"Haben sie mich verfolgt, so werden sie auch euch verfolgen." (Jesus von Nazareth)
Der Theologe Nr. 86, aktualisiert am 30.6.2022
"Die Kirche hat kraft ihrer
göttlichen Einsetzung die Pflicht, auf das gewissenhafteste das Gut des
göttlichen Glaubens unversehrt und vollkommen zu bewahren und beständig
mit größtem Eifer über das Heil der Seelen zu wachen. Deshalb muss sie
mit peinlicher Sorgfalt alles entfernen und ausmerzen, was gegen den
Glauben ist oder dem Seelenheil irgendwie schaden könnte. Somit kommt
der Kirche aus der ihr vom göttlichen Urheber übertragenen
Machtvollkommenheit nicht nur das Recht zu, sondern sogar die Pflicht,
gleich welche Irrlehren nicht nur nicht zu dulden, sondern vielmehr zu
verbieten und zu verurteilen, wenn das die Unversehrtheit des Glaubens
und das Heil der Seelen fordern."
(Aus: Josef Neuner, Heinrich Roos, Der Glaube der Kirche in den Urkunden
der Lehrverkündigung (offizielles Lehrbuch mit bis heute gültigen
Dogmen und kirchlich verbindlichen Glaubenssätzen der römisch-katholischen Kirche), 13. Auflage, Regensburg
1992, Glaubenssatz Nr. 382)
Weshalb
musste Jesus von Nazareth sterben? Wer hat Seinen Tod veranlasst? Es waren
keineswegs "die Juden", wie es Kirchenführer in allen Jahrhunderten in
antisemitischen Hetzreden dem Kirchenvolk einhämmerten.
2 Jesus war
schließlich selbst ein Jude. Es war eine kleine Schicht von
Schriftgelehrten, die in dem Mann aus Nazareth eine Bedrohung für ihre Macht
sahen. Dieser Wanderprediger hatte großen Zulauf – und Er verkündete den
Freien Geist und einen inneren Weg zu Gott, der die Lehre aller wahren
Gottespropheten Israels nicht aufhob, sondern sie im Gegenteil neu belebte: "Denkt
nicht, ich sei gekommen, um das Gesetz und die Propheten aufzuheben. Ich bin
nicht gekommen, um aufzuheben, sondern um zu erfüllen" (Mt 5, 17). Jesus
meinte damit aber nicht die kleinliche Beachtung eines äußeren
Buchstabengesetzes, sondern Er meinte die absoluten Gesetze des Reiches Gottes, wie sie
vor Ihm bereits in mannigfacher Weise in den Aussagen der großen Gottespropheten des Volkes
Israel zum Ausdruck gekommen sind – auch wenn diese Aussagen in der Bibel vielfach
überlagert und durchsetzt sind mit massiven Verfälschungen und Beimischungen anderer Art, etwa durch
das, was in der wissenschaftlichen Textkritik als "Priesterschrift"
bezeichnet wird.
Jesus von Nazareth wurde zu einer Bedrohung für die Macht der Schriftgelehrten, der
Theologen, weil Er
die Missstände im Tempel offen legte, weil Er lehrte, dass jeder Mensch
selbst der Tempel Gottes sei, das "Reich Gottes" in uns, und weil Er das Auseinanderklaffen von
göttlicher Botschaft und priesterlicher Machtentfaltung bloßstellte. Er
griff die Pharisäer und Schriftgelehrten offen an, bezeichnete sie als "übertünchte Gräber", als
"blinde Blindenführer", als "Schlangen- und Natternbrut". Er trieb die
Händler aus dem Tempel, die dort Opfertiere zum Kauf feilboten, obwohl doch
Gott durch alle Seine Propheten die Tieropfer abgelehnt hatte: "Die Widder, die
ihr als Opfer verbrennt, und das Fett eurer Rinder habe ich satt; das Blut
der Stiere, der Lämmer und Böcke ist mir zuwider" (Jes 1, 11).
3 Vor allem
aber: Er zeigte in der Bergpredigt den Weg zu einem friedlichen Miteinander
der Menschen auf, das ohne äußere Kirche und ohne Priesterkaste auskommt.
Sehr bald schon trachteten bestimmte Tempelkreise Jesus nach dem Leben: "Da
suchten die Hohepriester und der Hohe Rat falsches Zeugnis gegen Jesus, um
ihn zu Tode zu bringen." Doch Israel war ein besetztes Land; selbst die
religiöse Elite hatte nicht die Macht, ein
Todesurteil zu verkünden und zu
vollstrecken. Um den Anführer der "Sekte des Nazareners" zur Strecke zu
bringen, musste man den römischen Statthalter dazu bringen, einen Justizmord
zu begehen.
So ist es zu erklären, dass die Anführer des Hohen Rates je nach Adressat
zwei
verschiedene Beschuldigungen gegen den bei Nacht und Nebel verhafteten
Jesus vorbrachten: Vor dem Hohen Rat selbst behaupteten sie, Er habe Gott
gelästert. Vor dem römischen Statthalter Pilatus jedoch sprachen sie davon,
dass der Nazarener im Begriffe sei, das Volk gegen die Römer aufzuhetzen.
Intern und gegenüber dem gläubigen Volk argumentiert die Priesterkaste also gegen
Jesus und später gegen die so genannten Sekten "theologisch" und
gleichzeitig verächtlich machend – sie verleumden Jesus als Fresser und
Säufer, Freund der Zöllner, Scharlatan, falschen
Propheten, Gotteslästerer,
Er stehe mit dem Teufel im Bunde. Gegenüber der staatlichen Obrigkeit jedoch
zieht man andere Register der Verleumdung: Jesus und Seine Anhänger seien
Staatsfeinde, Aufrührer, gefährliche Umstürzler. Diese Vorgehensweise hatte
für die Machtkirche seither Modellcharakter für die nächsten zweitausend Jahre
bei der Verfolgung der Nachfolger Jesu.
Denn die Rechung im Kampf gegen Jesus von Nazareth ging auf. So, wie die Priester und Schriftgelehrten immer
wieder in der Geschichte Israels die großen Gottespropheten verleumdeten,
verfolgten und zum Teil töteten – etwa Jesaja, der im hohen Altar von den
Schergen des Königs zersägt wurde, als er sich in einem hohlen Baum
versteckt hatte –, so erreichten sie nun das
Todesurteil gegen den größten Gottespropheten der Menschheit ...
Doch das Ende der Bewegung erreichten sie nicht. Im Gegenteil: Der Glaube an
den auferstandenen Christus verbreitete sich rasch unter Hebräern und
Griechen. Diese "neue religiöse Glaubensgemeinschaft" sah jedoch ganz anders
aus als die heutigen großen Kirchen. Diese Tatsache ist von entscheidender
Bedeutung, wenn man den nachfolgenden Kampf zwischen Kirche und "Sekten" in
seiner geistesgeschichtlichen Tiefendimension verstehen will.
Der russische
Historiker Grigulevic, als Marxist jeglicher Parteinahme in Sachen Religion
unverdächtig, stellt in seinem Buch über die Inquisition fest: "Die Kirche
verband ihr Schicksal mit dem der Ausbeuterklassen der Gesellschaft und
deren Staat und verwarf damit den Traum der Urchristen von der Errichtung
eines ´Gottesreiches auf Erden`."
5 Sieht man einmal davon ab, dass man den
geistigen Kampf zwischen kirchlicher Hierarchie und "Ketzern" nicht auf den
– sicherlich nicht unbedeutsamen – materiellen Aspekt der sozialen
Ungleichheit beschränken sollte, so ist doch auffallend, mit welchem
Scharfblick ein nicht-religiöser Historiker den roten Faden findet, der sich
durch diese
Auseinandersetzung zieht: Es ist der immer wiederkehrende
Aufruf, zu den Wurzeln "des frühen Christentums zurückzukehren"
6, der stets
aufs Neue die erbitterte Feindschaft der etablierten Kirche hervorrief
und hervorruft.
Offenbar lebte in den nachfolgenden Generationen ungeachtet allen Terrors,
aller Bücherverbrennungen 7 die Erinnerung fort, dass die ersten
Christen diesem Traum von der "Errichtung des Gottesreiches auf Erden" trotz aller
menschlichen Unzulänglichkeiten ein ganzes Stück nahe gekommen waren.
Schon beim aufmerksamen Lesen der Bibel kann man
erkennen, dass die Institution Kirche anders lebt, als der Nazarener und
Seine unmittelbaren Jünger es vorlebten – deshalb war die selbstständige
Lektüre der Bibel den Gläubigen auch über viele
Jahrhunderte hinweg verboten. Uns Menschen des
beginnenden 21. Jahrhunderts steht darüber hinaus ein Schrifttum zur
Verfügung, das neues Licht auf das frühe Christentum wirft.
Selbst katholische Theologen wie Rupert Lay oder Herbert Haag
8 stellen
fest, dass Jesus von Nazareth weder eine hierarchische Kirche noch Priester als sogenannte Heilsvermittler zwischen Gott und den Menschen einsetzte. Die
frühen urchristlichen Gemeinden waren, wie wir heute sagen würden,
"basisdemokratisch" organisiert. Den Ton gaben, wie in den Paulusbriefen
nachzulesen ist, Menschen mit natürlicher Autorität an: "Propheten", "Heiler" und
"Lehrer", die über bestimmte "Geistesgaben" verfügten. Frauen
waren in allen Belangen gleichberechtigt.
10 Geld und Macht spielten keine
Rolle, denn man teilte den Besitz und half mit dem Überschuss der
gemeinsamen Arbeit den Armen. Soldaten und auch Jäger konnten nicht
Mitglieder der Gemeinden werden, denn die ersten Christen achteten die Zehn
Gebote, wozu auch gehört: Du sollst nicht töten. Viele von ihnen waren
nachweislich Vegetarier, so etwa Jakobus, der Bruder des Jesus, der nach
dessen Tod die Urgemeinde in Jerusalem leitete, aber auch die so genannten Ebioniten und
Nazoräer, zwei wichtige Strömungen innerhalb des frühen Christentums.
11 Zu
den Glaubensüberzeugungen, die in der Lehre des führenden
frühchristlichen
Theologen Origenes (185-253) eine Hauptrolle spielten, gehören die Existenz
der Seele vor der Zeugung des Menschen, die Wiederherstellung aller Dinge in
ihrer ursprünglichen Vollkommenheit (also das Gegenteil der von der Kirche
erfundenen angeblichen ewigen
Verdammnis) sowie die Wiederverkörperung der Seele.
12
Das Urchristentum in Reinform gab es allerdings auch damals nicht. Von
Anfang an gab es Richtungskämpfe und Meinungsunterschiede. Paulus etwa (der
Jesus nicht persönlich kennen gelernt hatte) war der
Auffassung, die Frau
solle in der Gemeinde schweigen, man solle der Obrigkeit untertan sein und
man könne ohne Gewissensbisse alles verzehren, "was auf dem Fleischmarkt
angeboten wird" (1 Kor 10, 25). Die zeitweilig harte Verfolgung durch die
römische Staatsmacht führte dazu, dass Kompromisse gemacht wurden. Um
möglichst viele Heiden zum Eintritt in die neue Religion zu bewegen, kam man
den Glaubensanschauungen der Menschen entgegen, indem man z. B. Jesus
teilweise einfach
mit Gott gleichsetzte oder indem man Zeremonien und Rituale aus antiken
Mysterienkulten übernahm.
Unter den vielen Projektionen eigener Fehler, die die Kirche den "Sekten"
anzuhängen pflegt (wir werden noch darauf zu sprechen kommen), gehört der
Vorwurf des "Synkretismus" (der Religionsvermischung) zu den dreistesten.
Denn kaum eine Religion hat so viele Elemente anderer Glaubensrichtungen
vereinnahmt und schamlos eingebaut wie die im Laufe der ersten
nachchristlichen Jahrhunderte entstehende sogenannte christliche Kirche:
Priester, Messgewänder, Altar, Weihwasser, Ministranten, Weihrauch,
Wandlungsgebete, Heiligen- und Muttergottesverehrung samt spezieller
Feiertage, Wallfahrten ..., all dies sind keine Elemente einer
frühchristlichen Frömmigkeit, sondern sie stammen allesamt aus den damals
populären Mysterienkulten. 13 Ist es da übertrieben, festzustellen, dass die
katholische Religion ebenfalls eine heidnische Mysterienreligion ist – mit
christlichem Mäntelchen?
Der französische Theologe Alfred Loisy (1857-1940),
der als einer der ersten diesen umfangreichen Transfer von Ritualen und
Gebräuchen aus dem Heidentum ins Scheinchristentum herausarbeitete und der
1908 von seiner Kirche exkommuniziert wurde, traf den Nagel auf den Kopf,
als er sagte: "Jesus verkündete das Reich Gottes, und gekommen ist die
Kirche."
Der Niedergang vom Bewusstsein Gottes als dem Freien Geist, dem Leben in
allen Lebensformen, dem liebenden Vater-Mutter-Gott hin zu einer äußeren
Zeremonienreligion vollzog sich im Wesentlichen schon während des ersten und
zweiten Jahrhunderts bis etwa um das Jahr 180, und er setzte sich im
dritten nachchristlichen Jahrhunderts massiv fort:
Aus einem gemeinsamen Gastmahl (der "agape") wurde eine rituelle Messfeier. Aus der feierlichen Aufnahme in die
Gemeinschaft der Gläubigen wurde die Wassertaufe von Säuglingen. Aus einem
ehrlichen Schuldbekenntnis vor der Gemeinschaft wurde die von Priestern
vollzogene Ohrenbeichte.
Gleichzeitig baute sich ein Machtgefüge auf: Die
äußeren Organisatoren der Gemeinde, die Verwalter der Kasse und der Vorräte
– Priester und Bischöfe (von griech. episkopus, der Aufseher) genannt –
setzten sich an die Spitze. Es bildete sich eine Hierarchie heraus, die
nicht nur Macht ausübte, sondern sich für ihre Funktion auch bezahlen ließ.
Im dritten Jahrhundert verblieb ein Viertel der Einkünfte einer Diözese beim
Bischof, ein Viertel erhielten die Priester, ein Viertel diente zum Erhalt
und Neubau der
Kirchengebäude – und ein Viertel verblieb den Armen. "Der Bischof
bekam also allein so viel wie sein ganzer Klerus oder seine sämtlichen Armen
zusammen", schreibt Karlheinz Deschner.
14 Und der ehemalige Theologieprofessor Horst Herrmann kommentiert:
"Dieses Prinzip hat sich in der Geschichte wacker bewährt: 75 Prozent für
Kircheneigenes, 25 Prozent für andere. Noch heute ist es nicht überwunden."
15 Im Gegenteil, die Gewichte haben sich weiter verschoben: Nur etwa 8 % der
Kirchensteuereinnahmen beider Großkirchen fließen heute öffentlich-sozialen
Zwecken zu.
Über die Bischöfe, die "Episkopoi", schreibt
Horst Herrmann:
"Die Zeit arbeitete von Anfang an für die Bischöfe, für die Aufseher über
das Geld aller – und später auch für die Aufpasser über die wahren Worte."
16 Das aber stieß auch
damals schon auf Widerstand. Immer wieder regte sich in religiös suchenden
Menschen die Sehnsucht nach den ethischen und moralischen Werten, die Jesus
von Nazareth in Seiner Bergpredigt den Menschen nahegebracht hatte. So etwa
in dem griechischen Reeder Markion, eine
"selbstlose, ethisch hochachtbare"
17 Persönlichkeit, der ca. 140 n. Chr. die römische Christengemeinde davor warnte, den "neuen Wein in alte Schläuche" zu gießen,
d. h., das Evangelium Christi in die Strukturen eines veräußerlichten
Priestertums zu zwängen. "Weder vermengte er das Evangelium mit
heidnischer
Mysterienweisheit, wie die Großkirchen, noch ersann er, wie zeitgenössische
Gnostiker, spitzfindige Spekulationen. Er erinnerte mit Leidenschaft wieder
an die Liebe als Mittelpunkt der evangelischen Botschaft. Er sah in den
Seligpreisungen der Armen und Geschmähten das Eigentümliche der christlichen
Verkündigung, in der Bergpredigt den Inbegriff der Lehre Jesu. Die
Feindesliebe war geradezu das Charakteristische des markionitischen
Christentums." 18 Markion wurde aus der Gemeinde ausgeschlossen und gründete
eine eigene christliche Reformbewegung. Er lehnte das Alte Testament wegen
der darin enthaltenen Vorstellung eines "strafenden Gottes" und wegen der
zahlreichen Textfälschungen ab und erarbeitete den ersten so genannten Kanon eines Neuen
Testaments, also eine Zusammenstellung verbindlicher Schriften für die
Gläubigen. Er wurde dadurch "zum Begründer der neutestamentlichen
Textkritik, die sich, dank der kirchlichen Scheiterhaufen, voll erst im 19.
und 20. Jahrhundert entfalten konnte".
19 Markions
Bewegung verbreitete sich über den ganzen Orient und wurde möglicherweise in
späterer Gestalt der "Paulikianer"
fast ein Jahrtausend später zum Ausgangspunkt der Bogumilen- und Katharerbewegung.
Ein weiterer Zeuge des Freien Geistes ist Montanus: Im zweiten Jahrhundert
wollte er die bereits weitgehend versiegte Quelle der urchristlichen
prophetischen Geistesgabe wieder zum Leben erwecken. Montanus und die
Anhänger eines freien Geistes, "der weht, wo er will", wurden als "Teufelspack" aus der Kirche ausgeschlossen. Der von der Kirche heilig
gesprochene Bischof Cyprian (auch ein furchtbarer Antisemit) hetzte gegen
Markion, Montanus und alle "Ketzer": Ein gläubiger Kirchenchrist dürfe mit
diesen "ruchlosen
Anhängern der häretischen Verkommenheit" keinerlei Umgang
pflegen, "nicht einmal Brot essen und Wasser trinken". Der "Heilige" stellte
regelrechte "Ketzerlisten" auf
20 – freilich nicht die letzten in der
Geschichte der Kirchen. Der Hass, mit dem solche Ketzerbewegungen verfolgt
wurden, kannte schon damals keine Grenzen: Die Markioniten etwa, "vom
Fischgenuss abgesehen strenge Vegetarier"
21, wurden vom
"kirchenheiligen" Justin
sogar beschuldigt, Menschenfleisch zu verzehren.
