmt und so, als ob nichts gewesen wäre, ganz selbstverständlich für das Amtskirchentum beansprucht. Was sie gebracht haben, wird jedoch auch weiterhin nicht umgesetzt. Ist solches Handeln aber nicht in Wahrheit ein Betrug, eine Irreführung des Volkes?

Dazu passt auch, was Papst Joseph Ratzinger selbst am 1. September 2010 bei einer Generalaudienz über Hildegard sagte: "Die Person", so Ratzinger, "die mit übernatürlichen Gaben beschenkt wird, ... unterstellt sich im Gehorsam der Autorität der Kirche. Jede Gabe des Heiligen Geistes trägt zum Aufbau der Kirche bei, und es ist die Kirche, die wiederum durch ihre Hirten deren Authentizität anerkennt" (zit. nach abtei-st-hildegard.de/?p=1081). Das heißt, die Kirche vereinnahmt solche herausragenden Menschen nicht nur, sie maßt sich auch an, allein (!) darüber entscheiden zu dürfen, was in den über sie offenbarten "Gottesbotschaften" als wahr zu gelten hat und was nicht. Damit stellt sich die römisch-katholische Kirche auch über Gott, den Freien Geist.

Die Berufung zur Gottesprophetin

Hildegard beschreibt ihr Berufungserlebnis zur "Gottesposaune" wie folgt:
"Im Jahre 1141 der Menschwerdung Jesu Christi, als ich 42 Jahre und sieben Monate alt war, kam ein feuriges Licht mit Blitzesleuchten vom Himmel hernieder. Es durchströmte mein Gehirn und durchglühte meine Brust. Und plötzlich erschloss sich mir der Sinn der Schriften ... Und ich vernahm eine Stimme vom Himmel, die zu mir sprach: Schreibe auf, was du siehst und hörst!"
Und an anderer Stelle schreibt sie später: "Ich sehe all diese Dinge nicht mit den äußeren Augen und höre sie nicht mit den äußeren Ohren; ich sehe sie vielmehr einzig und allein in meinem Inneren, aber mit offenen leiblichen Augen, so dass ich niemals die Bewusstlosigkeit einer Ekstase erleide, sondern wachend schaue ich dies bei Tag und bei Nacht."
(zit. nach merke.ch)
Mit dem eiskalten Intellektualismus der Theologen und Schriftgelehrten legte sie sich dabei bewusst nicht inhaltlich an, und sie erklärt:
"Was ich nicht in Visionen sehe, das weiß ich nicht, weil ich ungebildet bin." (zit. nach dradio.de, 2.10.2012)
Wie bei allen wahren Gottespropheten sträubt sich der Mensch zunächst gegen die schier unfassbare Aufgabe. Dies war auch bei Hildegard von Bingen so:
"Ich aber, obgleich ich diese Dinge hörte, weigerte mich lange Zeit, sie niederzuschreiben – aus Zweifel und Missglauben und wegen der Vielfalt menschlicher Worte, nicht aus Eigensinn, sondern weil ich der Demut folgte und das so lange, bis die Geißel Gottes mich fällte und ich ins Krankenbett fiel; dann, endlich bewegt durch vielerlei Krankheit … gab ich meine Hand dem Schreiben anheim. Während ich's tat, spürte ich … den tiefen Sinn der Heiligen Schrift; und ich erhob mich so selbst von der Krankheit durch die Stärke, die ich empfing und brachte dies Werk zu seinem Ende
eben so in zehn Jahren … Und ich sprach und schrieb diese Dinge nicht aus Erfindung meines Herzens oder irgend einer anderen Person, sondern durch die geheimen Mysterien Gottes, wie ich sie vernahm und empfing von den himmlischen Orten. Und wieder vernahm ich eine Stimme vom Himmel, und sie sprach zu mir: Erhebe deine Stimme und schreibe also!" (Wisse die Wege (lateinischer Original-Titel: Liber Scivias), zit. nach Wikipedia: Stand: 7.10.2012)
 

"Ich sehe, höre und weiß gleichzeitig."
(Hildegard von Bingen)

In den Biographie-Skizzen von merke.ch heißt es dazu: "Der erneute Einbruch des Lichtes in ihr Leben und die damit verbundene Gabe der Schau hat Hildegard den Namen einer Visionärin verliehen. Sie nahm den göttlichen Auftrag, der übrigens wiederum in vielem auffallende Parallelen zu den Berufungsgeschichten der alttestamentlichen Propheten aufweist, an und begann das niederzuschreiben, was sie im ´Lebendigen Licht` erkannte. Sie betrachtete sich dabei, gleich wie die Propheten, als Werkzeug und Sprachrohr Gottes. Es ging ihr nicht um eine persönliche Seelenmystik oder eine weltlose Innerlichkeit, nicht um private Versenkungen oder Einungserlebnisse mit dem göttlichen Gegenüber, sondern darum, die Menschen ihrer Zeit wachzurütteln, sie zur Umkehr zu bewegen und der wachsenden Gott-Vergessenheit entgegenzutreten. Hildegards Schau drängte auf ein Tun, ihr Erkennen zielte auf ein Wirksamwerden und auf die Mobilisierung der Weltverantwortung in aller Nüchternheit, aber auch mit "brennender Vernunft", von der sie so oft sprach. Faszinierend an Hildegards Visionen ist nicht nur die inhaltliche Fülle und Vielseitigkeit, sondern vor allem auch die einzigartige Verknüpfung theologischer, kosmologischer, naturkundlicher und spiritueller Erkenntnisse. Alles Geschaute erhält bei Hildegard auf den verschiedensten Ebenen seinen Sinn und seine Entsprechung. Alles ist miteinander verbunden und aufeinander bezogen. Hildegard ging es um eine religiöse Deutung des ganzen Universums und um ein konsequent gelebtes christliches Lebens in allen Bereichen des Lebens. Alles, Himmel und Erde, Glaube und Naturkunde, das menschliche Leben in all seinen Facetten und Möglichkeiten, war für sie ein Spiegel der göttlichen Liebe (speculum divinae caritatis) und wird damit transparent auf den Schöpfer hin." (merke.ch)

Warum "Kirchenlehrerinnen"?