Die Kirche, selbst noch teilweise unter der Verfolgung des römischen Staates
stehend, entwickelte bereits ein umfangreiches Repertoire für den Rufmord,
schmähte Abweichler mit allem, was die damalige Sprache an Schimpfwörtern zu
bieten hatte. Um wie viel schlimmer musste es diesen Abtrünnigen ergehen,
wenn die Kirche sich erst mit dem Staat verbündete.
Eben dies trat im vierten Jahrhundert ein. Konstantin, zunächst einer von
vier gleichberechtigten Herrschern im römischen Reich, erkannte als
skrupelloser Machtpolitiker den Vorteil, der für ihn in einem Bündnis mit
der zu diesem Zeitpunkt bereits hervorragend durchorganisierten kirchlichen
Hierarchie lag: Er konnte sich im Kampf gegen seine drei Mitkaiser der
weitverzweigten Verbindungen dieser relativ jungen Religion bedienen – für
Intrigen aller Art, aber auch für die "Öffentlichkeitsarbeit", sprich:
Stimmungsmache gegen seine Gegner. Und er etablierte an seiner Seite eine
"neue Herrenschicht, den christlichen Klerus"
22, der hervorragend dazu
geeignet war, seine Gewaltherrschaft religiös zu verbrämen und so in den
Augen der Untertanen zu legitimieren.
Der Klerus ergriff diese Chance ohne jegliches Zögern und vollzog begeistert
die "konstantinische Wende". Als "Morgengabe" an den neuen Kaiser, der sich
in heimtückischen Bürgerkriegen seiner drei Rivalen entledigte, vollführte
die Kirche bezüglich ihrer Einstellung zum Militärdienst eine rasante
Kehrtwendung: "313 gewährte Konstantin den Christen volle Religionsfreiheit,
314 beschloss die Synode von Arelate die Exkommunikation
fahnenflüchtiger
Soldaten. Wer die Waffen wegwarf, wurde ausgeschlossen; vordem wurde ausgeschlossen, wer sie nicht
wegwarf."
23 Konstantin bedankte sich, indem er
die neuen Herren reich machte, sie mit Steuerprivilegien und Schenkungen
überhäufte. Das Christentum, ursprünglich eine
geistig revolutionäre Botschaft der Gleichberechtigung aller Menschen als
Kinder Gottes, erschien nun gänzlich pervertiert im Gewande einer Staatsreligion
und als Feigenblatt für
eine ausbeuterische
Gewaltherrschaft.
Damit sie ihre privilegierte Stellung nicht mit anderen Glaubensrichtungen
teilen mussten, begannen die Kleriker sehr bald, alle Andersgläubigen beim
Kaiser anzuschwärzen. Dass dieser Kaiser auch vor Verwandtenmord nicht
zurückschreckte 24, dass er selbst Zeit seines Lebens ein Heide blieb und
sich erst 337 auf dem Sterbebett taufen ließ – und das auch noch von einem
arianischen "Ketzer" – störte den Klerus nicht. Konstantin wurde später
sogar heiliggesprochen – denn für die Kirche zählt nicht, wie jemand lebt,
sondern, was er für die Kirche tut. Zum Beispiel, dass er ihr die "Häretiker" vom Leibe hält. Im Jahr 324 hatte Konstantin zwar noch
verkündet: "Wie sein Herz es will, so soll es jeder halten." Doch im Jahr
326, im so genannten Häretikergesetz, verbot er die Zusammenkünfte und
Gottesdienste der Novatianer, Markioniten, Montanisten und anderer
urchristlicher Bewegungen, "konfiszierte ihre Grundstücke und ließ sogar
ihre Versammlungshäuser zerstören" 25,
oder er übereignete sie der katholischen Kirche. In seinen letzten Regierungsjahren ging er auch gegen das
Heidentum vor, ließ Tempel niederreißen und beschlagnahmte
Tempelländereien.
Auch wenn diese Maßnahmen gegen christliche Außenseiter und Heiden noch
nicht überall im Reich und zu jedem Zeitpunkt umgesetzt wurden – ein
schlimmer Anfang
war gemacht.
Wenige Jahre nach Konstantins Tod (337) sorgte der Kirchenvater Firmicus Maternus dafür, dass es mit den Verfolgungen Andersgläubiger weiterging. Er richtete an Konstantins Söhne und Nachfolger "eine einzige Hasstirade gegen das Heidentum: ´Von Grund aus müssen solche Dinge, allerheiligster Kaiser, ausgemerzt und vernichtet werden und sollen durch schärfste Gesetze und Erlasse eurerseits geändert werden, damit nicht länger dieser verhängnisvolle irrige Wahn den römischen Erdkreis beflecke, damit nicht diese ruchlosen, verpesteten Gebräuche erstarken, damit nicht länger, was immer einen Mann Gottes zu verderben sucht, auf der Erde herrsche`". 26 Man halte sich dabei vor Augen, dass diese "ruchlosen, verpesteten Gebräuche" zu diesem Zeitpunkt längst en gros und en detail in die kirchliche Liturgie Eingang gefunden hatten. "Als man noch machtlos war, hatte man Religionsfreiheit und Feindesliebe gefordert. Jetzt ... reizt der Kirchenvater die Kaiser zur Plünderung der Tempel auf und verlangt mit Berufung auf den Gott des Alten Testaments, die alte Religion ´in jeder Weise` zu verfolgen." 27 Im Alten Testament, im angeblichen Gotteswort, das in Wirklichkeit durch die Priesterkaste verfälscht wurde, fand man die Rechtfertigung, "die Altäre der Heiden umzuwerfen, ihre Säulen zu zerbrechen, ihre geschnitzten Bilder zu verbrennen und sie selbst zu erschlagen ´bis auf den letzten Mann`". 28 Sowohl "Heiden" als auch "Ketzer" waren immer stärker der Verfolgung ausgesetzt. Bischof Optatus von Milewe beispielsweise nahm kein Blatt vor den Mund, wenn es galt, die Bekämpfung der "Ketzer" nötigenfalls auch durch das Militär zu rechtfertigen: "`Warum`, fragt der Heilige, `sollte es verboten sein, Gott [!] durch den Tod der Schuldigen zu rächen? Will man Beweise? Das Alte Testament wimmelt davon.`" 29
Die Berufung auf das Alte Testament hinderte die Kirche jedoch nicht daran,
diejenigen besonders intensiv zu verfolgen, denen sie die Bibel verdankten:
die Juden. Kaiser Konstantin hatte das Judentum zu Beginn seiner
Regierungszeit noch als erlaubte Religion anerkannt, doch nach dem Konzil
von Nizäa (325) übernahm er die hasserfüllte Propaganda der Kirchenväter
gegen die Juden, nannte sie ein "verhasstes Volk" und unterstellte ihnen "angeborenen Wahnsinn".
"Das Betreten Jerusalems, das er und seine Mutter
mit Kirchen füllten, gestattete er Juden bloß an einem
Tag im Jahr."
30 Er
erneuerte ein Gesetz Kaiser Trajans, wonach die Bekehrung eines Heiden zum Judentum
mit dem Feuertod bestraft werden sollte.
Wer Ketzer verfolgte, verfolgte auch Juden – dies ist eine Konstante der
Kirchengeschichte. Um den Umfang des Buches nicht zu sprengen – denn
Judenverfolgungen gab es fast zu allen Zeiten –, wird darauf in der Folge
nur sporadisch Bezug genommen.
31
Ihre volle Durchschlagskraft erreichte die kirchlich inszenierte
Ketzerverfolgung durch den römischen Staat unter dem zunächst oströmischen,
dann gesamtrömischen Kaiser Theodosius (Regierungszeit 379-395). "Theodosius
erließ am 27. Februar 380 das berühmt-berüchtigte Religionsedikt von Thessalonich,
das der heidnischen Toleranz den Todesstoß versetzte, indem es unter
Androhung himmlischer und irdischer Strafen die Annahme des katholischen
Glaubens für jeden römischen Bürger obligatorisch machte."
32
In
diesem Edikt stand geschrieben: "Wir befehlen, dass diejenigen, welche dies
Gesetz befolgen, den Namen ´katholische Christen` annehmen sollen; die
übrigen dagegen, welche wir für toll und wahnsinnig erklären, haben die
Schande zu tragen, Ketzer zu heißen."
33 Damit war der
Katholizismus
alleinige Staatsreligion. Doch dies war erst der Anfang. Der Historiker
Grigulevic schreibt dazu: "Die christliche Kirche, die jetzt eine
Bundesgenossin der kaiserlichen Macht geworden war, stützte sich auf deren
Hilfe bei der Unterdrückung ihrer Rivalen, der heidnischen Kulte, und ihrer
inneren Opposition, der zahlreichen häretischen Strömungen. Auf ihre
Veranlassung verbot der römische Kaiser Theodosius ... die übrigen
Religionen und konfiszierte den Landbesitz der heidnischen Tempel zugunsten
der christlichen Kirche. Diese nannte ihn dafür dankbar den ´Großen`. In den
achtziger Jahren und zu Anfang der neunziger Jahre erließ Theodosius eine
Reihe von Edikten über die Verfolgung der Heiden und Häretiker (Manichäer),
in denen gegen sie der Verlust der staatsbürgerlichen Rechte, die
Konfiskation der Güter und schließlich die Todesstrafe (Strafe für
Majestätsverbrechen, 392) bzw. die Verbannung ausgesprochen wurden. Die
Präfekten wurden verpflichtet, Inquisitoren (Untersuchungsrichter) sowie
Denunzianten (Geheimagenten) zum Aufspüren verborgener Manichäer und anderer
´Majestätsverbrecher` zu ernennen." Grigulevic fährt fort: "Dieses Gesetz
gegen die Manichäer ist eine Art Vorbild für die künftige Inquisition: Zum
ersten Mal in der Geschichte des Imperiums wurden die Anhänger eines
religiösen Kults in den Rang von Staatsverbrechern erhoben und es wurde ein
spezieller geheimer Untersuchungsapparat mit uneingeschränkten Vollmachten
zu ihrer Auffindung und Bestrafung geschaffen. In der Folgezeit, als die
Inquisition selbst bestand, beriefen sich alle kirchlichen Apologeten zu
deren Rechtfertigung gerade auf dieses Gesetz."
34
Auch dies hat Methode: Die Kirche beeinflusst die Mächtigen in ihrem Sinne –
und beruft sich dann später wiederum auf sie. In der heutigen Zeit wird ein
ähnliches "Spiel", wie wir noch sehen werden, mit den Massenmedien betrieben.
Theodosius und seine Nachfolger erließen zwischen 380 und 438 ungefähr
achtzig Gesetze gegen "Ketzerei". Den Ketzern wurde jegliche Versammlung,
jeglicher Gottesdienst, auch in Privathäusern, verboten. "Man untersagte den
Nichtkatholiken ... jede Art von Lehrtätigkeit, die Ordination von
Geistlichen und befahl die Vernichtung ihres Schrifttums. Man bedrohte sie
mit Ausweisung, Verbannung und Konfiskation ihres Vermögens. Man sprach
ihnen das Recht ab, sich Christen zu nennen, Testamente zu machen oder auf
Grund von Testamenten zu erben; zuweilen erklärte man sie sogar für unfähig,
irgendwelche rechtsgültigen Akte zu vollziehen."
35
All dies ist nicht bloße Geschichte. Wir werden in der jüngsten
Vergangenheit wieder auf Versuche stoßen, religiösen Minderheiten das
Christsein abzusprechen, ihnen
Versammlungen unmöglich zu machen, sie zu
enterben, ihnen Sorgerechte und Ähnliches abzuerkennen.
Auffallend ist die seelische Grausamkeit, die Freude am psychologischen
Detail, mit der diese Gesetze verfasst wurden. Im vierten Gesetz steht z. B.
zu lesen: "Wir hätten sogar befohlen, sie in die Ferne zu stoßen und weiter
weg zu verbannen, wäre es nicht
offensichtlich eine größere Strafe, unter
den Menschen zu leben, aber ihre Unterstützung zu entbehren. Sie sollen also
als Ausgestoßene in ihrer Umgebung wohnen bleiben. Die Möglichkeit, in ihren
früheren Status zurückzukehren, ist ihnen verwehrt. Für sie gibt es keine
Buße; sie sind keine ´Gefallenen`, sondern ´Verlorene`." Hochgestellte
Ketzer hätten einen "unsagbar verworfenen Charakter", so das letzte der
Gesetze, sie seien daher "ständiger Ächtung (infamia) auszusetzen und nicht
einmal zur niedrigsten Klasse zu zählen. Die gesellschaftliche
Existenz dieser Menschen ist damit vernichtet."
36
Es gab damals zwar noch keine Massenmedien – doch die Möglichkeit, den
Andersgläubigen nicht durch Mord, sondern (eleganter) durch Rufmord zu
vernichten, wurde hier bereits klar artikuliert. Das schafft keine Märtyrer
– und macht der Häresie doch auf sehr nachhaltige Weise den Garaus.
Wer hat sich so etwas ausgedacht? Nicht schwer zu erraten. "Die kaiserliche
Kanzlei gebraucht bei ihrer antihäretischen Gesetzgebung regelmäßig das von
den katholischen Bischöfen des Westens entwickelte Anti-´Ketzer`-Vokabular.
Es beeinflusste ´nicht nur die Abfassung, sondern auch den Inhalt der Texte`
... Denn hinter Theodosius stand natürlich die katholische Kirche – ´Die
göttliche Vorsehung half dabei nach` ..."
37
Die Ketzerjäger späterer Jahrhunderte (darunter übrigens auch Martin Luther)
beriefen sich nicht von ungefähr auf Theodosius und seine Nachfolger. Mit
Hilfe der Kaiser Konstantin und Theodosius gelang der Institution Kirche innerhalb
eines knappen Jahrhunderts ein beispielloser Aufstieg: Von einer zeitweise
noch verfolgten Minderheit nicht nur zur alleinigen Staatsreligion, sondern
in der Folge sogar zur einzig noch erlaubten und öffentlich praktizierten
Religion überhaupt. Ein "Idealzustand", der aus katholischer Sicht sicher
noch Jahrhunderte lang so hätte bleiben können. Erst der Zusammenbruch des
römischen Reiches und die Aufspaltung in Ost- und Westrom machten neue
strategische Manöver der römischen Kurie notwendig, um dann im
Spätmittelalter eine ähnliche und gar noch größere Macht wieder zu
erringen.
Man muss berücksichtigen, dass zur Zeit des Theodosius die Kirche noch
keineswegs unangefochten den religiösen Ton angeben konnte. Neben Heiden und
Juden gab es ausgesprochen vitale christliche Richtungen.
Da waren, um nur die wichtigsten zu nennen, die in den Edikten des
Theodosius erwähnten Manichäer, die der Perser Mani (216-276) ein inneres
Christentum gelehrt hatte. Es ging ihm um die Befreiung des inneren Menschen
durch die Kraft Christi, den "Kern des inneren Lichtes", der den Menschen
hilft, das Böse in der Welt durch das Gute zu überwinden.
Da waren die Arianer, die man nach dem Priester Arius aus Alexandria
benannte, einem Anhänger der Lehre des Origenes, der sich bis zu seinem Tod
gegen die dogmatischen Verfälschungen der ursprünglich christlichen Lehre
durch die entstehende Amtskirche gewehrt hatte.
Da waren schließlich die Donatisten in Nordafrika, die die Säuglingstaufe
und die vielfach sichtbare ethische Dekadenz des katholischen Klerus
ablehnten. Sie verbündeten sich teilweise mit den Circumcellionen gegen die
feudal-katholische Schicht der Großgrundbesitzer. Bischof Cäcilian von
Karthago hatte schon zu Beginn des vierten Jahrhunderts Kaiser Konstantin
zur Bekämpfung der Donatisten um Hilfe gebeten, woraufhin dieser Truppen
schickte – "die erste, im Namen der Kirche durch den Staat geführte
Christenverfolgung". 38
Auf der anderen Seite sehen wir innerhalb der Kirche zahlreiche raffinierte
und rhetorisch hochbegabte Vordenker, die sich ganz in den Dienst des
Kampfes gegen die Häretiker stellten: So etwa der "heilige" Kirchenlehrer
Hieronymus
(ca. 347-420), der z. B. dazu aufrief, "Vigilantius, einen Priester aus Aquitanien, zu töten, dem er
vorwarf, dass er die
Reliquienverehrung der Heiligen und Märtyrer ablehne.
Hieronymus suchte zu beweisen, dass eine solche Bezeugung des Eifers für die
Verteidigung der ´göttlichen Sache` keine Grausamkeit sei, denn die
Bestrafung des Sünders sei die beste Form der Frömmigkeit; sie führe durch
den Tod des Leibes zur Rettung der unsterblichen Seele".
39
Oder der "heilige" Kirchenlehrer Augustinus
(354-430), der als
zwanzigjähriger
Nordafrikaner zum Manichäer geworden war, doch offenbar dort
aufgrund seines Charakters keine Einweihung in höhere Stufen erlangen
konnte. Augustinus versuchte zunächst "mit den Mitteln der Propaganda, auf
dem Wege theologischer Polemik" 40
die verschiedenen Häresien zu bekämpfen, verfasste dazu auch ein eigenes
"Sektenbuch" – De haeresibus –, in dem er 88
Häresien "darstellte". (Auch heute noch verfasst jeder "Sektenjäger", der
etwas auf sich hält, ein eigenes "Sektenbuch".) Als dies alles erfolglos
blieb, empfahl er, gegen sie mit "gemäßigter Strenge" vorzugehen – also mit
Repressionen und Schikanen, doch ohne körperliche Gewalt. Schließlich jedoch
riet er zu einer Bekämpfung mit allen Mitteln, einschließlich Folter und
Todesstrafe.
"Nach Augustinus, der sich den ´Ruhm` des ersten Theologen der
Inquisition verdiente, ist die Bestrafung der Häresie kein Übel, sondern ein
´Akt der Liebe`." 41 Die Folter sei, vergleicht man sie mit der ewigen Hölle,
geradezu eine "Kur" für den Ketzer, "wenn er sich bessert". Und die
Todesstrafe? "Sie (die Häretiker) töten die Seelen der Menschen, während die
Obrigkeit nur ihre Leiber der Folterung unterwirft; sie rufen ewigen Tod
hervor, aber beklagen sich dann, wenn die Behörden sie dem zeitlichen Tod überantworten." Die Behörden ... als ob sie dies aus eigener Entscheidung
täten, unbeeinflusst von der Kirche! Nein. Die Beamten handelten auf Geheiß
der Kirche, um nicht selbst als "Ketzer" angeklagt zu werden.
Schließlich der ebenso "heilige" Kirchenlehrer
Ambrosius
(ca. 339-397): Er
betätigte sich erfolgreich als "geistlicher Chefsouffleur dreier Kaiser".
42
Zunächst beeinflusste er den erst 16-jährigen weströmischen Kaiser Gratian
(375-383), der zunächst fast allen
Religionsgemeinschaften Duldung
versprochen hatte. Doch kaum war der junge Kaiser 379 einer Einladung des
Bischofs Ambrosius an dessen Amtssitz gefolgt, annullierte er das ein Jahr
zuvor erlassene Toleranzedikt. Er verbot nunmehr jeglichen Gottesdienst
außer dem katholischen, denn: "Alle Häresien" sollten "in Ewigkeit
verstummen". 43 Im Jahr nach der Ermordung des Gratian (383) wiederholte sich
dasselbe "Spiel" mit dem erst 13-jährigen Nachfolger Valentinian II. Der
berühmte Literat Aurelius Symmachus rührte den jungen Kaiser, als er ihn um
die Genehmigung zur Wiederaufstellung eines heidnischen Altars bat: "Wir
schauen zu denselben Sternen auf, ein Himmel wölbt sich über uns, eine Welt
umschließt uns. Was macht es aus, dass jeder mit anderer Einsicht nach der
Wahrheit sucht?" Sogar die Christen im Kronrat stimmten für dieses Anliegen.
Doch der Kirchenmann Ambrosius reagierte sofort und "erklärte die
zustimmenden Heiden für inkompetent, die jasagenden Christen für schlechte
Christen. ... Er drohte dem jungen Regenten schroff mit der Verstoßung ins
Jenseits. ... Er kündigte ihm unverhohlen die Exkommunikation an. Bei einer
ungünstigen Entscheidung sei für ihn kein Platz mehr in der Kirche. Erstmals
drohte damit ein Bischof einem Kaiser mit Ausschluss. Ja, Ambrosius
behauptete, die Wiederherstellung des Altars wäre ein Religionsverbrechen
und käme einer Christenverfolgung gleich!"
44 Kaiser Valentinian ließ sich
einschüchtern, gab nach und geriet in der Folgezeit immer mehr unter den
Einfluss des ebenfalls von Ambrosius beeinflussten oströmischen Kaisers
Theodosius. Ambrosius seinerseits richtete seinen ganzen Eifer auf die
Vernichtung des Arianismus, der vor allem unter den Germanen stark
verbreitet war. Als die Mutter des Kaisers Valentinian eine einzige Kirche
in seiner Bischofsstadt Mailand für die Arianer beanspruchte, lehnte
Ambrosius ab: Wie könne er einen Tempel Gottes dem arianischen Bischof
Mercurinus ausliefern, einem "Wolf im Schafspelz", der "blutgierig und
maßlos suche, wen er verschlingen könne". Ein mit solchen Tönen von
Ambrosius aufgehetzter katholischer Mob prügelte sich schließlich die Kirche
frei und besetzte sie – worauf der "Heilige" beteuerte, nicht er habe die
Menge aufgeputscht. (Man merke sich, auch für die Gegenwart:
Kirchenvertreter sind gemäß ihrer scheinheiligen Beteuerungen grundsätzlich nie für die praktischen Folgen ihrer
Hetzreden verantwortlich.) Ambrosius weigerte sich jedoch, friedensstiftend
einzugreifen. Und der junge Kaiser konnte sich nicht durchsetzen, zumal
Ambrosius allen Soldaten, die gegen die Kirche vorgehen würden, die
Exkommunikation androhte. 45 Hier erlebt zum ersten Mal eine schwache
Staatsmacht, wozu die Machtkirche fähig ist. In einem Brief an den jungen
Kaiser stellte Ambrosius die Sicht der Kirche klar: "Der Kaiser war nicht
nur in seiner Person Christ, sondern hatte auch kraft seines Amtes die
Verpflichtung, die Kirche zu schützen. Natürlich war er dann auch an Gottes
Gebote gebunden – und die legte ihm das kirchliche Lehramt aus. ... Bei
Ambrosius regte sich der Wille zur weltumspannenden Herrschaft der Kirche."
46
In die Zeit des Theodosius, Ambrosius und Augustinus fiel auch der erste
Mord an einem "Häretiker": Der Spanier Priscillian, 381 zum Bischof von
Avila geweiht, wurde mit sechs seiner Anhänger 385 in Trier zum Tode
verurteilt und hingerichtet. Sein "Vergehen": Er strebte ein
ethisch hochstehendes Christentum an, war Vegetarier und schätzte die
Prophetie. Priscillian wurde es zum Verhängnis, dass sein spanischer Landsmann Maximus
383 Kaiser Gratian ermorden und sich in Trier, der damaligen Hauptstadt des
weströmischen Reiches, zum Kaiser ausrufen ließ. Dies geschah zu dem
Zeitpunkt, als der Streit um den bereits aus Àvila vertriebenen, kurz darauf
wieder eingesetzten Priscillian am Hof in Trier verhandelt werden sollte.
Gratian stand zwar unter dem Einfluss des Ambrosius, hatte sich aber in
dieser Sache noch keineswegs entschieden. Maximus hingegen wollte sich als
Thronräuber eine Hausmacht aufbauen und beim gallischen und spanischen
Klerus Eindruck verschaffen. Hinzu kam, dass der Todfeind des Priscillian,
Bischof Ithacius von Ossonoba (heute: Faro, Portugal), sich bereits in Trier
aufhielt und es ihm gelang, bei Maximus "eine Audienz zu bekommen und ihn
vor Priscillian und seiner Sekte zu warnen."
47 Maximus ließ die sieben
"Ketzer" sofort nach ihrem Eintreffen in der Stadt foltern – und sie "gestanden", Unzucht und magische Künste ausgeübt zu haben. Wenig später
wurden sie geköpft.
Die Rechnung des Usurpators Maximus ging zwar nicht auf. Denn Ambrosius, der
zuvor allerdings den Unterstützung suchenden Priscillian abgewiesen hatte,
missbilligte nun das Verfahren, und der Papst forderte die Prozessakten an.
Vielleicht ahnte man auf katholischer Seite, wie so häufig in der
Geschichte, schon den nächsten Umschwung: Der oströmische Kaiser Theodosius
duldete keinen Rivalen (außer schwachen Kinderkaisern) und besiegte (und
beseitigte anschließend) den Maximus im Jahr 388. Doch ein Anfang war
gesetzt: Was Augustinus und Hieronymus bereits gerechtfertigt hatten – die
Verfolgung
Andersgläubiger auch durch Folter und Todesstrafe – war erstmalig
praktiziert worden. Und in Rom war man, bei allem gespielten Stirnrunzeln
"doch eigentlich froh, die lästigen moralischen Mahner von jenseits der
Pyrenäen losgeworden zu sein. Papst Leo der Große sagte es im Jahre 447 ...
ganz offen: ´Zu Recht haben unsere Vorgänger ... darauf gedrängt, dass die
gottlose Raserei von der Gesamtheit der Kirche abgewehrt werde.`"
48 Ob und
wie rasch man solche Ketzer loswurde, hing freilich noch vom Ermessen und
der
Beeinflussbarkeit der jeweiligen Herrscher ab. Es "bestanden zwar
Ketzergesetze, aber ihre Durchführung war der weltlichen Verwaltung
anvertraut. Kirchliche Einflussnahme auf die Verwaltung musste durchaus
nicht immer erfolgreich sein", so der Historiker Bernd Rill. Und er fährt
fort: "Die Kirche musste das öffentliche Leben noch weitaus nachhaltiger in
die Hand bekommen als in der Spätantike, um eine wirkungsvolle
Ketzerverfolgung in eigener Regie durchführen zu können."
49 Das allerdings
dauerte noch ein paar Jahrhunderte.
Doch die Kirche ist es gewohnt, in großen Zeiträumen zu denken und
entsprechend zu handeln. Im fünften Jahrhundert sorgte Papst Leo I.
(Amtszeit 440-461) zunächst einmal dafür, dass das unter dem Ansturm der
Germanen allmählich zusammenbrechende weströmische Reich so lange wie
möglich ketzerfrei blieb. "Der Große" – das ist nach Karlheinz Deschner fast
immer ein "historischer Steckbrief"; es verbirgt sich meist nichts Gutes
dahinter. Auch Leo hielt sich an die Grundregel: Zuerst die eigenen Leute
gegen die Häretiker aufhetzen, dann den Staat gegen sie einspannen. Oder
beides zugleich. Leo verbot den Katholiken "jeden Umgang" mit
Nichtkatholiken. "Er fordert zu ihrer Verachtung, zu der ihrer Lehren
ausdrücklich auf. Er befiehlt, sie zu fliehn ´wie todbringendes Gift!
Verabscheut sie, weicht ihnen aus und vermeidet es, mit ihnen zu sprechen`.
´Keine Gemeinschaft mit denen, die Feinde des katholischen Glaubens und nur
dem Namen nach Christen sind!`" 50 Der nächste Schritt: Die so aufgehetzten
Gläubigen sollen die Andersgläubigen bei ihren Priestern denunzieren!
"`Entfaltet also den heiligen Eifer, den die Sorge für die Religion von euch
verlangt!`, rief er und ... gebot, ´dass ihr die Manichäer, die sich überall
versteckt halten, bei euren Priestern zur Anzeige bringt`; verlangte ´die
Schlupfwinkel der Gottlosen aufzudecken und in ihnen ... den Teufel
niederzukämpfen`." "Denunzieren, Schnüffeln, Angeben", fürwahr ein "Geschäft, das dann in der mittelalterlichen Kirche, beim Vernichten der
Andersgläubigen, von ´Hexen`, so segenstiftend blühen sollte."
51
Doch das war noch nicht alles. Immer wieder fordert Leo die Herrscher seiner
Zeit auf, "für den Glauben zu handeln" (pro fide agere). "Er wünschte die
Vertreibung Andersgläubiger aus Amt und Würden, wünschte insbesondere ihre
Verbannung, rechtfertigte aber auch leidenschaftlich die Todesstrafe für
sie, verlangte, ihnen unmöglich zu machen, ´mit einem solchen Bekenntnis
weiterzuleben`." 52 Wer die Ketzer am Leben lasse, befördere das schnelle
Ende der menschlichen und göttlichen Ordnung. Der Kaiser als "verlängerter
Arm Gottes" solle daher die Ketzer sowohl mit "dem Schwert der Zunge" als
nötigenfalls auch mit dem "blanken Schwert" verfolgen – was den katholischen
Theologen Stockmeier noch 1959 zu dem Kommentar veranlasste: "Der Staat wird
aufgerufen, mit allen Mitteln und Möglichkeiten an der Vollendung des
Idealzustandes [!] mitzuarbeiten." 53 Auf dem Weg zu diesem katholischen
"Idealzustand" durfte man nichts dem Zufall überlassen. So wurde denn auch
ein kaiserlicher Erlass zur Verfolgung der Manichäer (445) im päpstlichen
Sekretariat aufgesetzt. 54 Vor allem aber gelang es Leo, die Lausch- und
Hetzarbeit seines Klerus eng mit der staatlichen Gerichtsbarkeit zu
verzahnen. Auch hier war Leo seiner Zeit weit voraus, nahm er doch damit
die Inquisitionspraxis des Hochmittelalters vorweg. All dies war jedoch –
laut Leo – "wahrer Gottesdienst"; schließlich wurde nicht umsonst in der
katholischen Liturgie der damaligen Zeit das Gebet an Gott gerichtet: "Hostes Romani nominis et inimicos catholicae religionis expugna" –
"Vernichte die Gegner des römischen Namens und die Feinde des katholischen
Glaubens!"
55
Doch zunächst waren die Feinde auf dem Vormarsch. Die Germanenstämme, in ihrer Mehrzahl arianische Christen, also "Ketzer", eroberten Stück für Stück des westlichen Römerreiches – und legten zugleich eine im Vergleich zu den Katholiken erstaunliche Toleranz an den Tag. Das römische Papsttum war in die Defensive geraten. Um nicht völlig unterzugehen, klammerte sich die römische Kirche an den vergehenden Glanz des römischen Weltreiches und trat sozusagen dessen kulturgeschichtliches Erbe an. Die Kirche übernahm aus dem Römerreich dessen Verwaltungseinheiten (Provinzen, Diözesen) und Gremien (Synoden), Rechtsbegriffe und Ämter – und nicht zuletzt den Titel des obersten heidnischen Priesters, des Pontifex maximus für den Papst. Papa ist übrigens eine Kurzform von pater patrum, "Vater der Väter" – der Titel des obersten Priesters des Mithras-Kultes. 56 Mit römischem Prunk- und Machtgebaren im Rücken suchte die Romkirche inmitten einer ketzerischen und zeitweise chaotischen Welt nach neuen Verbündeten – und fand sie. Die Franken, der kriegerischste aller Germanenstämme, waren noch nicht zum Arianertum bekehrt worden. Man sorgte dafür (wahrscheinlich, so Karlheinz Deschner, betätigten sich zwei "Heilige", Avitus und Remigius, als Heiratsvermittler 57), dass der Frankenführer Chlodwig 493 eine katholische Braut, Chlotilde, bekam – und ca. 498 nach Christus ließ er sich in Reims katholisch taufen. Bischof Remigius, so berichtet Gregor von Tours, sprach bei der Taufzeremonie die Worte: "Beuge still deinen Nacken! Bete hinfort an, was du verfolgt, und verfolge, was du bisher angebetet!" 58 Das soll heißen: Fördere die katholische Kirche, bewahre ihren Besitz, und schädige alle anderen Glaubensrichtungen, vor allem aber die arianische, wo du kannst. Und in der Tat: Die Franken unterwarfen in der Folgezeit in heimtückischen Angriffskriegen fast alle anderen germanischen Stämme.
Einen Teil dieser schmutzigen Arbeit nahm den Franken und der Kurie im 6.
Jahrhundert das oströmische (byzantinische) Reich ab. Kaiser Justinian
wollte das alte römische Reich unter katholischem Vorzeichen wieder
vereinigen, doch den entscheidenden Druck zum Krieg zunächst gegen die
Wandalen in Nordafrika, dann gegen die Ostgoten in Italien übten die
Priester aus – ganz im Sinne von Papst Gelasius I. (492-496): "Toleranz
gegen Ketzer ist verderblicher als die schrecklichsten Verwüstungen der
Provinzen durch die Barbaren." 59 Als der Kaiser 531 ob der fraglichen
Erfolgsaussichten zunächst zauderte, "legte sich der katholische Klerus ins
Zeug, der lebende, der tote, Gott selber, ... hetzten die Priester weithin
von den Kanzeln und verbreiteten beredt die wirklichen oder angeblichen Gräuel der
´Ketzer`".
60 Byzantinische Heere verwüsteten während der darauffolgenden zwanzig Jahre erst Nordafrika, dann Italien, so dass es dort
aussah wie in Deutschland nach dem 30-jährigen Krieg. Von den Wandalen und
Ostgoten blieb kaum eine Spur übrig – sie waren ausgerottet worden. Zuvor
hatte Justinian auf einer Synode der Ostkirche im Jahr 543 noch die
arianische Religion seiner Kriegsgegner öffentlich verfluchen lassen, indem
er die Lehre des Origenes (der zu diesem Zeitpunkt seit etwa dreihundert
Jahren gestorben war) in neun Bannflüchen verbieten ließ: Die Lehre von der
Entstehung der Erde durch den Sturz der Engel aus dem Himmel, die
Präexistenz der Seele 61, die Wiederherstellung aller Dinge in ihrer
ursprünglichen Vollkommenheit ... Damit wurde auch die bis dahin noch
bekannte Lehre von der
Wiederverkörperung der Seele verboten – Erbsünde und
ewige Verdammnis traten in der Folgezeit an ihre Stelle.
Was bei den Germanenstämmen noch arianisch geblieben war, das beseitigte
später im 8. Jahrhundert Winfrid, genannt Bonifatius (685-754), ein von früh
auf im Kloster erzogener und dem Papst höriger Mönch. Er zog im Schutze
fränkischer Waffen durch die deutschen Lande und bekämpfte unerbittlich den
Arianismus sowie das Iroschottentum, ebenfalls eine freiere, nicht
romabhängige Form des Christentums. Bonifatius brachte also nicht etwa das
Christentum nach Deutschland, sondern im Gegenteil: den Katholizismus.
Die äußere und innere Verwüstung, die die Ausrottung jedweder
"Ketzerei",
sei sie donatistisch oder arianisch, in Nordafrika hinterlassen hatte,
machte diesen Landstrich wenig später, im 7. Jahrhundert, zu einer leichten
Beute der islamischen Wüstenkrieger. Lieber muslimisch als katholisch, hieß
für viele die Devise. Der Islam überrollte in seinem Siegeszug zahlreiche
vorher katholische Gebiete – von Nordafrika über Ägypten bis Kleinasien.
Doch gerade dadurch stieg die Bedeutung Roms, das bis dahin, entgegen
späterer
Geschichtsfälschung, nur ein kirchliches Patriarchat unter vielen
gewesen war.
Und Roms Bedeutung wuchs weiter – weil die Päpste mit untrüglichem
Machtinstinkt immer rechtzeitig die Seite wechselten und ihre jeweiligen
Verbündeten zu immer neuen Kriegen antrieben: die Langobarden gegen Ostrom,
die Franken gegen die Langobarden, später die Staufer gegen die Normannen
und umgekehrt. Von Pippin dem Jüngeren, der in einem dynastischen Streit
Unterstützung suchte – sein Vater Karl Martell war ein Thronräuber –, ließ
sich Papst Stephan II. 754 erhebliche Gebiete in Italien schenken – obwohl
diese Pippin gar nicht gehörten. Für diesen "Grundstock" des Kirchenstaates
bedankte sich der Papst umgehend, indem er Pippin sowie seine Söhne Karlmann
und Karl (den späteren "Großen") zu Königen der Franken salbte. Als Papst
Leo III. Karl zu Weihnachten 800 zum Kaiser krönte, war dies der Beginn des
mittelalterlichen Kaisertums im Abendland. Eine durch Thronraub an die Macht
gekommene Dynastie fränkischer Hausmeier verschaffte sich auf diese Weise
die herrschaftliche Legitimation – und der Papst legte seinerseits den
Grundstein für noch größere Machtentfaltung seiner Nachfolger.