Und wer in diesem Sinne an die Existenz echter Gottesprophetie glaubt, für den gilt: Wenn Gott Seinen Menschenkindern etwas sagen will, dann braucht Er dazu Boten und Propheten, durch die Er sprechen kann. Doch der Papst behauptet nun – und mit ihm die Kirche seit Jahrhunderten – dass "Gott" das nicht so einfach tun dürfe. Denn die Päpste seien es, die darüber entscheiden. Die Päpste legen also fest, was in der Kirche als "von Gott offenbart" gilt und was nicht. Dafür ließ der Vatikan ein Dokument erstellen mit dem Namen Normen für das Verfahren zur Beurteilung mutmaßlicher Erscheinungen und Offenbarungen. Dieses Dokument wurde 1974 von der "Glaubenskongregation" des Vatikan verfasst, und die Kardinäle und Bischöfe nennen sich darin selbst "Väter der Heiligen Kongregation". Papst Paul VI. erklärte die Normen 1978 dann als kirchenamtlich verbindlich. Und darin wird einmal mehr die so genannte "universale Jurisdiktion" des Papstes hervor gehoben, was bedeutet: Allein der Papst könne kirchlich rechtsverbindlich und weltweit entscheiden, was angeblich stimmt und was nicht und alleine er könne jederzeit einschreiten, wenn ihm im Kirchenrecht etwas nicht gefällt, und er bekommt dann aufgrund der "universalen Jurisdiktion" immer Recht.

Dazu die Frage:
Warum müssen Gottesprophetinnen wie Hildegard von Bingen dann in der Kirche "Kirchenlehrerinnen" sein? Warum? Weil die Botschaft Gottes anders lautete als die Priester und Päpste es wollten. Infolgedessen haben die Priester die Gottesbotschaft verfälscht, diese Fälschung in ihre Satzungen eingebunden und somit die Gottesprophetinnen zu "Kirchenlehrerinnen" herab gewürdigt, damit die Inhalte ins Kirchenkorsett passen.
Zur "Kirchenlehrerin" wurde Hildegard von Bingen also deshalb faktisch herabgestuft, weil die Priester und der Papst sie in die Kirchenlehre eingebunden und ihr diese Lehre aufgepfropft haben.

Für einen Kirchenlehrer gelten dabei bestimmte Bedingungen, wozu auch folgender Lehrsatz gehört: "Wer nicht die ganze kirchliche Überlieferung annimmt, die geschriebene wie die ungeschriebene, der sei ausgeschlossen" (als "unfehlbar" markierter Lehrsatz Nr. 85 aus Neuner/Roos, Der Glaube der Kirche).
Doch Hildegard von Bingen war mutig und weise und hat keineswegs die ganze kirchliche Überlieferung geglaubt. Sie lebte deshalb immer in der Gefahr, als Ketzerin verurteilt und hingerichtet zu werden, hätte es nicht einflussreiche Fürsprecher innerhalb der Kirche für sie gegeben.

Innerkirchlich wird allerdings geleugnet, dass Hildegard von Bingen auch nur irgendeiner kirchlichen Überlieferung widersprochen hätte. Und diese Leugnung ist zwangsläufig. Die Kirchenmänner haben Hildegard von Bingen komplett für sich vereinnahmt und in den Sumpf der Kirche hinein gezogen, sonst könnten sie sie ja gar nicht zur "Kirchenlehrerin" ernennen. Und wie das geht, da gibt es viele Methoden. Die Klöster des Mittelalters gehören bekanntlich unwidersprochen zu den größten Fälschungswerkstätten der Kirche.
Das heißt: Niemand kann heute beweisen, was Hildegard wirklich genau gesagt und gedacht hat oder was man z. B. nachträglich gestrichen oder umformuliert hat, etwa im Hinblick auf die katholische Abendmahls- bzw. Eucharistielehre, wo sie angeblich die amtskirchliche Position der angeblich vollständigen "Verwandlung" einer Hostie in den Körper von Christus vertreten haben soll. Doch das alles haben katholische Mönche aufgeschrieben, nicht sie selbst. Als Hildegard von Bingen ihre Visionen aufschreiben wollte, wurde ihr auferlegt, dies müsse sie in lateinischer Sprache tun. Doch Hildegard von Bingen hatte nur mangelhafte Lateinkenntnisse. So haben Mönche, die Latein sprechen konnten, für sie geschrieben wie in ihren letzten Lebensjahren Wibert von Gembloux. Zudem stand ihr neben ihrer langjährigen Vertrauten Richardis von Stade auch Propst Volmar zur Seite, die wohl ebenfalls darauf geachtet haben, dass die Schriftfassung von Hildegards Visionen und Gedanken möglichst nicht der Kirche widersprechen. Und wenn man später dem Papst Schriften von ihr mit der Bitte um Anerkennung vorlegte, dann haben die Bittsteller mit Sicherheit auch genau darauf geachtet, dass in ihnen nichts kirchlich Anstößiges mehr zu finden ist. Doch was hatte Hildegard wirklich gesehen und gesagt?