Die Kirche lebte gut damit. Bereits Pippin hatte den Kirchenzehnt als
Staatsgesetz eingeführt (und damit einer Kirche in den Sattel geholfen, die
sich bis heute ungeniert aus allen
möglichen Steuertöpfen bedient und auf
diese Weise den Staat förmlich aussaugt). Karl wiederum führte seine Kriege
gegen die Sachsen (und nicht nur diese), um die katholische Religion zu
verbreiten. Die Blutgesetze gegen die Sachsen geben davon grausames Zeugnis:
Todesstrafe, wenn ein Sachse ungetauft bleibt, wenn er die Fastenregeln
nicht einhält, wenn er nach alter Väter Sitte einen Verstorbenen verbrennt
... Karl war das Fasten zwar selbst "zuwider; es sei seinem Körper, klagte
er, nicht zuträglich". 62 Aber Karl wusste, ebenso wie seine Prälaten: An die
Regeln, die er selber aufgestellt hat, braucht ein Feudalherr sich nicht zu
halten.
Wenn ausgerechnet Karl "der Große" heute als Vorbild, als Ahnherr Europas,
als Urvater der Europäischen Union gefeiert wird, so spricht das für sich.
Es zeugt von einem kollektiven historischen Gedächtnisverlust – oder,
schlimmer noch, von der völligen Abwesenheit eines historischen Gewissens.
Karl führte in fast jedem Jahr seiner Regierungszeit einen blutigen
Angriffskrieg. Er ließ 782 in Verden an der Aller 4500 gefangene Sachsen
einfach
abschlachten; ihre Leichen trieben die Weser hinunter. Und die
Kaiserkrönung war in Wahrheit keine Einigung Europas, sondern im Gegenteil
dessen Spaltung – denn bis dahin hatte es in Europa nur
einen Kaiser, den
byzantinischen, gegeben.
Doch Karl wurde heilig gesprochen – warum wohl?
Weil die Kirche es ihm dankte, dass er das neue Kaiserreich unter die
religiöse Oberaufsicht der Romkirche gestellt hatte.
Das "Heilige Römische Reich Deutscher Nation" war auch sonst ein Staat nach
dem
Geschmack der Prälaten. Viele Staatsbeamte waren Mönche oder Priester,
die Erzieher der Kaiser ohnehin. Bistümer und Klöster erhielten reichlich
Grundbesitz und Einnahmen – die Kirche des Mittelalters besaß in fast allen
Ländern Europas ein Drittel oder mehr des Grundbesitzes. (Noch heute sind
die Kirchen größte private Grundbesitzer in Deutschland. Dass dieser Besitz
zu großen Teilen durch Ausbeutung entrechteter Bauern, durch Erbschleicherei
und Urkundenfälschung zustande gekommen ist, interessiert bis heute kaum
jemanden.) Öffentlicher Appelle zur Vernichtung der Ketzer bedurfte es da
bald nicht mehr. Die Kaiser gehorchten auch so. So gab Kaiser Heinrich II.
(auch er ein "Heiliger") 1007 in Frankfurt auf einer Kirchensynode bekannt,
er werde ein neues Bistum in Bamberg einrichten. Als einen der Hauptgründe
für diese Tat vermerkt das Protokoll: "... dass das Heidentum der Slawen
vernichtet werden und der Name Christi dort für immer in feierlichem
Andenken stehen soll." 63 In der Bamberger Gegend lebten damals noch viele
Slawen.
Muss man sich wundern, wenn es in Deutschland heute wieder extreme
rechtsradikale und fremdenfeindliche Bewegung gibt – in einem Land, in dem
die Vernichtung von Fremden und Andersgläubigen (die Slawen waren
überwiegend "Heiden") die Heiligsprechung des Verantwortlichen und dessen
bis heute andauernde Belobigung zur Folge hat?
Doch die Kirche wäre nicht die Kirche, wenn sie sich mit einer
einflussreichen Stellung gegenüber den Herrschenden begnügen würde. Sie
strebte nach mehr. Noch betrachtete nämlich der jeweilige Kaiser die
Bischöfe seines Landes als seine Gefolgsleute, die ihm zu Diensten zu sein
hatten. Doch Papst Gregor VII. (1075-1085) wollte diese Rechtslage
verändern
und begann deshalb den Investiturstreit mit dem Kaiser: Er wollte über die
Einsetzung neuer Bischöfe selbst entscheiden. Er war sogar von seinem Recht
überzeugt, die weltlichen Fürsten nach Belieben ein- und absetzen zu können.
Bischöfe, Priester und Mönche hetzen nun in Deutschland gegen Kaiser
Heinrich IV. (1065-1106) und die zu ihm haltenden Kleriker, und sie treiben
das Land in einen blutigen Bürgerkrieg. Nur der Gang nach Canossa (1077),
ein politisch kluger Schachzug, rettet Heinrich vor dem völligen Untergang.
Das Wormser Konkordat (1122) brachte einen weiteren Machtverlust für den
Kaiser – er hatte keinen Einfluss mehr auf die Wahl der Bischöfe, durfte sie
gerade noch als weltliche Lehensnehmer in ihr Amt einführen. Als dann Papst
Innozenz III. (1198-1216) dem Patriarchen von Konstantinopel schrieb, der
Herr habe "dem Petrus nicht nur die Leitung der ganzen Kirche,
sondern die
der ganzen Welt hinterlassen", hatte er den Gipfel der Macht erreicht:
"Niemals wieder besaß das Papsttum eine Machtfülle wie unter Innozenz III."
64 – auch wenn hundert Jahre später (1302) Bonifaz VIII. noch eins
draufsetzte: Es sei "für jede Kreatur heilsnotwendig, dem römischen Pontifex
zu unterstehen".
65
Ausgerechnet im 12. Jahrhundert, als das Papsttum auf den Höhepunkt seiner
Macht
zusteuert, erwächst ihm eine neue, unerwartete Bedrohung: Die Ketzer
sind wieder da! Ausgehend von Bulgarien bildet sich zunächst auf dem Balkan
die Bewegung der Bogumilen ("Gottesfreunde", benannt nach Bogumil, der im
10. Jahrhundert lebte), die stark manichäische Züge trägt: Die Entstehung
der Erde ist auf ein Einwirken dunkler, gegengöttlicher Kräfte zurückzuführen; der Leib ist ein Gefängnis der unsterblichen Seele, die es
gilt, durch die Überwindung des Bösen durch das Gute wieder zu durchlichten;
dies kann auch in aufeinanderfolgenden wiederholten Einverleibungen
geschehen. Die Bogumilen lehnen kirchliche Sakramente, Reliquien und
Zeremonien ab. Deshalb werden sie durch die kirchlichen und weltlichen
Behören des byzantinischen Staates verfolgt.
Wenig später entsteht eine ähnliche Bewegung in Südfrankreich. Sie nennen
sich selbst bonhommes, "Gutmenschen", erhalten von ihrer Umgebung die
Bezeichnung Katharer (vermutlich von griech. katharoi, die Reinen) oder
Albigenser (von der Stadt Albi, einem ihrer Hauptorte). Auch sie lehren,
dass in der Seele ein göttlicher Funke vorhanden sei. "Die Erlösung besteht
darin, dass der Mensch durch diesen Funken wieder zu Gott eingehen kann."
66
Den Katharern wird bis heute nachgesagt, sie hätten eine extrem dualistische
Lehre vertreten: dass es einen bösen und einen guten Gott gebe, die
sozusagen gleichberechtigt
gegeneinander kämpfen, und dass allein der böse
Gott die Welt geschaffen habe. Dies ist eine irreführende Vereinfachung. Man
muss berücksichtigen, dass sämtliche Schriften dieser Ketzer (das Wort kommt
wahrscheinlich von "Katharer") von der Kirche vernichtet wurden. In Wahrheit
haben zumindest die "gemäßigten Dualisten" unter den Katharern (es gab unterschiedliche Richtungen) die Auffassung vertreten, dass der "Gott der
Unterwelt" ursprünglich ein göttliches Wesen war, das – aufgrund der von
Gott allen Wesen geschenkten Willensfreiheit – von Gott abfiel. Daraufhin
entstanden in langen Zeiträumen die materielle Erde und der materielle
Körper. Hier sind unschwer Parallelen zur frühchristlichen Lehre des
Origenes zu erkennen.
Mindestens so bedeutsam wie die Lehre der Katharer war ihre Lebenspraxis:
kein
Fleischgenuss, Gleichberechtigung der Frauen, ein arbeitsames,
bescheidenes Leben, kein Wehrdienst. Statt einer Priesterkaste haben sie
eine Führungsschicht von "Vollkommenen" (perfecti oder parfaits), die sich
nach einer speziellen Einweihung (consolamentum)
verpflichten, zölibatär zu
leben – aber auch von ihrer Hände Arbeit – und keine Sünde mehr zu begehen.
Dieses bewusst einfache und gewaltlose Leben bildet einen eklatanten
Gegensatz zum Leben der katholischen Priester und Mönche in der damaligen
Zeit, unter denen Luxus, Schmarotzertum und Hurerei weit verbreitet waren.
Die Katharer erhielten großen Zulauf.
Doch damit nicht genug: In Lyon gründete der Kaufmann Petrus Waldus eine
weitere
Bewegung, die ein ethisch hochstehendes, gewaltloses Leben in
selbst gewählter Armut anstrebte. Sie wurden "Waldenser" genannt und bezogen
sich, im Gegensatz zu den Katharern, die nur das Johannesevangelium
anerkannten, auf die Bibel. Auch dort finden sich genügend Ansatzpunkte für
fundamentale Kritik an der Kirche: "Häuft euch keine Schätze an, die Motten
und Rost fressen" – "Du sollst nicht töten!" – "Auch sollt ihr niemand auf
Erden euren Vater nennen, denn nur einer ist euer Vater, der im Himmel. Auch
sollt ihr euch nicht ´Rabbi` nennen lassen ..." Als eine der ersten
Reaktionen verbot daher die Kirche auf zwei Synoden, 1229 und 1234, den
Laien das Lesen der Bibel in der Landessprache.
67
Die Päpste hatten die Mächtigen des Abendlands fast besiegt – nun drohte
ihnen plötzlich der gewaltlose Umsturz von unten.
Im Mittelalter hatte die Kirche immer wieder die Ergreifung und Hinrichtung
von Ketzern veranlasst – doch es handelte sich eher um Einzelfälle. Die
Provinzialsynode von Orleans beschloss beispielsweise 1022 den Tod von zehn
Ketzern – als Manichäer bezeichnet –, und sie wurden auf Befehl des
französischen Königs Robert II. auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Doch nun
stand man in Teilen Südfrankreichs einer regelrechten Volksbewegung
gegenüber. Man versuchte es zunächst mit "Theologie". Das "beste Pferd im
Stall" war gerade gut genug: Der "heilige" Bernhard von Clairvaux
(1091-1153), wortgewaltiger Kreuzzugsprediger und Abt des Reformklosters Clairvaux, reiste 1145 persönlich in den Süden, um, wie er seine Reise ankündigte, dem
"gefräßigen Wolf, der in eurem Land unter den Schafen
wütet", das Handwerk zu legen. In Toulouse und Albi hatte er mit seinen
Predigten nach zunächst frostigem Empfang zwar gewissen Erfolg: Er
zerpflückte von der Kanzel nach allen Regeln der Rhetorik die Thesen der
Ketzer, so wie das heute sogenannte "Sektenbeauftragte" auch tun, wenn sie
in eine Pfarrgemeinde kommen. Doch in dem berüchtigten Ketzernest Verfeil
wurden ihm die Grenzen aufgezeigt: Als er sich die Ritter vorknöpfen wollte,
die den Katharern Schutz gewährten, verließen diese wortlos den Saal.
Bernhard ging ihnen nach und wollte auf dem Marktplatz weiter sprechen.
"Aber die Bürger besetzten die Häuser ringsum und machten mit Läden und
Türen einen solchen Krach, dass man kein Wort verstehen konnte."
68 Bernhard
schüttelte demonstrativ den Staub von seinen Füßen und verfluchte die Stadt.
Nun sollten andere Seiten aufgezogen werden: Bernhard riet zur physischen
Vernichtung der unbelehrbaren Ketzer mit Hilfe der staatlichen Macht.
69 Doch
die Mühlen der Kirche mahlen langsam. Auf dem Dritten Laterankonzil (1179)
beschloss die Versammlung auf Empfehlung von Papst Alexander III.
(1159-1181) "die Anwendung von Gewalt gegen ´Ketzer` mit Hilfe des
weltlichen Arms". 70 Außerdem rief der Papst zu einem ersten Kreuzzug gegen
die Ketzer auf. Obwohl er allen Teilnehmern einen Ablass von zwei Jahren und
denen, die im Kampf gegen die Ketzer fielen, "ewige Rettung" versprach,
wurde es für den Papst ein Misserfolg – außer der Verwüstung einiger
Landstriche des Languedoc kam nichts heraus. Der folgende Papst, Lucius III.
(1181-1185), unternahm den nächsten Versuch: In einer Bulle (1184) "zur
Ausrottung der verschiedenen häretischen Lehren" schrieb er den Bischöfen
vor, die Irrgläubigen zu verbannen, ihr Eigentum zu konfiszieren, sie zu
"ewiger Ehrlosigkeit" zu verurteilen, ja sogar die katholischen Friedhöfe
von den Überresten der Häretiker zu säubern. (Wir schütteln den Kopf? Im 20.
Jahrhundert wird sich, wie wir noch sehen werden, die evangelische
Kirchengemeinde in Michelrieth weigern, den einzigen Dorffriedhof zur Beerdigung einer "Ketzerin" zur Verfügung zu stellen) Bemerkenswerter noch als diese
Bulle ist die Tatsache, dass es Lucius gelang, "sich der Unterstützung
Kaiser Friedrich Barbarossas zu versichern, der versprach, die Weisungen der
päpstlichen Legaten im Kampf gegen die vom Glauben Abgefallenen zu
befolgen". 71
Friedrich Barbarossa (1152-1190) hatte, um sich zu Beginn seiner Regierung
die
Unterstützung der Kirche zu sichern, 1155 bei seinem Krönungszug nach
Rom dem Papst sozusagen als "Morgengabe" den "Ketzer" Arnold von Brescia
mitgebracht und ausgeliefert, der die Laien dazu aufgefordert hatte, den
Klerikern ihren aufgehäuften Reichtum wegzunehmen (in den Augen der Kirche
wohl eine der schlimmsten Sünden). Arnold wurde gehängt, anschließend
verbrannt – "das Ergebnis des Honigmondes zu Beginn der Regierungszeit
Barbarossas mit dem Papsttum". 72 Zwanzig Jahre später konnte der Kaiser dem
Papst bei dessen Kampf gegen die Katharer allerdings nicht konkret
behilflich sein, denn er herrschte nicht über Südfrankreich. Und die Idee,
die Bischöfe vor Ort mit der Verfolgung der Ketzer zu beauftragen, brachte
wenig konkrete Ergebnisse. Selbst wenn der Bischof wollte – die Bevölkerung
"spielte kaum mit, auch die Obrigkeit wollte sich nicht zum Büttel Roms
hergeben". 73 Bei direkten Konfrontationen erwiesen sich die
"Ketzer" als
so schlagfertig, dass die Kirche sich genötigt sah, "die Disputationen mit
den Ketzern zu verbieten, um keine Niederlagen zu riskieren".
74 Auch ein
päpstlicher Legat konnte vor Ort auf einer Provinzialsynode in Montpellier
(1195) nichts ausrichten – die Ketzerei breitete sich nur noch mehr aus. Man
nahm es gar nicht so genau, ob es sich um Waldenser oder Katharer handelte,
nannte sie einfach alle "Albigenser". "Das ist typisch für den damaligen
Verfolgungsgeist und wohl für den Hass, wo immer er in Politik und
Geistesleben auftaucht", kommentiert Bernd Rill. "Man machte sich keine
Mühe, unter den Gegnern zu differenzieren – man hasste denjenigen, den man
gar nicht kannte." 75 Es ist eben einfacher – auch heute noch –, alle
"Sekten" in einen Topf zu werfen, als sich die Mühe einer Differenzierung zu
machen.
Solange die Obrigkeit die Ketzer schützte, konnte die Kurie kaum Erfolge
erzielen. Um weiter gehende "energische Maßnahmen" zu ergreifen, so der
Historiker Grigulevic, "bedurfte es eines energischen und fanatisch
gesinnten Papstes". 76 Dieser Mann war Innozenz III. (1198-1216). In ihm, so
der Historiker Rill, "war der Geist der römischen Imperatoren wiedergekehrt,
nur hatte er sich zeitgemäßerweise mit der päpstlichen Tiara verbunden. ...
Bereits in seiner Inaugurationsrede hatte der Papst die Vernichtung der
Ketzerei als seine Hauptaufgabe bezeichnet."
77 Innozenz kannte die
Prophezeiungen des kalabresischen Abtes Joachim von Fiore (1135-1202), der
für das Jahr 1260 den Beginn eines "Geistzeitalters" vorhergesagt hatte, das
die kirchliche Hierarchie überflüssig machen würde. Vielleicht verstärkte
das seine finstere Entschlossenheit, so etwas mit allen Mitteln zu
verhindern. Bereits zwei Monate nach Amtsantritt sandte er zwei Beauftragte
nach Frankreich und befahl ihnen: "Benutzt gegen die Häretiker das
geistliche Schwert der Exkommunikation, und wenn dieses nicht hilft, so gebraucht gegen sie das eiserne Schwert." Es sollten keine leeren Worte
bleiben. "Die päpstlichen Legaten versprachen den adligen Herren und
der französischen Krone für die Teilnahme an den Repressionen gegen die
Häretiker das Eigentum der letzteren und die Vergebung der Sünden. In einer
persönlichen Botschaft an den französischen König Philipp II. August rief
der Papst ihn auf, das Schwert gegen die ´Wölfe zu erheben, die die Herde
des Herrn verwüsten`." 78
Ein Jahr nach seinem Amtsantritt, 1199, erließ Innozenz neue Gesetze zur
Bekämpfung der Ketzer. Darin hieß es unter anderem:
"Es lasse sich niemand
verleiten von falschem Mitleiden (mit den Ketzern). ... Treu und Glauben
braucht einem Ketzer [gegenüber] nicht gehalten zu
werden, und der Betrug,
gegen ihn geübt, wird geheiligt."