Verfälschungen

So drohte ihr auch in den ersten Jahrzehnten nach ihrem Tod noch längere Zeit die Verurteilung als "Häretikerin". Dazu schrieb z. B. Johannes Peckham, der Provinzialmeister der englischen Franziskaner und der spätere berühmte Erzbischof von Canterbury, im Jahr 1270:
"Ich glaube, dass die Prophetie der Hildegard unmittelbar aus der List des Teufels entspringt. Er will die Menschen mit ihrer Hilfe mit vielen Falschheiten und Nichtigkeiten verwirren. Gerade durch jene Hildegard lehrt er viele Irrtümer und durch sie gibt er Anweisungen an ihre ketzerischen Anhänger. Deshalb tadele ich all diejenigen, die die Lehre einer Frau in der Kirche verbreiten. Alle Zeichen, die sie verkündigen, sind betrügerisch und falsch ... Manche sagen, der Papst habe ihre Schriften bestätigt, was offensichtlich eine Lüge ist, da der apostolische Stuhl bekanntlich Zweifelhaftes nicht genehmigt, um so weniger, als in dem Geschreibsel einer solchen Vermessenen viele Irrtümer enthalten sind." (Johannes Peckham, zit. nach dradio.de, 2.10. und 5.10.2012)


Es spricht folglich einiges dafür, dass der Erzbischof von Canterbury im 13. Jahrhundert noch einige Texte von Hildegard vor sich hatte, die noch nicht verfälscht waren. Und was dann gar nach Hildegards Tod mit den Schriften und mit den Abschriften ihrer Werke geschah, die im Sumpf der Kirche kursierten, wer kann das heute schon wissen? Man weiß also heute nicht mehr, was wirklich von Hildegard stammte oder wo man sie kirchlich schon damals vereinnahmt hatte und ihr Dinge unterschob, die gar nicht von ihr stammten. Wenn man heute also kirchliche Bücher über Hildegard von Bingen, über Theresa von Avila oder Katharina von Siena liest, die mit dem Segen des Bischofs veröffentlicht wurden, dann kann man also überhaupt nicht sicher sein, welche Inhalte wirklich stimmen oder wo etwas im Sinne des kirchlichen Dogmas verfälscht wurde, um die zu Kirchenlehrerinnen degradierten Frauen im kirchlichen Morast fest zu halten.

Und als wenn Hildegard selbst solches geahnt hätte, warnte sie in einem ihrer Werke davor, wenn jemand, so wörtlich "diese Worte des Fingers Gottes ohne guten Grund verbirgt, sie wütend verkürzt oder sie wegen einer menschlichen Empfindung an einen unbekannten Ort beiseite schafft und so nicht ernst nimmt". (Hildegard von Bingen, Scivias, 3. Teil, 13. Vision)  
Wahrscheinlich ahnte Hildegard von Bingen, was mit ihren Werken geschehen würde! Sie durchschaute die Kirchenführer, doch verhindern konnte sie es nicht, dafür war die Kirche damals einfach noch zu mächtig.
Und damit eine Vision oder Offenbarung ins kirchliche Raster passt und von der Romkirche anerkannt wird, darf das Medium oder der Visionär eben keinem "lehrmäßigen Irrtum" unterliegen.


So fällt auf, dass angeblich alle Prophetinnen, die innerhalb der Kirche wirkten, die Kirche als Institution nicht angetastet und behauptet haben sollen, man müsse trotz allem dem Papst Gehorsam leisten, auch wenn dieser, wie Papst Anastasius IV., in den Augen von Hildegard von Bingen ein "Gottesverächter" war (siehe unten).

Hildegard von Bingen und die Katharer

In unserer Zeit wird Hildegard von Bingen von der Vatikankirche zusätzlich als "Ketzerbekämpferin" gegen die urchristlich orientieren Katharer (vom Wort "catharoi" = die Reinen) missbraucht, die vor allem in Südfrankreich tätig waren, aber auch in Deutschland. Die Zeitung Die Welt schreibt: "Ihr entschlossenes Eintreten gegen die Katharer-Sekte, die eine radikale Reform der Kirche wollte, ist für den konservativen Joseph Ratzinger eine wichtige kirchenpolitische Botschaft." (5.10.2012)
Doch diese Darstellung ist nur eine der vielen Geschichtsfälschungen der römisch-katholischen Kirche. Was aber hat Hildegard von Bingen tatsächlich getan? Tatsache ist, dass in den Reihen der Katharer manche fanatische Prediger glaubten, "geistig" schon weiter "entwickelt" zu sein, als sie tatsächlich waren.
Sie predigten z. B. sexuelle Enthaltsamkeit, hielten hinten herum aber offenbar ihren eigenen Rigorismus nicht durch. Diese Heuchelei hat Hildegard ihnen nicht durchgehen lassen. Die Katharer-Prediger gaben anscheinend vor, "vom Heiligen Geist durchflutet" zu sein. Doch es waren Männer, die insgeheim, so Hildegard wörtlich, sich "Frauen angelten, um sich mit ihnen in Wollust zu vergnügen". (zit. nach Heinrich Schipperges, Hildegard von Bingen, S. 28)
Hier ist allerdings zu berücksichtigen, dass man die Katharer bis heute auch durch gezieltes Missverstehen verleumdet und ihre urchristlichen Lehren kirchlicherseits immer entstellt wiedergibt und als "sektiererisch" verteufelt.
Doch, um einmal bei dem hier genannten Beispiel zu bleiben: Selbst ein "Sünder" ist in seinem Inneren natürlich weiterhin vom "Heiligen Geist durchflutet" und könnte dies auch von sich so sagen. Aber das heißt eben noch lange nicht, dass er dann bereits in seinem ganzen Tun, Reden, Denken und Fühlen im "Heiligen Geist" lebt. Wie aber hatte der kritisierte Katharer es damals wirklich gemeint, als er von der "Durchflutung" mit dem "Heiligen Geist" sprach?
Es kommt noch hinzu, dass Hildegards Tadel in der Regel allgemein gehalten war und offenbar gar nicht direkt gegen die Urchristen in Südfrankreich und auch in Deutschland gerichtet war, sondern genauso gegen die fanatischen römisch-katholischen Prediger und deren sexuelle Ausschweifungen, die gerade in unserer Zeit zum Seelenmord an Tausenden von Kindern führten, die sich viele dieser Priester als Sexualobjekte aussuchten. Was die Kritik Hildegards betrifft, bleibt also vielfach offen, wer damit wirklich gemeint war.
Dass bei diesem und auch bei anderen Themen "Katharer", wie sie genannt wurden, mit ihren hohen ethisch-moralischen Ansprüchen noch nicht im Reinen waren bzw. diese hier und da noch nicht verwirklichten, ist allerdings sehr nahe liegend. Doch das gilt eben erst recht bei fanatischen oder frömmelnden katholischen Asketen. Hildegard hingegen durchschaute jeden vordergründigen Fanatismus, gleich welcher Religion oder Weltanschauung, und sie wusste, dass man die Leute durch Verdrängungen ihrer Begierden und menschlichen Sehnsüchte nicht näher zu Gott bringt. Und Hildegard von Bingen war ohnehin bekannt dafür, "dass sie jede Art von selbstquälerischer Askese, wie sie damals in den Klöstern weit verbreitet war, kategorisch ablehnte" (dradio.de, 2.10.2012). Stattdessen plädierte sie für eine "vernünftige" Enthaltsamkeit, und kritisierte in diesem Zusammenhang auch überlange Gebete. Dass die berechtigte Kritik Hildegards damals also auch bestimmte "katharische" Urchristen betraf, nimmt die heutige Kirche nun zum Anlass, um aus Hildegard eine katholische Inquisitorin zu machen – ein schlimmer Missbrauch.

Der "heilige" Bernhard ruft zum Völkermord
 gegen die Katharer auf

"So also, meine Teuren, verfolgt sie, ergreift sie und zögert nicht, sie alle umkommen zu lassen!"

(Bernhard von Clairvaux, Heiliger und Völkermörder, zit. nach Walter Nigg, Das Buch der Ketzer, Zürich 1986, S. 226)

Bernhard gab die Mordbefehle, obwohl er zugab, "dass es nichts Christlicheres gebe als diese Häretiker; was ihre Unterhaltung angehe, so könne nichts Tadelnswertes gefunden werden, und mit ihren Worten stimmten auch ihre Taten überein. Was die Sittlichkeit der Ketzer anbelange, so betrügen und bedrückten sie keinen, ihre Wangen seien bleich vom Fasten, und mit ihren Händen arbeiteten sie für ihren Lebensunterhalt". (zit. nach Nigg, S. 226)

Aber die Katharer unterwarfen sich nicht dem Papst und dem katholischen Dogma. Als die Hinrichtungen im 12. Jahrhundert diese urchristliche Bewegung nicht stoppen konnte, befahl Papst Innozenz III. im Jahr 1209 ihre gnadenlose Ausrottung durch einen Kreuzzug, was schon Bernhard von Clairvaux angeregt hatte. Die letzten noch überlebenden Katharer ließ die Kirche schließlich durch lebendiges Einmauern ermorden. Auch Hildegard von Bingen wäre ermordet worden, wenn es ihr nicht gelungen wäre, sich irgendwie innerhalb der katholischen Diktatur zu halten bzw. wenn sie nicht einen göttlichen Schutz gehabt hätte.


Bei ihrem Kontakt mit dem "heiligen" Kreuzzugsprediger, Kirchenlehrer und Christenverfolger, dem Katharer-Jäger Bernhard von Clairvaux, ist in der Forschung zudem umstritten, wer zuerst den Kontakt zum anderen suchte. Hildegard schrieb, die Initiative ging von Bernhard von Clairvaux aus, und so wird es wohl gewesen sein. Sicher ist allerdings, dass der kirchlich hoch angesehene Gewaltanstifter die Pläne Hildegards zur Gründung eines eigenen Klosters nicht unterstützte, obwohl ihn Hildegard darum gebeten hatte. Zur Verdeutlichung: Abt Kuno und die Benediktiner-Mönche vom Kloster Disibodenberg, dem sie ursprünglich angehörte, wollten einen Auszug der Nonnen um Hildegard mit aller Kraft verhindern. Schließlich soll es Hildegards Einfluss auf den selig gesprochenen Kreuzzugs-Papst Eugen III. zu verdanken gewesen sein, dass ihr schließlich doch ein eigenes Kloster, nämlich Rupertsberg bei Bingen, genehmigt wurde. Später kam noch Eibingen bei Rüdesheim auf der anderen Rheinseite hinzu, wo die römisch-katholische Kirche heute ihr Skelett als Reliquie verehrt – eine weitere Vereinnahmung – hier durch den Moder-Kult der Kirche –, die für Hildegard selbst ein Gräuel gewesen wäre.