79 Ein bis heute richtungsweisender Satz!
Als Graf Raimund von Toulouse sich nicht an der Verfolgung der Ketzer
beteiligen wollte, wurde er vom Legaten Peter von Castelnau exkommuniziert.
Dies ist ein unerhörter Vorgang, ein Eingriff des Papstes in eine
ausländische Staatsgewalt. Und nun überschlugen sich die Ereignisse: Der
päpstliche Legat Castelnau wurde erschlagen (1208) – wohl kaum von einem
Katharer, denn diese lebten gewaltlos. Doch darauf kam es gar nicht an – auf
einen solchen Anlass hatte der Papst nur gewartet: Unverzüglich rief er zum
Kreuzzug gegen Graf Raimund auf: "Erhebt euch, Soldaten Christi! Rottet
diese Gottlosigkeit mit allen Mitteln aus, die Gott euch eröffnen wird!
Streckt eure Arme weit aus und schlagt euch tapfer mit den Verbreitern der
Häresie; verfahrt mit ihnen schlimmer als mit den Sarazenen, denn sie sind
noch schlimmer als jene!" 80
Was mit den Sarazenen im ersten Kreuzzug geschehen war, wusste man: Man
hatte sie vernichtet, allein 1099 in Jerusalem 70 000 Menschen, die gesamte
Einwohnerschaft,
hingemordet. Den Teilnehmern am Ketzerkreuzzug winkte auch
diesmal wieder großzügiger Lohn: Die Vergebung der Sünden – und ein Erlass
ihrer Geldschulden! Da ließ es sich ohne Gewissensbisse morden – auch wegen
Gewaltverbrechen exkommunizierten Kriminellen wurde die Absolution
versprochen, wenn sie mitmachten. Der Krieg wurde mit "viehischer
Grausamkeit"
81 geführt. Allein bei der Eroberung von Beziers wurden 1209
mindestens 20 000 Menschen ermordet, darunter natürlich auch Katholiken.
"Erschlagt sie alle, Gott kennt die seinen", soll der päpstliche Legat
Arnold von Citeaux dazu gesagt haben. Auf jeden Fall ist überliefert, dass
er nach Rom gemeldet hat: "Gottes Zorn hat in wunderbarer Weise gegen die
Stadt gewütet." 82
Der Totschlag erfolgte mit dem ausdrücklichen Segen des Papstes. Denn dieser
hatte die Kreuzfahrerhaufen mit einer persönlichen Botschaft in die Schlacht
geschickt: "Vorwärts, ihr streitbaren Soldaten Christi! Ziehet den
Vorläufern des Antichrist entgegen und schlagt die Diener der alten Schlange
tot! Bis heute habt ihr vielleicht für vergänglichen Ruhm gekämpft, kämpft
jetzt für ewigen Ruhm! Bis heute habt ihr für die Welt gekämpft, kämpft
jetzt für Gott! Wir ermahnen euch nicht, Gott diesen großen Dienst zu
leisten für irgendeine irdische Belohnung, sondern um des Reiches Christi
willen, das wir euch voll Vertrauen versprechen."
83
Kann man sich eine größere Gotteslästerung vorstellen? Der Papst nimmt Bezug
auf die geheime Offenbarung des Johannes im Neuen Testament, in der das
Friedensreich Jesu Christi angekündigt wird. Ein Friedensreich – erkämpft
durch Plündern, Verwüsten, Foltern und Morden!
Die Gnadenlosigkeit der katholischen Kriegführung kam auch im Verhalten des
Anführers, Simon von Montfort, zum Ausdruck. Er schonte auch diejenigen
nicht, die ihre Absicht bekundeten, zum katholischen Glauben zurückzukehren.
"Als er einmal einen solchen Apostaten hinzurichten befahl, erklärte
er: ´Wenn er lügt, so ist das die Bestrafung für seinen Betrug; wenn er aber
die Wahrheit sagt, so sühnt er damit seine frühere Schuld!`"
84
Auch Raimund von Toulouse hatte keine Chance. Er war noch vor Beginn der
Kämpfe buchstäblich zu Kreuze gekrochen, um den völligen Verlust seiner
Grafschaft abzuwenden, und hatte sich – zum Zeichen seiner Reue – vor dem
Altar vom päpstlichen Legaten geißeln lassen. "Aber Innozenz", so Bernd
Rill, "hatte bereits den Stab über ihn gebrochen, denn er erkannte die
Notwendigkeit, den Adel des Landes zu brechen, weil dies eine Vorbedingung
zur Ausrottung der Ketzerei war. Er teilte seinen Legaten heimlich mit, man
solle die Dienste Raimunds in Anspruch nehmen, solange sie nützlich waren,
und ihn dann unter einem Vorwand, der sich schon ergeben würde, fallen
lassen." 85 So kam es dann auch: Durch fortgesetzte Schikanen und immer
weitergehende Forderungen provozierte man den Grafen und exkommunizierte ihn
noch zweimal – das letzte Mal endgültig, denn er starb im Bann und erhielt
nicht einmal ein richtiges Begräbnis. Sein Sohn, Raimund VII., wurde
gezwungen, die Grafschaft an den König von Frankreich zu vererben.
Raimunds tragisches Schicksal widerlegt die bis heute von katholischer Seite
gern ins Feld geführte Legende, die Kirche habe doch nur theologische
Verurteilungen
aussprechen können – die Bestrafung der Ketzer sei allein die
Aufgabe und der Wille des Staates gewesen. Die Exkommunikation nicht
willfähriger weltlicher Obrigkeiten – und es sollten weitere folgen – hatte
in der damaligen Zeit eine furchterregende Wirkung. Wurde ein Herrscher
gebannt, so war sein gesamtes Land im Bann, jegliche sakramentale Handlung
musste eingestellt werden – und die Menschen waren überzeugt, dass
beispielsweise alle während der Geltungsdauer eines Banns Verstorbenen (und
ohne kirchliches Begräbnis Begrabenen) auf ewig verdammt seien.
86
Der Kreuzzug gegen die Albigenser dauerte zwanzig Jahre (1209-1229) und
endete, von spärlichen Resten abgesehen (die später noch aufgerieben wurden,
etwa auf dem Montsegur 1244), mit der völligen Ausrottung der Katharer.
Sofort nach der Eroberung von Burgen, in denen sich neben Rittern auch
geflüchtete Katharer aufhielten, veranstalteten die mitgereisten Legaten des
Papstes Schnellgerichte und führten die – meist bereitwillig und gefasst in
den Tod gehenden – Katharer auf den Scheiterhaufen. Damit "hatte die
Inquisition in Waffen ihr Haupt erhoben, ein höchst aufwendiges Unterfangen.
Aus dem simplen Grunde, weil nicht jedes Jahr Kreuzzug abgehalten werden
konnte, dieser nur als ´ultima ratio` der Ketzerbekämpfung in Frage kommen
konnte, war es erforderlich, der Inquisition ein organisatorisches Gerüst
auch für Friedenszeiten zu geben." 87
Innozenz war das völlig klar: "Die Kirche brauchte eine Speerspitze und sie
schaffte sich diese in der durchorganisierten Inquisition."
88 Noch während
des Ketzerkreuzzugs traf er dafür die Vorbereitungen. Er berief für das Jahr
1215 ein Konzil ein.
Auf diesem Konzil im Lateran in Rom wurde vom Papst in allen Einzelheiten
der
programmatische Grundstein für die Inquisition gelegt. Lediglich bei der
Durchführung gab es später noch entscheidende Änderungen, vor allem in der
Frage, wer mit dieser Aufgabe betraut werden sollte.
"Die verurteilten Häretiker", so heißt es im Kanon 3 der Konzilsbeschlüsse,
"sollen den weltlichen Obrigkeiten selbst oder deren Statthaltern zur
gebührenden Bestrafung übergeben werden." Die Güter der Verurteilten sind zu
beschlagnahmen. "Wer sich bloßem Verdacht ausgesetzt hat, den soll, sofern
er nicht gegenüber diesen Verdachtsgründen durch seine Haltung und eine
angemessene Rechtfertigung seine Unschuld nachgewiesen hat, das Schwert des
Kirchenbanns treffen. Bis zu ihrer völligen Entlastung sollen solche Leute
von allen gemieden werden. Bleiben sie ein ganzes Jahr in der
Exkommunikation, so soll man sie daraufhin als Häretiker verurteilen."
Angesichts der damaligen Rechtspraktiken, insbesondere der Folter, ist es
natürlich blanker Zynismus, von der Möglichkeit einer "Entlastung" zu
sprechen. Vor allem aber findet hier ein Prinzip
Anwendung, das im Grunde bis heute in abgewandelter Form in Kraft ist: die
Umkehrung der
Beweispflicht. Wer unter dem Verdacht der Ketzerei steht, der soll beweisen,
dass er kein Ketzer ist – nicht etwa umgekehrt. Heute gibt es zwar keine
Folter mehr. Doch wer heute von den Massenmedien auf Betreiben der Kirchen
als "Sektierer" diffamiert wird, der bleibt es auch und wird nicht nur von
guten Katholiken nach Kräften gemieden. Doch dazu später mehr.
Nun folgt eine entscheidende Passage: Die weltlichen Herren sollen "ermahnt,
veranlasst und notfalls durch kirchliche Zensuren gezwungen werden", die
Häretiker aus ihren Gebieten zu "entfernen". Wenn ein Landesherr es
unterlässt, "sein Land von dieser abscheulichen Ketzerei zu säubern, soll er
... mit der Exkommunikation belegt werden". Macht der Fürst seine Unterlassung nicht innerhalb eines Jahres gut, so wird der Papst die
Vasallen des Fürsten von ihrem Treueschwur lösen "und dessen Land den
Katholiken zur Inbesitznahme" überlassen.
Dass dies keine leere Drohung war, hat bereits der Fall des Raimund von
Toulouse ein für alle Mal gezeigt. Die Exkommunikation wurde 1215 aber auch
allen "Gönnern, Verteidigern und Beschützern" der Ketzer angedroht. Das
bedeutet Verlust der bürgerlichen Rechte, keine Zulassung zu Zeugenaussagen
und kein Recht, zu erben oder zu vererben, kein kirchliches Begräbnis. Doch
auch wer "mit diesen Leuten, nachdem die Kirche sie öffentlich
gebrandmarkt
hat, weiterhin Umgang pflegt, soll der Strafe der Exkommunikation verfallen
sein". Das heißt: Nicht nur mit den Ketzern selbst darf man keinen Umgang
pflegen, sondern auch mit allen, die mit ihnen Umgang gepflegt haben. Sie
sind Aussätzige, Unberührbare geworden. Jetzt versteht man auch, weshalb es
kaum jemand wagte, die Familie eines eingesperrten "Ketzers", die nach der
Beschlagnahme des gesamten Vermögens auf der Straße stand, aufzunehmen oder
ihr weiterzuhelfen. Frau und Kinder waren dem Hungertod preisgegeben. Der
Verbrechensapparat der Kirche trieb immer neue grausame Blüten.
Wer ohne Erlaubnis der Kirche predigte, und sei es auch nur "im kleinen
Kreise", sollte ebenfalls exkommuniziert werden. Schließlich sollten die
Bischöfe mindestens einmal im Jahr jede Gemeinde besuchen oder visitieren
lassen und "die ganze Nachbarschaft schwören lassen, dem Bischof die Leute
gewissenhaft anzuzeigen, die ihnen dort als Ketzer bekannt sind, oder
solche, die geheime Konventikel abhalten oder in ihrer Lebensführung und
ihren Sitten von dem üblichen Verhalten der Gläubigen abweichen". Nur nicht
auffallen, immer schön ducken war also die Devise, wenn man nicht ins
Räderwerk der Inquisition kommen wollte. Die Bischöfe, die diese Aufgabe
nicht erfüllten, sollten abgesetzt werden.
Um eine lückenlose Kontrolle der Bevölkerung zu erreichen, wurde jeder
Katholik verpflichtet, mindestens einmal im Jahr – zu Ostern – bei seinem
Ortspfarrer zu beichten und die Kommunion zu empfangen.
89 Dieses Gebot
besteht übrigens zumindest auf dem Papier bis heute; es wurde in ländlichen
Gegenden Deutschlands bis weit ins 20. Jahrhundert hinein praktiziert: Der
Pfarrer ging vor Ostern von Haus zu Haus und ließ sich die "Beichtzettel"
aller Bewohner zeigen.
Die Androhung der Absetzung für nicht kooperative Bischöfe war keine
Floskel. Sie wies auf eine noch bestehende Schwachstelle hin: den
möglicherweise mangelnden Verfolgungseifer (oder überhaupt mangelnden
Arbeitseifer) des jeweiligen Bischofs oder Ortspfarrers. Dies konnte nur
durch ortsunabhängige Kräfte mit entsprechenden Befugnissen geändert werden.
Eigens für diese Aufgabe wurde nun ein kirchlicher Orden gegründet: die
Dominikaner. Der spanische Priester Dominikus (1170-1221) hatte sich in
Südfrankreich dadurch hervorgetan, dass er die äußere Armut der Katharer
nachahmte und gegen die Ketzerei predigend zu Fuß durch die Lande zog. In
einem Kloster in Sichtweite des Montsegur, einer der letzten
Katharerhochburgen, erfand er nach einer "Vision" den Rosenkranz, um auch
die "Mutter Gottes" in die Ketzerverfolgung mit einzuspannen. Während des
Ketzerkreuzzugs fungierte er als Berater des Heerführers Simon von Montfort
und hatte über die Ketzer zu urteilen und sie auf die Scheiterhaufen zu
schicken. "Es dürfte nur wenige Heilige geben, an deren Händen mehr Blut
klebte", vermuten die Autoren Baigent und Leigh.
90
1216 wurde sein neuer
Orden vom Papst anerkannt. In seinen Statuten orientierte er sich nicht von
ungefähr an den Augustinern, dem Orden des "geistigen Vaters der
Inquisition", Augustinus. Das Emblem des Ordens war ein Hund mit einer
brennenden Fackel im Maul – denn "die Dominikaner bezeichneten sich selbst
mit einem Wortspiel gelegentlich als ´Hunde des Herrn` (Domini canes), was
mit dem Namen ihres Begründers dem Klang nach übereinstimmt".
91
Papst Gregor IX., ein "halsstarriger Greis von cholerischer Gemütsart"
92,
erteilte 1233 den Dominikanern den Auftrag, Häresien auszumerzen, und
verkündete die Einrichtung eines ständigen Tribunals, das mit
Dominikanerbrüdern besetzt werden sollte. Damit war die Inquisition
offiziell etabliert – wohlgemerkt: nachdem die Katharer in Südfrankreich
fast ausgerottet waren. Es ging also darum, auch noch die letzten Sympathien
im Volk für jedwede Ketzerei ein für allemal zu beseitigen.
Die ersten Inquisitoren wurden bereits 1234 für Toulouse ernannt. Wie ernst
sie ihre Aufgabe nahmen, zeigte sich noch im selben Jahr: Die
Dominikanermönche erhielten die Nachricht, dass eine im Sterben liegende
alte Frau soeben noch das katharische Sakrament des consolamentum
erhalten
hatte. Viele Katharer ließen sich erst kurz vor ihrem Tod unter die
"Vollkommenen" aufnehmen. Die eifrigen Ketzerjäger platzten in das
Sterbehaus, verhörten die Frau und ließen sie schließlich mitsamt ihrem Bett
zum Richtplatz tragen, wo sie ohne Aufschub verbrannt wurde. "So krönten die
Dominikaner von Toulouse ihre Feier zu Ehren des gerade heiliggesprochenen
Dominikus mit einem Menschenopfer."
93
Wen wundert es, dass die Konsuln der Stadt die Dominikaner schon ein Jahr
später aus der Stadt vertrieben? Doch sie sollten es bereuen: Sie wurden
exkommuniziert und mussten die Inquisition zurückkehren lassen. Die
katholischen Mönche rächten sich, indem sie sogar die Knochen verstorbener
angeblicher Häretiker ausgruben, durch die Straßen trugen und
öffentlich
verbrannten. 94
All dies war natürlich nur möglich, wenn der
Staat, angefangen bei den obersten Landesherren, die Tätigkeit der
Inquisition nicht nur duldete, sondern regelrecht anordnete. Den
Durchbruch erzielte die Kirche hier ausgerechnet – bittere Ironie der
Geschichte – bei einem Kaiser, der zwar seine Karriere als "Mündel des
Papstes" begonnen hatte, doch alles andere als ein glühender Katholik war:
Friedrich II. von Hohenstaufen (Regierungszeit 1212-1250), der fließend
Arabisch sprach, sich eine muslimische Leibwache hielt und selbst zweimal
vom Papst exkommuniziert wurde, weil er dessen Macht in Italien bedrohte.
Gerade wegen dieses Machtkampfes wollte Friedrich sich in Bezug auf die
Bekämpfung der Ketzer keine Blöße geben – und sich, was auch gelang, durch
derlei Zugeständnisse die Kaiserkrone vom Papst erkaufen. Er erließ 1224 in
Padua ein Edikt gegen die Ketzerei, in dem er die weltlichen Behörden seines
Reiches verpflichtete, alle der Häresie Verdächtigen zu verhaften und vor
Gericht zu stellen, wenn die Kirche oder auch einfache eifernde Katholiken
dies forderten. Der Staat trat also sozusagen auf bloßen "Zuruf" in Aktion;
er verkam in Bezug auf die Ketzerjagd zum bloßen Büttel der Kirche. Auch die
mit der Kirche "wiederversöhnten" Ketzer sollten gezwungen werden, an der
Aufspürung anderer Häretiker mitzuwirken. Es genügte also nicht, für sich
selbst eine – tatsächliche oder behauptete – Ketzerei einzugestehen, weil
man dadurch sein Leben retten wollte – man musste immer weitere Ketzer
benennen. Dieses Schneeballprinzip wurde bis in die beginnende
Neuzeit beibehalten und führte zu den großen "Hexen"-Epidemien des 17. Jahrhunderts,
bei denen ganze Dörfer und halbe Städte ausgerottet wurden.