Die Traumatisierung Hildegards und Kritik von asketischen Zeitgenossen

Zu ihren Lebzeiten übte Hildegard von Bingen auf alle Persönlichkeitskreise, mit denen sie in Berührung stand, eine starke Anziehungskraft aus. Dass Hildegards Kritik an der strengen Askese auch auf eine Traumatisierung durch die Kirche in ihrer Jugend zurück geht, bleibt dabei oft unerwähnt. Als zehntes Kind der Eheleute Hildebrecht und Mechtild von Bermersheim wurde Hildegard nämlich auf Druck der Kirche (den "Zehnten" an "Gott" geben) speziell an "Gott" geweiht, und sie wurde im Jahr 1112 mit 13 oder 14 Jahren zusammen mit der acht Jahre älteren Jutta von Sponheim jahrelang in eine eiskalte Klosterzelle im Benediktiner-Kloster Disibodenberg eingemauert, wo ihr nur durch ein schmales Fenster Nahrung gereicht wurde. Solche menschenfeindlichen Methoden haben jedoch mit der Schöpfungsordnung Gottes nichts zu tun. Sie verhindern nur, dass eine Persönlichkeit im gesellschaftlichen Leben durch den Umgang mit anderen Menschen und auch in einer Umgebung mit Tieren und Pflanzen sich selbst kennen lernen und aus ihren Fehlern lernen und reifen kann. Und diese Art von kirchlicher "Erziehung" kann auch religiöse Wahnvorstellungen oder den Hochmut fördern, etwas Besonderes zu sein, oder sie kann eben einen Menschen auch völlig zerstören.
Und wenn in einer solchen Gefangenschaft eine Person trotzdem reift, dann – wie bei Hildegard von Bingen –
dank einer "starken Seele" oder dank einer innigen Verbindung zu Gott im eigenen Inneren, aber nicht durch die folterähnlichen Quälereien selbst.

In späteren Jahren wird Hildegard vorgeworfen, anfangs nur vornehme Aristokratinnen in ihren Orden auf dem Rupertsberg aufgenommen zu haben, was als eine weitere Distanzierung von den unfreiwilligen asketischen Qualen ihrer Jugend verstanden werden kann. Und auf diese Weise gewann sie natürlich auch an Einfluss in Adelskreisen, und das Vermögen ihres Klosters ist auf diese Weise auch gewachsen. Doch hat sie damit nicht gegen das urchristliche Prinzip der Gleichheit verstoßen? Das wäre dann allerdings ein inhaltlicher Widerspruch zu den Katharern gewesen, bei denen die Gleichheit galt. Doch bei Hildegard standen wohl andere Motive dahinter. Hildegard von Bingen ging offenbar von einer besonderen Aufgabe des Adels bei der Erneuerung der damaligen Gesellschaft aus, was der Grund für ihre anfänglichen Auswahlkriterien sein konnten. Auch war ihr – im Gegensatz zu den erzwungenen Kasteiungen und dem Trauma ihrer Jugend – immer an einem stilvollen Lebensniveau auch im Kloster gelegen, denn schließlich heißt es ja im Vaterunser-Gebet "Wie im Himmel, so auf Erden", was ihr den neidvollen Vorwurf einbrachte, sich "Luxus" zu gönnen. Ihre anfänglichen Auswahlkriterien können ihr aber auch schlicht in den Visionen nahe gelegt worden sein, und sie haben wohl überwiegend pragmatische Gründe gehabt. Denn bei jemandem, der immer in Gefahr stand, als "Ketzerin" verfolgt zu werden, kann es überlebensnotwendige Klugheit sein, um der Sache willen einflussreiche Verbündeten oder Sympathisanten zu haben. Dies hat dann aber nichts mit einer Abwertung von Frauen aus niedrigeren Gesellschaftsschichten zu tun. Und so wurden dann in das zweite von ihr gegründete Kloster in Eibingen auch Frauen aller gesellschaftlicher Schichten aufgenommen.

Ein weiterer Unterschied zu den Katharern ist folgender: Während diese in der Nachfolge von Jesus das Gebot "Du sollst nicht töten" auch gegenüber Tieren hielten, Vegetarier waren und auch keine Fische töten ließen (da auch diese empfindsame Wesen sind), soll Hildegard von Bingen in ihrem Kloster Fisch als weitere Speise bei den Hauptmahlzeiten eingeführt haben. Hier spielt jedoch auch eine Rolle, dass sie anstelle der fanatischen asketischen Verdrängungspraktiken im damaligen Christentum einen schrittweisen Weg der allmählichen Verfeinerung der Sinne aufzeigte und auch lebte. Denn sowohl bei der Sexualität als auch bei den Essgewohnheiten entladen sich verdrängte Triebe nicht selten irgendwann in Exzessen. Oder es wird ein scheinheiliges Doppelleben gepflegt, was Hildegard ja bei strengen Bußpredigern innerhalb und außerhalb der Kirche feststellte. Wer jedoch seine Gedanken und Gefühle mehr und mehr mit der Gotteskraft verbindet, bei dem tritt eine allmähliche Veredlung des Lebens ein – hin zu einer größeren inneren Freiheit und zu einer höheren Moral, die dann auch Hand und Fuß hat. So kann es also sinnvoller sein, eben noch einmal gelegentlich bewusst Fisch zu essen, wenn die groben Geschmackssinne noch nach Fisch oder Fleisch verlangen als sich etwas zu versagen und darauf hin in Frustration zu verfallen, weil man es sich versagt hat. Für den, der sich um der Tiere willen vegetarisch ernährt, waren hier also die Katharer Hildegard von Bingen – falls ihre Ernährungslehre hier nicht auch gefälscht ist – einen Schritt voraus. 