Wer der Ketzerei überführt war, sollte entweder auf dem Scheiterhaufen
verbrannt werden, oder man sollte ihm die Zunge herausreißen, "da sie mit
dieser Gott gelästert hätten". 95 Das Haus des Ketzers wurde zerstört. Wer
aus Todesangst seine "Irrlehren" widerrief, sollte "begnadigt" werden – zu
lebenslangem Kerker. Unter den damaligen Bedingungen – Kälte, Ratten,
Feuchtigkeit – war dies ein Todesurteil auf andere Art, das viele dazu
brachte, ihre Glaubensüberzeugung wieder zu bekunden, um lieber schnell auf
dem Scheiterhaufen zu sterben.
Das Edikt Friedrichs II. enthielt auch die Sippenhaft: Die Nachkommen der
Häretiker bis in die zweite Generation hinein durften keine öffentlichen
Ämter ausüben. "Eine Ausnahme wurde nur für Kinder gestattet, die ihre
Eltern selbst angezeigt hatten." 96
"Die Obrigkeit wurde durch Eid verpflichtet, alles nur Mögliche zur
Aufspürung der Ketzer zu tun. Ein Magistrat, der sich dabei saumselig
zeigte, verwirkte sein Amt." 97 Wenige Jahre später, 1229, beschloss die
Synode von Toulouse: "Die Herren der verschiedenen Distrikte sollen in
Villen, Häusern und Wäldern den Häretikern fleißig nachforschen lassen und
ihre Schlupfwinkel zerstören. Wer künftig noch auf seinem Gebiet einen
Häretiker weilen lässt, sei es gegen Geld oder aus sonst einem Grunde, der
verliert ... dies Besitztum auf immer und sein Leib ist seinem Obern zu
gebührender Strafe verfallen." 98
All diese Bestimmungen mögen den Leser wie düstere Töne aus einer fernen
Vergangenheit anmuten, die mit unserer heutigen, aufgeklärten,
demokratischen Zeit nichts zu tun haben. Doch sie werden mit Bedacht
hier etwas ausführlicher zitiert. Es gibt heute zwar nicht mehr die
öffentliche Hinrichtung durch Feuer oder Schwert. Aber es gibt die
"Hinrichtung" durch die Massenmedien, durch den Rufmord. Und wie von
Geisterhand gibt es auch reflexartige Verhaltensweisen, die durch ein Reizwort wie
"Sekte" auch in
unserer heutigen Zeit in Sekundenschnelle ausgelöst werden können. Sobald
ein "Magistrat", z. B. ein Bürgermeister, etwas von "Sektierern" hört, die
sich angeblich auf "seinem" Gemeindegebiet ansiedeln wollen, reagiert er
plötzlich wie im Mittelalter und vergisst das Grundgesetz. Denn die "Sekte"
muss weg! In Kapitel drei werden mehrere solcher Fälle
geschildert. Steckt die Angst vor den Bestimmungen des 13. Jahrhunderts noch
in den Knochen oder in den Genen, im kollektiven Unterbewusstsein einer über
Jahrhunderte tyrannisierten und terrorisierten Gesellschaft? Oder, falls
man, wie die "Ketzer", an die Möglichkeit einer Wiederverkörperung glaubt:
Steckt die Angst vor den einstmals schrecklichen Folgen eines von der
kirchlichen Linie abweichenden Verhaltens gar in der Seele so manches
heutigen Politikers? Man bedenke, dass seinerzeit sogar Kaiser Friedrich II.
selbst vom Papst gebannt wurde – und mit ihm am 23.3.1228 "alle Orte, an
denen der Kaiser weilte". 99
Grigulevic stellt fest: "Dieses Edikt Friedrichs II. bedeutete einen großen
Sieg der Kirche, denn es weitete die auf dem ... Konzil formulierte
Bestimmung über die Verantwortung der weltlichen Macht für die Verfolgung
und Ausrottung der Häresie auf das gesamte deutsche Reichsgebiet aus. Jetzt
lag die Verantwortung ... für die Verfolgung der Häretiker auf allen,
angefangen beim Kaiser und endend beim letzten Bauern."
100 Die Kirche
wiederum griff die kaiserlichen Erlasse auf – die, wie der Inquisitor
Bernhard Gui schreibt, "auf Betreiben des apostolischen Stuhles" zustande
gekommen waren 101 –, erklärte sie zu kirchlichem Recht und machte den
weltlichen Regierungen ihrerseits die Auflage, sie in ihre Gesetzbücher
aufzunehmen. 102 Papst Innozenz IV. verkündete in seiner Bulle
"Ad exstirpanda" (Zur Ausrottung, 1252) schließlich, dass Gehalt und Unkosten
der Inquisitoren der jeweilige Fürst zu tragen hatte. (Auch heute noch
lassen sich die Kirchen ihre moderne Ketzerverfolgung gerne aus Staatstöpfen
bezahlen.) Der "weltliche Arm" wurde verpflichtet, die Inquisitoren in
jedweder Form zu unterstützen und die von ihnen verhängten Urteile innerhalb
weniger Tage zu vollstrecken. "Auf Forderung der Inquisitoren waren die
weltlichen Behörden verpflichtet, diejenigen zu foltern, die sich weigerten,
Häretiker auszuliefern." 103
Doch die Kirche wäre nicht sie selbst, wenn sie nicht gleichzeitig mit der
Installierung einer gut geölten und bis ins Kleinste durchorganisierten
Säuberungsmaschine eine verbale Beschönigungsfloskel mitgeliefert hätte.
Nach der Verurteilung eines Ketzers durch ein kirchliches Gericht wurde der
Delinquent dem "weltlichen Arm" in der Regel mit der Aussage übergeben: "Wir
empfehlen dem säkularen Gericht jedoch mit Nachdruck, bei der Urteilsfindung
Mäßigung walten zu lassen, damit kein Blut vergossen werde und keine Gefahr
für das Leben bestehe." 104 Diese Formulierung beim Übergabe-Ritual an den
Henker war blanker Zynismus, eine glatte Lüge. Denn jeder wusste, dass die
Kirche etwas ganz anderes wollte. Und jeder wusste auch, was dem Landesherren blühen würde, wenn er diese hohlen, verlogenen Phrasen wörtlich
nähme.
Die Kirche "ernährt sich von den Häretikern": Thomas von Aquin
Das Öl für den reibungslosen Lauf der Inquisitionsmaschinerie lieferten im
materiellen Sinne die konfiszierten Gelder der verurteilten "Ketzer" – im "geistigen" bzw.
ungeistigen Sinne jedoch die Rechtfertigungen der
Theologen, bis hinauf zum damaligen katholischen "Chefideologen", dem bis
heute hoch angesehenen Kirchenlehrer Thomas von Aquin (1225-1274).
Der 1323 heilig gesprochene Thomas lehrte, dass
hartnäckige Häretiker den Ausschluss aus dem Leben durch die Todesstrafe verdienten.
"Die Religion zu entstellen, von der das ewige Leben abhängt, so
lehrte Thomas, sei ein schwereres Vergehen als die Fälschung von Münzen, die
ja zur Befriedigung der Bedürfnisse des zeitlichen, irdischen Lebens
dienten. Wenn also die Falschmünzer oder andere Verbrecher von den
weltlichen Fürsten mit Recht vom Leben zum Tode befördert würden – mit wie
viel größerem Recht müssten dann nicht die Ketzer nach ihrer Überführung
sowohl aus der Kirchengemeinschaft ausgeschlossen als billigerweise auch
hingerichtet werden?"
105 Wenn ein
zunächst "reuiger" Ketzer, den die Kirche am Leben gelassen habe, wieder
rückfällig werde, so dürfe die Kirche keine Nachsicht üben – weil sie andere
anstecken und diese umso sorgloser der Häresie verfallen könnten.
Rückfällige werden zwar "wieder aufgenommen zur Buße, nicht aber so, dass
sie von der Verurteilung zum Tode befreit werden".
106 Thomas von Aquin war
überzeugt, dass die Anwesenheit der "bösen" Ketzerei den Sinn habe, die "gute" richtige Lehre um so besser erkennen zu lassen; die Vernichtung des
Bösen festige das Gute. "Ähnlich wie der Löwe sich vom Esel ernähre, so
nähre sich das Gute vom Bösen." Deshalb müsse "sich die Kirche ´von den
Häretikern ernähren im Namen der Rettung aller Gläubigen`".
107
Diese ungeheuerliche Aussage ist entlarvend. Sie enthält unfreiwillig ein
gerüttelt Maß an tiefenpsychologischer Wahrheit, und zwar über die
Jahrhunderte hinweg. Sie
belegt, was der Religionswissenschaftler und
Kirchenkritiker Hubertus Mynarek über die "moderne Inquisition" unserer Tage
schreibt: "In gewisser Weise ist der Kampf gegen die neuen religiösen
Bewegungen schon wieder eine Vitalitätsspritze für die erstarrte Kirche.
Einen letzten Funken eigenen Lebens zu verspüren vermag sie offenbar nur
noch, indem sie den vermeintlichen Gegner inquisitorisch bekämpft. ... Je
toter der Großleichnam Kirche ist, um so mehr Gift, Leichengift, verspritzt
er gegen alle, in denen er mehr Leben vermutet."
108
Dass die Ansicht des "Doctor angelicus", des "engelgleichen Doktors" Thomas
von Aquin über die Notwendigkeit der Ketzervernichtung die Inquisition über
Jahrhunderte prägte, sieht man an einer Aussage des vatikanischen
Hoftheologen, des "heiligen" Bellarmino (1542-1621) mehr als 300 Jahre später: "Die
Erfahrung lehrt, dass es keine anderen Heilmittel für die Ketzer gibt als
den Tod. Denn die Häretiker verachten die Exkommunikation und sagen, sie
wäre ein kalter Blitz, und wenn man ihnen mit Geldstrafen droht, so werden
sie von anderen ausgehalten; wenn man sie in ein Gefängnis wirft oder ins
Exil schickt, so verderben sie ihre Nachbarn mit Reden und Büchern. Also
bleibt als
einziges Heilmittel [remedium], sie beizeiten zu töten."
109
Das Ziel: den Menschen Furcht einflößen
Wenn Folter und Tod auch zum "Tagesgeschäft" der Inquisition gehörten, so
war doch ihr Hauptziel nicht die physische Vernichtung der Ketzer, sondern
die Ausrottung der Ketzerei schlechthin. Um dieses Ziel zu erreichen, tat
die Kirche alles, um ein Klima der Einschüchterung zu schaffen. Ein
spanischer Inquisitor erklärte es 1578 einem Kollegen so: "Wir müssen uns
daran erinnern, dass die Verfahren und Exekutionen nicht in erster Linie
dazu dienen, die Seelen der Angeklagten zu erretten, sondern vor allem dazu,
das Gemeinwohl zu fördern und den Leuten die Furcht einzuflößen."
110
Was er damit meinte, wird deutlich, wenn man sich die von der Inquisition
verhängten Strafen ansieht. Verschiedene Berechnungen über Opferzahlen
weisen
übereinstimmend darauf hin, dass auf jeden zum Tode verurteilten
"Ketzer" etwa zehn weitere kamen, die zu anderen Strafen verurteilt
wurden. 111 Hierzu gehörte die Kerkerstrafe, unter den damaligen Umständen
nichts anderes als ein verzögertes Todesurteil. Oder der Verurteilte musste
eine mehrjährige Wallfahrt, etwa nach Santiago de Compostela, machen – für
einen älteren Mann auch eine Art Todesurteil; bei jüngeren Delinquenten
nicht selten ein Todesurteil für ihre Familie – denn diese stand nun ohne
Ernährer da. Der Einschüchterungscharakter der Inquisition kommt jedoch auch
bei den Strafen, die bei "leichteren Vergehen", verhängt wurden, zum
Ausdruck, etwa bei der regelmäßigen Geißelung: "Der Ketzer ... musste jeden
Sonntag entblößt ... und mit einer Rute in der Hand in der Kirche
erscheinen. An einer bestimmten Stelle der Messe pflegte der Priester ihn
dann vor der versammelten Gemeinde der Gläubigen voller Inbrunst
auszupeitschen ... Damit war die Strafe jedoch noch nicht abgegolten. Jeden
ersten Sonntag im Monat wurde der Büßer genötigt, alle Häuser aufzusuchen,
in denen er sich jemals mit anderen Ketzern getroffen hatte, und in jedem
Haus wurde er aufs Neue gezüchtigt. Darüber hinaus musste er an Festtagen
jede feierliche Prozession durch den Ort begleiten, wobei er wiederum
gegeißelt wurde. Diese Tortur musste das Opfer für den Rest seines
Lebens über sich ergehen lassen – es sei denn, der Inquisitor ... erinnerte
sich seiner beim nächsten Besuch und begnadigte ihn."
112
"Das war nicht der Gott der Liebe und des Erbarmens, der hier auftrat",
kommentiert Bernd Rill, "das war der rächende Jehovah des Alten Testaments".
113
Eine ähnlich demoralisierende und terrorisierende Wirkung – sowohl auf den
Verurteilten selbst wie auf seine Umgebung – übten große safrangelbe
Kreuze aus, die lebenslang, gleich ob im Haus oder außerhalb, hinten und
vorne auf der Kleidung getragen werden mussten. "So war der Büßer ständig
der gesellschaftlichen Verachtung ausgesetzt, der Erniedrigung und dem
Spott, manchmal auch körperlicher Gewalt. Menschen, die durch diese Kreuze
stigmatisiert waren, wurden von ihren Mitmenschen geschnitten; niemand wagte
es, Geschäfte welcher Art auch immer mit ihnen zu machen. Für unverheiratete
junge Frauen wurde es unmöglich, einen Ehemann zu finden."
114 Ketzerischen
Ärzten war es verboten, ihren Beruf weiter auszuüben.
115
Solche "leichteren" Strafen wurden mit Vorliebe bei Verdächtigen
eingesetzt, die sich entweder selbst angezeigt hatten oder die ihre "Gedankenverbrechen" ohne großen Widerstand bekannt hatten. Kann man sich
eine perfidere soziale Kontrolle vorstellen als eine lebenslange
Kennzeichnung? So versuchte man auf der einen Seite zu verhindern, dass der Überführte jemals wieder auf
"falsche" Gedanken kam. Zum anderen wurde allen Mitbürgern auf brutale Weise
klargemacht, dass sich derlei Ausflüge in nichtkirchliche Gedankenwelten
nicht lohnten. Durch solche und ähnliche Maßnahmen erreichte die Kirche,
dass eine breite Sympathie der Bevölkerung für die Ketzer wie im
Südfrankreich für die Katharer nicht wieder aufkommen konnte. Im Gegenteil:
"Der Geist der Zeit war unduldsam geworden", so Bernd Rill. "Waren die
Albigenser ... noch von ihren Mitbürgern gedeckt worden, so standen breite
Volksmassen nunmehr eindeutig auf der Seite der Inquisition."
116
Dies erschien den meisten schon aus purem Selbsterhaltungstrieb geboten.
Denn es wimmelte überall in Europa von Spitzeln und Denunzianten. "Familiares",
"Vertraute", hießen diese "informellen Mitarbeiter" der
Inquisition, die sich aus den verschiedensten Schichten der Gesellschaft
rekrutierten. Auch dem Pfarrgeistlichen, der "in den ländlichen Gebieten die
Rolle des Spürhundes" ausübte, standen "zwei Gehilfen aus der Laienwelt zur
Seite". 117 Als Grund, um in die Mühle der Inquisition zu geraten, reichte
eine Beschuldigung, "die eine Person gegen eine andere erhob wegen der
Zugehörigkeit zu einer Sekte bzw. Sympathie oder Hilfe für einen Ketzer".
118
Doch es sollte nichts dem Zufall überlassen werden. Damit der Verfolgungseifer des inquisitorischen "Bodenpersonals" nicht durch Trägheit und Routine allzu sehr erschlaffte, trat in regelmäßigen Abständen der Chef selbst in Aktion: Der Besuch des Inquisitors wurde angekündigt. Gleich nach seinem Eintreffen versammelte er die Gemeinde in der Kirche und erläuterte in der Predigt "die Unterscheidungsmerkmale der verschiedenen Häresien, die Kennzeichen, an denen man die Ketzer erkennen könne, die Schliche, auf die sie sich einließen, um die Wachsamkeit der Verfolger einzuschläfern, und schließlich die Formen und Methoden der Meldung bzw. Anzeige". 119 Wie sich die Bilder trotz aller Veränderungen gleich bleiben: Wer schon einmal den Vortrag eines "Sektenbeauftragten" in einem kleinen Dorf mit erlebt hat, zu dem die aktiven Kirchgänger in der Regel vollzählig angetreten sind, um alles über die "gefährlichen Irrlehren" unserer Tage zu erfahren, wer die Stimmung zwischen sensationsbegieriger Erwartung und aggressiver Verteidigungshaltung gespürt hat, der weiß, was gemeint ist. Das Klima bei der Ankunft des Inquisitors dürfte im Mittelalter jedoch noch wesentlich gespannter gewesen sein, saßen doch gezwungenermaßen auch die noch nicht "enttarnten" oder vermeintlichen Ketzer mit in den harten Kirchenbänken. Den Gläubigen wurde zur Auflage gemacht, binnen einer festgelegten Zeit alle verdächtigen Personen beim Inquisitor anzuzeigen. Wer es nicht tat, obwohl er etwas "wusste", wurde selbst wie ein Ketzer behandelt. Man kann sich die Hysterie lebhaft vorstellen, die dieser kirchliche Gesinnungsterror verursachte. Lieber selbst andere anzeigen, ehe ich angezeigt werde, hieß für viele die rettende Parole. "Der traurige Ruhm, der die Inquisition begleitete, schuf unter der Bevölkerung eine Atmosphäre des Schreckens, des Terrors und der Unsicherheit, die eine Welle von Denunziationen erzeugte, deren überwältigende Mehrheit Erfindungen oder törichte und lächerliche Verdächtigungen waren." 120 Die Hysterie führte auch dazu, dass sich, wie etwa in Spanien, Menschen selbst anzeigten, weil sie bei sich Züge der Ketzerei festgestellt zu haben meinten. Dabei hatten sie vielleicht nur geflucht oder aus Versehen an einem Fasttag Fleisch gegessen. Oder Familienmitglieder, Freunde, Nachbarn zeigten sich gegenseitig an.