Hildegard entlarvt die Kirchenführer

In all´ dem war Hildegard von Bingen ihren Zeitgenossen weit überlegen, was vor allem gegenüber der bornierten und meist geistlosen katholischen Priesterschaft galt. Und wenn Papst Benedikt XVI. nun in unserer Zeit versuchte, Hildegard von Bingen in ihrem Reden und Tun als eine besonders gehorsame Tochter der Kirche hinzustellen, sozusagen als Vorbild für alle anderen, ist das nicht nur irreführend. Er stellt damit die Tatsachen auf den Kopf. Denn Fakt ist: Hildegard von Bingen hatte zu ihrer Zeit überhaupt keine andere Wahl, als sich gerade noch innerhalb der Kirche zu bewegen, wenn sie überhaupt eine Chance haben wollte, Gehör zu finden und die ihr aus der geistigen Welt anvertrauten Offenbarungen und Visionen bekannt zu machen. Dies war zu ihrer Zeit nur innerhalb der Mauern eines Klosters überhaupt denkbar und möglich. Während sie Äbtissin war, wurden vor ihren Augen, etwa in Köln, bereits urchristliche Katharer als so genannte "Häretiker" auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Jede offene Sympathie mit ihnen hätte ihr bald das gleiche Schicksal bereiten können. Und auch sie musste sich inquisitorischen Prüfungen unterziehen, inwieweit ihre Aussagen der Kirchenlehre entsprachen. Sie überstand diese Prüfung dann mit Weisheit, Glück, göttlichem Beistand und dank der Hilfe mächtiger Fürsprecher in Politik und Kirche (u. a. Kaiser Barbarossa). Denn es gab auch Kirchenvertreter wie der spätere Erzbischof von Canterbury, der sie für eine listige Gesandte des Teufels hielt, wie oben bereits geschildert. Als Frau, die öffentlich auftrat und Bücher schrieb, was damals völlig unüblich war, hatte sie sich ohnehin schon sehr weit vorgewagt. Sie führte also ein sehr gefährliches Leben auf des Messers Schneide.

Wie sie wirklich über die Kirchenvertreter dachte, das sieht man daran, was sie ihnen alles vorhielt.

"Eure Zungen aber sind stumm ... Ihr seid Nacht, die Finsternis aushaucht, und wie ein Volk, das nicht arbeitet und aus Trägheit nicht im Licht wandelt. Wie eine nackte Schlange sich in ihre Höhle verkriecht, so begebt ihr euch in den Gestank niederen Viehes ... was immer euer Fleisch verlangt, das tut ihr ... Der Teufel sagt sich bei euch: ´Speisen zum Fressen und was ich nur an Schmausereien will, das finde ich bei ihnen. Auch meine Augen, meine Ohren, mein Bauch und meine Adern sind von ihrem Geifer erfüllt und meine Brust ist voll von ihren Lastern." (zit. nach Helene M. Kastinger Riley, Hildegard von Bingen. Hamburg 1997 [= rowolths monographien, Bd. 50469], S. 47 f.)

Und gemäß anderer Quellenangabe sagte sie zu den Hirten der Kirche, dass sie "feuerspeiende Nacht sind und nicht Tag", die "ihr Volk hungern lassen", weil sie zu träge seien, das Wort Gottes zu verkündigen (zit. nach Hildegard von Bingen, Wisse die Wege, Scivias, 6. Auflage, Salzburg 1975, S. 285)

"Es klingt wie eine Prophezeiung der Reformation, wenn Hildegard sagt, das irrende Volk werde diese verdorbene Kirche zur Rechenschaft ziehen."
(Helene M. Kastinger Riley, a.a.O., S. 47 f.)

"Es [das Volk] wird über euch herfallen, um euch zu stürzen, die ihr die Pflicht verletzt und das Gesetz übertretet. Es wird euch überall verfolgen und eure Werke nicht verbergen. Nein, es wird sie aufdecken und von euch sagen: ´Skorpione sind sie in ihren Sitten und Schlangen in ihren Werken.`" (zit. nach Helene M. Kastinger Riley, a.a.O., S. 47 f.)

"Alle Propheten haben eher ihr Leben gegeben als ihren höheren Auftrag vernachlässigt. Und ihr, Unsinnige, häuft euch für die Zukunft unermessliche Qualen auf, um jetzt eure Ruhe ungestört zu bewahren ... Geiz, Reichtum, Vergnügen, in diesem Zeichen steht euer Leben."
(Hildegard von Bingen, Wisse die Wege, Scivias, Otto-Müller-Verlag Salzburg, 6. Auflage 1975)

"Die Magister und Prälaten haben die Gerechtigkeit Gottes verlassen und schlafen." (zit. nach welt.de, 7.10.2012)

Über die katholische Priester und den Klerus: "Warum schämt ihr euch nicht; während doch alle anderen Kreaturen die Vorschriften, die sie von ihrem Meister haben, nicht vernachlässigen, sondern erfüllen!" (zit. nach sueddeutsche.de, 7.10.2012)


Zu den Priestern sagte sie weiter: "Wie lange noch werden wir diese räuberischen Wölfe erdulden und ertragen? ... Die Kirchen verkünden nicht mehr, was richtig ist und unterhöhlen das Gesetz, so wie Wölfe Schafe verschlingen, weil sie mehr Verführer als Lehrer sind." (Welt und Mensch, Vision 10)

Dem Bischof Hartwig II. von Bremen warf Hildegard von Bingen vor: "Viele Hirten sind in dieser Zeit Blinde, Lahme und Räuber des Geldes." (zit. nach Gisbert Kranz, Herausgefordert von ihrer Zeit. Sechs Frauenleben. Verlag Friedrich Pustet, Regensburg 1976)

An den damaligen Papst Anastasius IV. (1153-1154), den Nachfolger von Eugen III. (1145-1153) richtete Hildegard von Bingen sogar folgende Worte: "Du, o Mensch, der du auf dem päpstlichen Thron sitzest, bist ein Gottesverächter" (zit. nach Gisbert Kranz, Herausgefordert von ihrer Zeit. Sechs Frauenleben. Verlag Friedrich Pustet, Regensburg 1976). Einen "Stellvertreter Gottes" hat Hildegard diesen Worten zufolge im Papst also
nicht gesehen, sondern eben einen "Gottesverächter".

Und im Hinblick auf die Romkirche "am Ende der Zeit" schrieb sie: "O Rom, es ist, als lägst du in den letzten Zügen. Die Kraft deiner Füße, auf denen du gestanden hast, schwindet dahin ... Die Kirche hat den Stand der Gerechtigkeit verlassen. Der Nordwind stürmt über die Kirche, reißt ihr die Krone vom Haupt und zerfetzt ihre Gewänder, so dass die Häupter der Geistlichkeit fallen."

"Der Geist spricht nämlich zur Kirche über die Zeit des letzten Irrtums. Denn der Tod rennt gegen die Kirche zu derselben Stunde an, da am Ende der Zeiten der verfluchte Lästerer kommt. Er ist der Fluch der Flüche, wie mein Sohn im im Evangelium über die Stadt des schlimmsten Irrtums bezeugt und spricht." (Scivias, 11. Vision des 3. Teils, Absatz 20)

"Die Kirche wird wegen ihrer Verbrechen vertrocknen ... und sie, die Ärzte sein sollen, sind es nicht." (Liber divinorum operum, 10. Vision, zit. nach st-hildegard.com)

Aber diese Inhalte der Lehre Hildegards werden in der Kirche meist verschwiegen. Wenn nun aber seit dem Jahr 2012 auch Hildegard von Bingen eine "Kirchenlehrerin" ist man müsste sagen: mutwillig und zur Täuschung der Menschen zur "Kirchenlehrerin" herunter gestuft wurde , warum folgt dann die Kirche nicht der Lehre, die durch sie offenbart wurde? Und warum gibt man dann z. B. nicht zu, dass man Gott auch im Glück und im Leid der Tiere erfahren könne, in der All-Einheit von Mikrokosmos und Makrokosmos, die Hildegard erfahren hat? Und warum segnet man stattdessen weiter Schlachthöfe, Tierversuchszentren und Treibjagden?

Im letzten Jahr vor ihrem Tod eskalierte der Konflikt von Hildegard von Bingen mit der Amtskirche, als sie einen von der Kirche exkommunizierten und damit in eine angeblich ewige Hölle verdammten jungen Adligen auf dem Klostergelände beerdigen ließ. Zwar wurde der Mann durch den Empfang der katholischen Sakramente kurz vor seinem Tod automatisch wieder in die Kirche aufgenommen, die Exkommunikation wurde aber kirchenoffiziell nicht zurück genommen. Deswegen verlangten der Bischof von Mainz und das Mainzer Domkapitel die sofortige Entfernung der Leiche vom kirchlichen Grundstück. Doch Hildegard von Bingen weigerte sich und machte das Grab unkenntlich, um eine gewaltsame Exhumierung durch die Häscher der Kirche zu verhindern. Darauf hin verhängte die Exzellenz aus Mainz das "Interdikt", was bedeutet: Gottesdienstverbot und Verweigerung der katholischen Sakramente (vor allem der Hostie) für Hildegard von Bingen, wodurch auch sie aus kirchlicher Sicht in Richtung Hölle geschickt worden ist. Erst nachdem sich Hildegard auch mit dieser Maßnahme nicht erpressen ließ, gab der Erzbischof auf und nahm sie wieder vollumfänglich in die Kirche auf.

Insofern ist es in Wahrheit absurd, wenn man Hildegard nun im Jahr 2012 nachträglich zur kirchlichen Heiligen ernannte – sie, eine Mahnerin, die von der Kirche auch in den nachfolgenden Jahrhunderten nach ihrem irdischen Leben missachtet wurde. In welche Gesellschaft man ihr Andenken auf diese Weise hinunter gezogen hat, darüber schreibt der französische Aufklärer Helvetius im 18. Jahrhundert folgendes: "Liest man ihre Heiligenlegenden, so findet man die Namen von tausend heiliggesprochenen Verbrechern!" (zit. nach deschner.info)
In dieser Gesellschaft hat Hildegard von Bingen nichts verloren.