Wer einmal in das Räderwerk der Verhöre gelangte, für den gab es kein
Entrinnen mehr. Wollte er lebend herauskommen, so musste er möglichst rasch
etwas gestehen, sich auf keinen Fall "hartnäckig" zeigen. Doch der Preis für
eine "leichtere" Strafe war immer, dass er auch andere anzeigen musste. Die
Spirale drehte sich. Eine Verteidigung war unmöglich, denn die Anzeigen
wurden grundsätzlich anonym behandelt. "Aussagen zugunsten des Angeklagten
wurden jedoch nicht berücksichtigt, da man der Ansicht war, dass diese durch
verwandtschaftliche Bande oder durch sonstige Abhängigkeiten des Zeugen vom
Beschuldigten hervorgerufen worden waren. ... Persönliche
Gegenüberstellungen der Anklagezeugen mit den Inhaftierten waren verboten."
121
Auch hier werden wir in der Gegenwart auf Parallelen stoßen: Argumente für
eine des "Sektierertums" bezichtigte neue religiöse Bewegung werden von den
Medien so gut wie nicht wahrgenommen. Die Betroffenen werden zu den
Vorwürfen, und seien sie noch so abstrus, grundsätzlich nicht befragt.
Und
auch die Inquisitoren von heute lieben es, mit anonymen Geschichten von
sogenannten "Aussteigern" Stimmung zu machen. Auch heute noch bleiben sie
über Jahre bei den gleichen Lügen, auch wenn diese längst widerlegt sind.
Auch die Inquisitoren des Mittelalters bestanden "weiterhin auf den
Beschuldigungen, selbst in solchen Fällen, wo sie sich als Verleumdungen und
Erfindungen der Denunzianten herausgestellt hatten".
122
Die feierliche Hinrichtung, das "Autodafé" (wörtlich Akt des Glaubens), gibt
es heute allerdings nicht mehr. Sie dauerte meist den ganzen Tag, mit
mehreren Messen, mit der Verlesung langatmiger Urteile. Auch die nicht zur
Hinrichtung Bestimmten mussten daran teilnehmen und erfuhren meist erst in
letzter Minute, was genau auf sie zukommen würde. Am Ende dann die
Hinrichtung – zum Scheiterhaufen Holz herbei tragen zu dürfen, galt als
Auszeichnung und brachte einen gewissen Sündenablass ein. "Während der
Häretiker, je nach Windrichtung, erstickte oder langsam verbrannte, sangen
die versammelten Katholiken" fromme Lieder, so
Karlheinz Deschner. 123
Gibt es solches heute wirklich nicht mehr? Man muss es nur auf unsere Zeit
übertragen. Wo versammeln sich heute Menschen, wenn es ein Großereignis zu
bestaunen gilt? Das Fernsehen liefert es ihnen frei Haus. Heute ist es für
nicht wenige Fernsehjournalisten und Talkmaster, bekannte wie weniger
bekannte, eine große Ehre, in einer Reportage, einem Magazin oder einer
Talkshow die gefährlichen "Sekten" so richtig vorzuführen.
Eine entsprechend
hohe Einschaltquote ermöglicht einen perfekte Rufmord: Aus der ehemals öffentlichen Verbrennung – mit all den dabei entstehenden schmutzigen
Rückständen – wird eine klinisch "saubere" öffentliche Hinrichtung durch die
Massenmedien.
Doch wir greifen vor. Festzuhalten bleibt zur mittelalterlichen Inquisition
noch, dass es aus ihr weder zeitlich noch räumlich ein Entrinnen gab. Auch
ohne Computer und Datenübertragungsnetze wurden alle Informationen
"akribisch festgehalten. So kam allmählich eine gigantische ´Datenbank`
zusammen, die ständig durch Protokolle weiterer Befragungen ergänzt wurde.
... So konnte man die Verdächtigen auch noch mit Vergehen und Verbrechen
konfrontieren, die sie dreißig oder vierzig Jahre zuvor begangen hatten –
oder die ihnen damals in die Schuhe geschoben worden waren."
124 Durch die
überstaatliche
Organisation der Inquisition "gab es keinen Winkel im
katholischen Europa mehr, in dem nicht die Scheiterhaufen rauchten, auf
denen man vermeintliche oder wirkliche Ketzer verbrannte".
125 "Die
Inquisition", so Henry Charles Lea, "stellte eine wirkliche überregionale
Polizei dar ... Die Inquisition hatte einen langen Arm und ein unfehlbares
Gedächtnis, so dass wir das geheime Grauen wohl verstehen können, das sie
sowohl durch die Geheimhaltung ihrer Tätigkeit als auch durch ihre fast
übernatürliche Wachsamkeit der Menschheit einflößte ... Ein einziger
glücklicher Fang, ein einziges durch die Folter erpresstes Geständnis konnte
die Spürhunde auf die Spur von Hunderten von Menschen bringen, die sich bis
dahin in voller Sicherheit wähnten, und jedes neue Opfer erweiterte den
Kreis der Denunzianten. So lebte der Ketzer beständig auf einem Vulkane, der
ihn in jedem Augenblicke verschlingen konnte ... Für die menschliche Furcht
war die päpstliche Inquisition fast allgegenwärtig, allwissend und
allmächtig."
126
Besonders gefürchtet war die spanische Inquisition. Sie unterstand zwar
nicht dem Papst, doch bei ihrer Gründung, wie könnte es anders sein, hatte
die Kirche ihre Hand im Spiel. Die "spanischen Könige" Ferdinand und
Isabella, die Spanien durch ihre Heirat 1469 vereinigt hatten, wollten die
kanonischen
Gesetze der römischen Kirche nicht unbegrenzt für ihr Land
übernehmen. Die Inquisition war bis dahin, zum Ärger der Päpste, in Spanien
nicht mit allzu großem Eifer tätig. Als Isabella 1477 nach Sevilla kam,
versuchte der Dominikanerpater Alonso de Hojeda sie davon zu
überzeugen, dass die Nachfahren der "conversos", der zum Christentum übergetretenen
Juden, heimlich jüdische Riten pflegten. Isabella winkte ab. "Als Isabella
die Stadt verlassen hatte, gab Hojeda jedoch nicht auf, sondern belieferte
den Hof mit Beweisen darüber, dass die conversos geheime nächtliche
Zusammenkünfte hielten und dabei den christlichen Glauben verhöhnten. Das
könne auch staatspolitisch nicht ohne Bedeutung sein, zumal viele conversos
in hohen Staatsämtern säßen ... Nun horchte Isabella doch auf und setzte
eine Kommission ein, der auch Hojeda angehörte und die auch tatsächlich zu
dem Ergebnis kam, die Ketzerei habe in Sevilla schreckenerregende Ausmaße
angenommen. Auch Thomas de Torquemada, Dominikanerprior von Segovia und
Beichtvater der Königin, stimmte diesem Befund zu."
127
(Wie die Methoden gleich bleiben: Eine
Kommission über angebliche
ketzerische Umtriebe einzusetzen, in der dann die Ketzerjäger selbst als
angebliche "Sachverständige" das große Wort führen – das gelang den Kirchen
noch 1996 im Deutschen Bundestag)
Die massive "Nachhilfe" der
"Hunde des Herrn" führte schnurstracks zum
Beginn der spanischen Inquisition, denn Ferdinand und Isabella beantragten
beim Papst nun eine Bulle: Er solle die Einrichtung einer
Inquisitionsbehörde in Kastilien genehmigen, die allerdings eng mit dem
spanischen Staat verbunden sein sollte – der auch die Kosten der Inquisition
trug, die er jedoch durch die
Konfiskation der immensen Ketzervermögen
(reiche Conversos wurden grundsätzlich immer als erste verdächtigt) leicht
wieder hereinholen konnte. Torquemada wurde schnell der am meisten
berüchtigte Großinquisitor, der 10.220 Menschen auf den Scheiterhaufen und
97.371 auf die Galeeren schicken ließ. 128
In der Anfangszeit stieß der neue Terror der Inquisition noch auf Widerstand
– nicht nur von den direkt betroffenen Nachkommen der Juden oder Mauren,
sondern auch von den Altchristen, die "über den Verdacht judaistischer
Ketzerei erhaben waren. ... 1484 schloss der Magistrat von Teruel den
Inquisitoren ... die Tore. Darauf verfielen die Stadtväter der
Exkommunikation, die ganze Stadt dem Kirchenbann. Ja, die Inquisition
erklärte aus der Fülle ihrer Machtvollkommenheit heraus, die bei Bedarf
anscheinend auch weltliche Angelegenheiten mit umfasste, dass der Magistrat
abgesetzt und seine Ämter durch König Ferdinand neu zu besetzen seien."
129
Der König schickte schließlich Truppen, die Stadt unterwarf sich. In einem
letzten verzweifelten Aufflammen des Widerstandes entschlossen sich
hochgestellte conversos Aragoniens, den Inquisitor Pedro Arbúes umbringen zu
lassen. Die Bluttat geschah am 16. September 1485 in der Kathedrale von
Zaragoza – was die Kirche dazu veranlasste, den blutrünstigen Inquisitor
Arbúes zunächst selig und 1867 gar heilig zu sprechen (das besorgte der
seinerseits erst kürzlich von Papst Johannes Paul II. selig gesprochene
antisemitische Papst Pius IX.). Die Folge der Bluttat war eine blutige Rache
der Inquisition und die völlige Unterwerfung Aragoniens unter die Herrschaft
Ferdinands. Dieser begann zu erkennen, wie zahlreiche Herrscher vor und nach
ihm, dass die Inquisition ein Instrument sein kann, "das – richtig
gehandhabt – sehr wohl auch der Festigung ihres eigenen Einflusses, ihrer
eigenen Machtposition dienen konnte".
130
Todesstrafe wegen Reformversuchs – Jan Hus und Savonarola
Während nunmehr die Inquisition insbesondere in Spanien, Portugal und in
Lateinamerika bis weit ins 18., teilweise bis zum Beginn des 19.
Jahrhunderts unbehelligt ihr Unwesen trieb und dort zeitweise für eine
Lähmung des literarischen Lebens sorgte, regte sich in Mitteleuropa neuer
Widerstand. Der Tscheche Jan Hus (1369-1415) lehnte die päpstliche
Hierarchie ab ("Petrus ist nicht das Haupt der Kirche und war es auch nie"),
verurteilte das Ablasswesen und forderte unter Berufung auf die Bibel ein
geläutertes Urchristentum. Er wurde exkommuniziert und zum Konzil nach
Konstanz vorgeladen. Hus kam – mit einem Brief des deutschen Königs Sigmund
(1368-1437), worin ihm freies Geleit zugesichert wurde. Die versammelten
Kardinäle ließen Hus jedoch verhaften. Sigmund protestierte dagegen und
drohte, das Konzil zu verlassen. Die Kardinäle drohten ihrerseits, das
Konzil platzen zu lassen. "Keine von beiden Parteien aber konnte ernsthaft
die Versammlung sabotieren, auf der die Hoffnungen des ganzen lateinischen
Europa ruhten. Sigmund hatte die schlechteren Nerven und erklärte daher am
1. Januar 1415, das Konzil könne natürlich gegen alle vorgehen, die im Ruch
der Ketzerei stünden." 131 Ein Machtkampf also – die Kirche war zwar
angeschlagen durch ein jahrzehntelanges Schisma und die für jedermann
sichtbare Dekadenz ihrer Amtsträger, doch der König von Deutschland und
Ungarn wollte seine Macht erweitern, wollte vor allem die Kaiserkrone (er
bekam sie 1437). Der Geleitbrief war sein Papier nicht wert; Hus wurde nach
einem dramatischen Inquisitionsprozess auf dem Scheiterhaufen verbrannt.
Auch dem Dominikanermönch (ausgerechnet ein Dominikaner) Girolamo Savonarola
(1452-1498) erging es nicht besser. Er begann in Florenz einen "Gottesstaat"
im positiven Sinne
aufzubauen, der auf den Prinzipien der Bergpredigt des Jesus von Nazareth gründen sollte. Auch er
erkannte wie Hus den Papst nicht als rechtmäßigen Herrscher der Kirche an.
Als er die Einberufung eines Konzils forderte, um Papst Alexander VI.
absetzen zu lassen, drohte dieser dem Stadtrat von Florenz mit der
Exkommunikation der gesamten Stadtrepublik, wenn sie Savonarola nicht
gefangen nähme. Auch diesen Machtkampf gewann die Kirche noch: Savonarola
wurde 1498 eingesperrt, gefoltert, gehängt und anschließend verbrannt.
Nicht einmal zwanzig Jahre später kam dann die Spaltung durch Martin Luther
(1483-1546). Der Augustinermönch wollte die Kirche zunächst nur erneuern. Er
wandte sich gegen das Ablassunwesen, äußerte Sympathien für die
unterdrückten Bauern und die Juden, sprach sich für Toleranz aus und ließ
sich von mystischen Schriften inspirieren. Doch sehr rasch erkannte er, dass
er auf diese Weise in Konflikte mit der Obrigkeit geraten musste. Er
entschied sich dafür, sich auf die Seite der deutschen Fürsten zu stellen,
die in Opposition zum katholischen Kaiserhaus standen. Auf diese Weise
entstand eine neue – diesmal lutherische – Staatskirche. Luther selbst aber
verwandelte sich binnen kürzester Zeit in einen der brutalsten
Religionsverfolger seiner Zeit. Er rief die Obrigkeit dazu auf, den
rebellischen Bauern, die sich bei ihren Forderungen – gemeinsam mit
städtischen Bürgern – auf das Evangelium Jesu Christi beriefen, den Garaus
zu machen: "Steche, schlage, würge hie, wer da kann!" Er forderte die
Fürsten, die ihn beschützten, dazu auf, alle Prediger, die nicht von ihm und
der neuen Obrigkeitskirche ordiniert waren, dem Henker zu übergeben: "Denn
die andern, so ohne Amt und Befehl herfahren, sind nicht so gut, dass sie
falsche Propheten heißen, sondern Landstreicher und Buben, die man sollte
Meister Hansen befehlen und nicht zu leiden sind (ob sie auch gleich recht
lehrten)." 132 Dies betraf insbesondere die
Brüder und Schwestern in Christus, auch "Täufer"
genannt, die in lutherischen
Landen genau so unbarmherzig verfolgt wurden wie in katholischen oder
reformierten – denn nach Luthers und seines Mitstreiters Melanchthons Auffassung gab es für sie nur eine Strafe:
den Tod: "Aus diesem allem ist nun klar, dass weltliche Obrigkeit schuldig
ist, Gotteslästerung, falsche Lehre, Ketzereien zu wehren und die Anhänger
am Leib zu strafen ... Dieweil man doch sieht und greift, dass grobe,
falsche Artikel in der Wiedertäufer Sekte sind, schließen wir, dass in
diesem Fall die Halsstarrigen auch mögen getötet werden."
133 Die Gläubigen
forderte er, ganz in der Tradition der katholischen Inquisition, zum
Denunzieren der Andersgläubigen auf: "Und soll ihm auch bei Leib und Seel
niemand zuhören, sondern ansagen und melden seinem Pfarrherrn oder
Obrigkeit." 134 Wer die fremden Prediger nicht anzeigt, ist nach Luther
"selbst schuldig" und gleichwie der "Schleicher", der nicht-lutherische Prediger,
"ein Dieb und Schalk". 135 Mit einem Wort: In dem ehemaligen Augustinermönch
Luther brach das Augustinische wieder durch. Dazu passt, dass er sich zur
Rechtfertigung der drakonischen Maßnahmen auf die antiken Ketzergesetze der
augustinischen Zeit berief: "Auf diesen Fall ist das Gesetz in Codice
gemacht durch Honorius und Theodosius, darin steht, dass man die
Wiedertäufer töten soll." 136
Doch damit nicht genug: Luther
forderte von der Obrigkeit auch den Tod von
Prostituierten, Wucherern, "Hexen" und Ehebrechern, gab aber
in seiner "Doppelmoral" dem
Landgraf Philipp von Hessen jedoch die Erlaubnis zur Bigamie; neben der Ehefrau
hatte der lutherische Landesherr eine 17-jährige Konkubine.
Schließlich gehört Luther zu den furchtbarsten Antisemiten der Geschichte.
Sein Hass auf die Juden (die er ursprünglich zu bekehren gehofft hatte)
kannte keine Grenzen. In seinem Spätwerk "Von den Juden und ihren Lügen"
(1543) rief er dazu auf, den Juden die Synagogen anzuzünden, ihre Häuser zu
zerstören, ihren Rabbinern bei Todesstrafe Lehrverbot zu erteilen, die Juden
auszuplündern und vom Handel auszuschließen, sie zur Zwangsarbeit zu
verurteilen. "Ein solch verzweifeltes durchböstes, durchgiftetes,
durchteufeltes Ding ist`s um diese Juden, so diese 1400 Jahre unsere Plage,
Pestilenz und alles Unglück gewesen sind und noch sind. Summa, wir haben
rechte Teufel an ihnen." 137
Luthers Hassausbrüche gegen die Juden wurden 400 Jahre später mit grausamer
"deutscher Gründlichkeit" in die Tat umgesetzt – und der "große Reformator",
bis heute eine der beliebtesten Gestalten der deutschen Geschichte, nach dem
unzählige Straßen und Plätze benannt sind, muss als einer der maßgeblichen
Inspiratoren des nationalsozialistischen Judenhasses gelten. Die Nazis haben
sich immer wieder auf ihn berufen. Hitler selbst sah in Luther "das größte
deutsche Genie" 138; er war für den
"Führer" "ein
großer Mann, ein Riese. Mit einem Ruck durchbrach er die Dämmerung, sah den
Juden, wie wir ihn erst heute zu sehen beginnen".
139 Hitler rechtfertigte seinerseits die Judenverfolgung damit,
"dass er gegen die Juden nichts anderes tue als das, was die Kirche in 1500
Jahren gegen sie getan habe". 140 Der Philosoph Karl Jaspers stellte 1962
fest: Luthers "Ratschläge gegen die Juden hat Hitler genau ausgeführt".
141
Die Ausrottung einer anderen Bevölkerungsgruppe wurde hingegen sofort auf
die Tagesordnung gesetzt: die der "Hexen". Papst Innozenz VIII. hatte 1484
in seiner "Hexenbulle" die Wirklichkeit des Hexenunwesens offiziell
bestätigt. Nicht an Hexerei zu glauben galt von da an als Ketzerei. Der
Dominikanermönch Heinrich Kramer (Institoris) brachte schon zwei Jahre
später (1486) mit päpstlicher Druckerlaubnis das passende Lehrbuch zur
Hexenjagd heraus, den berüchtigten "Hexenhammer". Luther wollte der
katholischen Seite in der Bekämpfung des "Übels" nicht nachstehen – die
Scheiterhaufen brannten in lutherischen (und reformierten) Gebieten genau so
heftig wie in katholischen.