Hildegard von Bingen kann sich nicht mehr wehren

Jesus von Nazareth jedenfalls hat keine Kirchenheiligen ernannt, im Gegenteil. Er sagte sinngemäß: "Nur Einer ist heilig, euer Vater im Himmel". Und wenn Er laut Johannesevangelium vom "Heiligen Vater" sprach (17, 11), dann meinte Er damit keinen späteren Papst, sondern Gott. Wehren kann sich Hildegard gegen eine solche Vereinnahmung als "Heilige" leider nicht mehr, auch nicht gegen die Herabwürdigung als "Kirchenlehrerin" – was umso schlimmer ist, weil sie dann auch in einem Atemzug genannt wird mit anderen so genannten "Kirchenlehrern" wie Augustinus, der den "gerechten Krieg" und die angeblich "ewige Verdammnis" erfand. Der "heilige" Augustinus hat die Folter und Ermordung von Nicht-Katholiken in seinem kaum fassbaren Zynismus auch damit gerechtfertigt, das sei im Vergleich zur ewigen Hölle, die ihnen ohnehin gewiss sei, so wörtlich, eine "Kur für die Seele". Oder Hildegard von Bingen wird jetzt in eine Reihe gestellt mit Thomas von Aquin, der Frauen, wie bereits oben dargelegt, für minderwertige Geschöpfe hielt, die aus "schlechten Winden" entstanden seien, und der auch lehrte, das Tiere vernunftlos seien, weswegen es letztlich keine Rolle spiele, ob man sie gut oder schlecht behandle. Welch eine Diskrepanz zu Hildegard!

Hildegard von Bingen kann sich gegen das kirchliche Brimborium um ihre Person nicht wehren, auch nicht gegen die Bezeichnung, die ihr Papst Ratzinger am Pfingstsonntag 2012 obendrein noch verpasste. Er nannte sie nämlich eine "Meisterin der Theologie" (welt.de, 5.10.2012). Wenn man sich anschaut, was diese Frau alles gegen die Theologen ihrer Zeit gesagt und geschrieben hat, einschließlich von Päpsten, so kann man eine solche Betitelung nur als Hohn bezeichnen. Und das ausgerechnet am Pfingstsonntag, der die Ausgießung des "Heiligen Geistes" symbolisiert. Doch vom "Heiligen Geist", dem freien Christus-Gottes-Geist, wird auch gesagt, dass Er zu allen Zeiten geweht hat und weht, wo Er will. Deshalb sind viele Menschen davon überzeugt: Gott hat also zu allen Zeiten durch Prophetinnen und Propheten gesprochen, um den Menschen mitzuteilen, was Sein Wille ist. Und wenn man nun die Gottesbotin Hildegard von Bingen zu einer kirchlichen "Heiligen", zu einer "Kirchenlehrerin", ja sogar zu einer "Theologin" ernennt, dann degradiert man sie in Wirklichkeit.

Und weshalb tut die Kirche das? Warum musste für die Vatikankirche also aus der Gottesprophetin Hildegard eine "Kirchenlehrerin" werden, so wie auch aus den Gottesprophetinnen Theresa von Àvila oder Katharina von Siena? Wir können es zum Abschluss dieser Untersuchung nur noch einmal wiederholen: Weil die Botschaft Gottes immer anders lautete, als die Priester es wollten. Infolgedessen haben die Priester die Gottesbotschaft später verfälscht, diese Fälschung in ihre Satzungen eingebunden und somit die Gottesprophetinnen, die gegen das Treiben der Priestermänner auftraten, als "Kirchenlehrerinnen" in ihr Korsett integriert, damit dieses in seiner ganzen Falschheit und Verlogenheit wieder "passt".

Der geistige Kampf der Gottesboten gegen die Priesterkaste währt bereits sehr lange. Er begann schon zu Zeiten des Alten Bundes, als die großen Gottespropheten wie Jesaja, Jeremia oder Hosea gegen die damalige Priesterschaft aufstanden und gegen deren blutige Tieropfer protestierten. Gott lässt sich von der Kirche und den Religionsoberen nicht den Mund verbieten, bis heute nicht. Auch wenn Kardinäle oder Päpste noch so oft den gegenteiligen Anschein zu erwecken versuchen und sich selbst zu Richtern über Visionen und Offenbarungen aus dem Gottesgeist, dem Freien Geist, erheben.

Doch bis heute gilt: Gott braucht keine selbsternannten Vermittler, um den Menschen und Seiner Schöpfung nahe zu kommen, und Er ist auch nicht kirchlichen Satzungen und Dogmen, gleich welcher Art, unterworfen. Denn Er, der Freie Geist, weht, wo sich jemand für ein Leben nach den Geboten Gottes entscheidet, auch heute.  



 


Der Text  kann wie folgt zitiert werden
:
Zeitschrift "Der Theologe", Hrsg. Dieter Potzel, Ausgabe Nr. 64: Hildegard von Bingen – eine Prophetin, zur "Kirchenlehrerin" degradiert, Wertheim 2012, zit. nach theologe.de/hildegard-von-bingen.htm, Fassung vom 23.12.2024,
Copyright © und Impressum siehe hier.
 


 

Links:

Der Theologe Nr. 9 – Todesfalle Kirche: Warum musste Anneliese Michel sterben?

Der Theologe Nr. 30 – Die "heilige" Elisabeth von Thüringen und ihr Gebieter Konrad von Marburg

Der Theologe Nr. 94 – Was steckt hinter der "Maske" von Mutter Teresa?

Artikel über die Heilkunde der so genannten "Hildegard-Medizin" focus.de. Dort wird diese in einem Zitat als "einzige christliche Heilkunde" beschrieben, was allerdings so nicht stimmt. Eine vielfach vergleichbare und noch umfassendere Heilkunde in unserer Zeit auf christlicher Grundlage siehe in den Publikationen des Gabriele-Verlages Das Wort. Nähere Informationen bei www.gabriele-verlag.de
 

 

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