Die lutherischen Landesherren hatten es dabei besonders einfach, denn sie
mussten sich nicht wie ihre katholischen Kollegen in jedem Detail mit der
Kirche abstimmen – sie waren schließlich dank Luther weltliche und
geistliche Oberherren in einer Person. Zahlreiche protestantische
Regionalfürsten erkannten rasch die Vorteile des Hexenbrennens: Man konnte
mit dem beschlagnahmten Vermögen der Opfer die Staatskasse auffüllen – ein
Feilschen um die Aufteilung zwischen Staat und Kirche, wie anderswo,
entfiel. Und man konnte gleichzeitig, durch geschickt eingefädelte
Denunziationen, die letzte Opposition im Lande beseitigen.
Die spiegelbildliche Konstellation fand sich auf katholischer Seite in den
geistlichen Fürstentümern. Die Fürstbischöfe wurden in der Tat die
schrecklichsten Hexenbrenner. Trier, Köln, Mainz, Würzburg,
Bamberg – die
Hölle befand sich im 17. Jahrhundert an Rhein, Main und Mosel. Ganze
Schlösser (etwa das Aschaffenburger Schloss Johannisberg) wurden mit
Hexengeldern erbaut. Den Chefideologen hinter den schlimmsten Hexenbränden,
etwa dem Bamberger Weihbischof Friedrich Förner (Amtszeit 1612-1630), ging
es aber nicht ums Geld – hätten sie wirtschaftlich gedacht, so hätten sie
den Ruin, in den z. B. Bamberg durch die Ausrottung des Stadtrats und fast
der gesamten Kaufmannsschicht gestoßen wurde, vorhergesehen. Es ging ihnen
um "die Schaffung einer vollkommenen, gottgefälligen Welt"
142 – im
katholischen Sinne allerdings. Die Gesellschaft sollte von der "Hexensekte"
gereinigt werden, und zwar, so die Historikerin Britta Gehm, durch "die
Ausrottung des Bösen schlechthin, personifiziert in den Hexen und
Zauberern". 143 Der Höhepunkt der Hexenbrände in Würzburg und Bamberg –
entfacht durch zwei Bischöfe 144, die beide Neffen des bis heute verehrten
Würzburger Fürstbischofs Julius Echter waren, ebenfalls ein großer
Hexenbrenner – fiel in die zwanziger Jahre des 17. Jahrhunderts, für die
katholische Seite keineswegs eine Zeit der Verwirrung und des Chaos. Im
Gegenteil: Die katholische Liga hatte im 30-jährigen Krieg vorerst scheinbar
die Oberhand behalten. Bischof Förner forderte Kaiser Ferdinand II. in
dieser Siegeseuphorie sogar dazu auf, die protestantische Reichsstadt
Nürnberg mit Waffengewalt zu rekatholisieren.
Der Habsburger Ferdinand (1619-1637 Kaiser) war zwar von Jesuiten in
Ingolstadt erzogen und ausgebildet worden und war demzufolge ein fanatischer
Gegner der lutherischen "Ketzerei". Bei einer Wallfahrt zu Beginn seiner
Regierung hatte er ein Gelöbnis abgelegt: "Lieber über eine Wüste herrschen,
lieber Wasser und Brot genießen, mit Weib und Kind betteln gehen, den Leib
in Stücke hauen lassen, als die Ketzer dulden."
145 Ohne diesen katholischen
Fanatismus wäre Deutschland wohl ein 30-jähriger Religionskrieg erspart
geblieben. Doch so glühend Ferdinand die Gegenreformation vorantrieb, so
skeptisch war er gegenüber denjenigen, die ihn in punkto Fanatismus noch
überboten. Ferdinand war Realpolitiker genug, um zu erkennen, dass nicht nur Förners Nürnberger Pläne nicht durchsetzbar waren, sondern dass auch die
Würzburger und Bamberger Hexenbrennerei, die Ausrottung ganzer Familien,
ganzer Straßenzüge, die Wirtschaftskraft seiner Verbündeten entscheidend
schwächte. Er sorgte dafür, dass der Reichshofrat, ein juristisches
Beratergremium, die Klageschriften von aus Bamberg geflüchteten Opfern der
Hexenjagd positiv beschied und dadurch die Hexenjagd beendete (1630).
Dem Einfluss der Ingolstädter Jesuiten ist diese Entwicklung sicher nicht zu
danken, denn diese hatten einen der Herrscherkollegen Ferdinands, den
bayerischen Kurfürsten Maximilian (1573-1651), schon als 17-jährigen
Jugendlichen mit der Hexenverfolgung vertraut gemacht: Man ließ ihn bei
Folterungen zusehen. Er schrieb an seinen Vater: "So hat man doch nit
auf den rechten Grund kommen können, jedoch haben die Räte gute Inquisition
halten lassen, vielleicht bringt man sie noch zuwegen."
146 Es ist nicht
verwunderlich, dass der Höhepunkt der bayerischen Hexenprozesse in die
Regierungszeit Maximilians fällt.
Der absolute Staat: stärker als die Kirche und doch unter ihrem Einfluss
Die Beispiele Maximilian und Ferdinand zeigen: Der Territorialstaat der Renaissance und des Barock gewann an Stärke. Die Kirche behielt zwar ihren Einfluss auf die Staatslenker, insbesondere über deren Erziehung. An einem Jugendlichen geht es nicht spurlos vorüber, wenn man sein Gewissen durch die Beobachtung von Folterszenen abstumpft. Doch die Regierenden gewannen eine gewisse Unabhängigkeit zurück, mussten sich im politischen Tagesgeschäft der unterschiedlichen Konfessionen in Deutschland auch einen gewissen Spielraum bewahren. Ähnlich wie in der Antike, in der sich nicht etwa der Papst, sondern Kaiser Konstantin als erster mit dem Titel "Stellvertreter Christi" schmückte 147, musste die Kirche anscheinend wieder die zweite Geige spielen – doch auch diese Rolle beherrscht sie virtuos. Erzieher, Lehrer, Beichtväter sorgen dafür, dass die zukünftigen Herrscher und Beamten von Kindesbeinen an "richtig" instruiert werden. Es gab zwar in Deutschland drei verschiedene Konfessionen – doch eine echte Wahlmöglichkeit zwischen ihnen hatte nur der jeweilige Fürst. Wer innerhalb eines Landesgebietes den Glauben wechseln wollte, musste auswandern. Und außer den drei staatskirchlichen Konfessionen – katholisch, lutherisch, reformiert – durfte es nichts geben. Waldenser, Hutterer, Böhmische Brüder wurden vertrieben, verfolgt.
Erst in der Aufklärungszeit begann sich das zu ändern. Maria Theresia (Regierungszeit 1740-1780) hatte noch dafür gesorgt, dass die protestantischen Ketzer aus Österreich nach Siebenbürgen ausgesiedelt wurden, oft unter gewaltsamer Zurücklassung ihrer Kinder, die katholisch erzogen wurden. Ihr Sohn Josef II. jedoch (1780-1790) verkündete die Religionsfreiheit und begrenzte die Macht der Kirche, schoss dabei allerdings über das Ziel hinaus, indem er in sie hineinzuregieren versuchte. Das Papsttum verabscheute und bekämpfte die Errungenschaften der französischen Revolution – Menschenrechte, Demokratie, Religions- und Meinungsfreiheit – von Anfang an und das gesamte 19. Jahrhundert hindurch. Papst Pius VI. bezeichnete diese Ziele als "Ungeheuerlichkeiten" (monstra), Gregor XVI. verurteilte die Gewissensfreiheit 1832 als "Wahnsinn" (deliramentum). Die österreichische Verfassung von 1867, in der Presse-, Glaubens-, Gewissens- und Lehrfreiheit festgeschrieben wurden, in der alle religiösen Gemeinschaften einander gleichgestellt sein sollten, wurde von Pius IX. (im Jahr 2000 "selig" gesprochen) als "abscheuliches Gesetz" (infanda lex) bezeichnet. 148 Leo XIII. (1878-1903) verkündete, "dass es niemals erlaubt ist, die Gedankenfreiheit, Pressefreiheit, Lehrfreiheit, sowie die unterschiedslose Religionsfreiheit zu fordern, zu verteidigen oder zu gewähren, als seien dies ebenso Rechte, welche die Natur dem Menschen verliehen". 149 Sein Nachfolger Pius X. (1903-1914) bekämpfte schon vor Antritt seines Pontifikats die "Zeitirrtümer der Denk-, Gewissens-, Rede-, Kult- und Pressefreiheit" und führte ein perfektes innerkirchliches Spitzelsystem ein, eine Art "Kurial-Gestapo". 150 Ehe er den französischen Theologen Alfred Loisy exkommunizierte, hatte er von ihm die totale Unterwerfung gefordert mit den Worten: "Verbrenne, was du angebetet, bete an, was du verbrannt hast" – das Gleiche hatte die Kirche schon dem französischen Nationalidol Chlodwig gesagt. Und noch 1953 erklärte Kurienkardinal Alfredo Ottaviani in Bezug auf protestantische Minderheiten in Italien und Spanien: "In den Augen eines wahren Katholiken ist die so genannte Duldsamkeit nicht am Platz." 151 Paul VI. (1963-1978) warnte davor, die "rechte Freiheit des Gewissens" mit einer "falschen Gedankenfreiheit" zu verwechseln. Wen wundert es da, dass die Repression gegen religiöse Minderheiten insbesondere in "gut katholischen" Staaten wie Österreich-Ungarn weiterging? Dem Fürsten Metternich beispielsweise war schon eine freie "Bibelgesellschaft", die sich im verbündeten Russland breit machte, ein Dorn im Auge, denn, so Renate Riemeck: "Die Umrisse eines neuen, romfreien Christentums zeichneten sich ab. ... Mit dem Scharfblick des begabten Politikers erkannte der allmächtige Staatskanzler Österreichs, dass das Trachten nach einem Reich christlicher Brüderlichkeit eines Tages zu umwälzenden gesellschaftspolitischen Konsequenzen führen könnte ... Metternich aber hielt alle ´Sekten` ... für äußerst gefährlich. Er wurde nicht müde, die europäischen Regierungen vor den staatsgefährdenden Umtrieben religiöser ´Schwärmer` zu warnen. ´Von allen Übeln, die heutzutage den Leib der Gesellschaft befallen haben, ist dasjenige, das vorzüglich die Aufmerksamkeit der Regierungen auf sich zu lenken verdient, das verbrecherische Spiel der Sekten`, schrieb er in einer geheimen Denkschrift." 152
Die "SA Jesu Christi" marschiert gegen die religiöse Minderheiten
Doch nicht nur in katholischen Staaten bestand weiterhin eine enge Liaison
zwischen Thron und Altar. Die lutherische Kirche ist von der Staatslehre
Martin Luthers her geradezu prädestiniert dazu, sich der Staatsgewalt
anzudienern. Und das eher noch bei einer diktatorischen als bei einer
demokratischen Staatsform. Der "starke Staat" passt einfach besser zur
lutherischen Zwei-Reiche-Lehre, die Hubertus Mynarek wie folgt
zusammenfasst: "Gemäß seiner Lehre gelten Staat und Kirche als die beiden
Reiche zur rechten und zur linken Hand Gottes. Die Kirche stellt dem
totalitären Fürstenstaat die Gläubigen als gehorsame Staatsdiener zur
Verfügung, der Staat ... hilft der Kirche und ermordet eventuell Gegner der
Kirche." 153 Der Christ hat nach Luthers Lehre der Obrigkeit unbedingt zu
gehorchen, da jede Obrigkeit von Gott eingesetzt sei. Hatte Luther den
Fürsten seiner Zeit empfohlen, "guten Gewissens" mit äußerster Härte gegen
Bauern, türkische Kriegsgegner und Juden vorzugehen, so machte sich die
lutherische Kirche gegen Ende der Weimarer Zeit daran, dem in den Sattel zu
helfen, der bereits angekündigt hatte, mit allem aufzuräumen, was nicht
seiner Sinnesart war: Adolf Hitler. Bereits 1930 veröffentlichte das Deutsche Pfarrerblatt
einen Grundsatzbeitrag über das Verhältnis von NSDAP und Kirche, in dem zu
lesen stand, es gehöre zu den Aufgaben der Männer der Kirche, in die "Tiefe
der nationalsozialistischen Gedankenwelt" zu schauen und sich nicht durch
"äußere Schönheitsfehler" abschrecken zu lassen. Unter einer "rauen Schale"
keime möglicherweise sogar "das beste Leben, das je aus der alten deutschen
Eiche herauswuchs". Der Autor, ein Pfarrer Wienecke, verweist in diesem
Zusammenhang auf Hitlers Mein Kampf (er hat ihn
natürlich gelesen!), wo Adolf Hitler den Deutschen den Respekt vor den Amtskirchen zur Pflicht
macht. Den ihr gebührenden Respekt zu erfahren, war für die Lutherkirche das
Entscheidende – und ist es bis heute. Pfarrer Wienecke erklärt, die von Gott
gewollte Aufgabe für die deutsche Politik sei die Förderung des "arisch-germanischen Menschen". Die Aufgabe von Theologie und Pfarrerschaft
sei es, zu helfen, dass die Nazi-Bewegung nicht verrausche, sondern dass
sie, "erfüllt von göttlicher Kraft unserem Volk Gesundung bringe".
154
Für diese Töne erfährt der lutherische Talarträger Wienecke von den Lesern – also von Pfarrern – nach
eigener Aussage in einer "Fülle von Zuschriften ... begeisterte Zustimmung"
– wohlgemerkt: 1930, noch drei Jahre vor Beginn des NS-Staates. Fast ein
Viertel der bayerischen Pfarrer sind bereits 1931 Mitglieder der NSDAP, in
anderen Landeskirchen noch mehr. 155 Im September 1933 konnte dann Pfarrer
Schirrmacher in Hamburg zu den im Rauhen Haus – einer der bekanntesten
Sozialeinrichtungen der evangelischen Diakonie – versammelten Diakonen
sagen: "Wir begrüßen euch alle als die SA Jesu
Christi und die SS der Kirche, ihr wackeren Sturmabteilungen und
Schutzstaffeln im Angriff gegen Not, Elend, Verzweiflung und Verwahrlosung,
Sünde und Verderben ... Evangelische Diakonie und Nationalsozialismus
gehören in Deutschland zusammen ... Ich wünsche, dass unsere jungen Brüder
in den Diakonieanstalten sämtlich SA-Männer werden."
156
In einem starken
"Führerstaat" nach dem Geschmack der Mehrheit der
lutherischen Pfarrerschaft war für "abweichende" religiöse Meinungen kein
Platz. Bereits 1930 führte die evangelische Landeskirche in Bayern eine
"Sektenerhebung" durch. Die Kirchengemeinden erhielten einen umfangreichen
Fragebogen, in dem sie Angaben zu allen Personen machen sollten, die in
ihrem Wirkungskreis einer kleineren Religionsgemeinschaft angehörten:
Baptisten, Zeugen Jehovas, Neuapostolische Kirche, Adventisten, Pfingstler,
Mennoniten ... 157 Dass diese Datenerfassung nicht statistischen Zwecken
diente, sondern schon bald der Bekämpfung dieser Gemeinschaften, zeigte sich
zwei Jahre später: Im Januar 1932 griff das Evangelische Sonntagsblatt
die
Zeugen Jehovas an. Unter der Überschrift "Gegen den Unfug der sog.
Bibelforscher" – so nannten sich die Zeugen damals – war zu lesen: "Weite
Kreise der Kirche kämpfen schon seit langem aus religiösen und kirchlichen,
die Nationalsozialisten aus vaterländischen Gründen gegen dieses Unwesen.
Dem bibelforscherischen Treiben, das in letzter Zeit in Bayern einen ganz
besonders großen Umfang angenommen hatte, wurde nunmehr durch die
Polizeidirektion München ein Ende bereitet." Die Druckschriften der
Bibelforscher seien beschlagnahmt worden.
Das Sonntagsblatt musste zwar wenig später in einer Gegendarstellung
einräumen, dass nur "einige Exemplare" tatsächlich eingezogen worden waren,
vermeldete aber im gleichen Atemzug triumphierend, dass die "bayerische
Polizei ... angewiesen ist, das Treiben der Sekte im Auge zu haben und ihre
Schriften, wo sie angetroffen werden, wegzunehmen".
158 Diese Meldung –
wohlgemerkt: aus dem Jahr 1932 – legt nahe, dass sich schon vor der
Machtergreifung der Nationalsozialisten die beiden Großkirchen (der
bayerische Staat war zu diesem Zeitpunkt noch stärker klerikal beeinflusst)
und die aufkommende nationalsozialistische Bewegung in Bezug auf religiöse
Minderheiten sehr nahe standen. Dies bestätigte sich 1933, als der NS-Staat
die Zeugen Jehovas zunächst in Württemberg verbot und der evangelische
Volksbund dies am 24. April als Ausdruck einer "Bundesgenossenschaft
zwischen Staat und Kirche" begrüßte. Auch der Münchner Kardinal Faulhaber
bedankte sich im Mai 1933 in einem Brief an die Bayerische Staatsregierung
mit den Worten: "Die Gottlosenbewegung ist eingedämmt, die Freidenker können nicht
mehr offen gegen Christentum und Kirche toben, die Bibelforscher können
nicht mehr ihre amerikanisch kommunistische Tätigkeit entfalten." Auch das
Evangelische Sonntagsblatt teilte den Lesern das Verbot der Bibelforscher in
Bayern mit und fügte hinzu: "Wir ... erwarten von unseren Geistlichen, dass
sie das Ihrige tun werden, um ein weiteres Auftreten der Sekte in ihren
Gemeinden zu unterbinden." 159
So haben auch lutherische Pfarrer ihren Beitrag dazu geleistet, dass von den
damals 25 000 deutschen Zeugen Jehovas 10 000 während des Dritten Reiches
inhaftiert wurden. 1200 wurden ermordet. Denn der Aufruf im
Sonntagsblatt
war ein nur schlecht verhüllter Aufruf zur Denunziation. Andere
Kirchenleitungen riefen tatsächlich "ihre Pfarrer und Pastoren dazu auf, für
die ´Gestapo Spitzeldienste zu leisten, um den Zeugen Jehovas das Handwerk
zu legen`". 160 Die "Apologetische Centrale" der lutherischen Kirche in
Berlin stellte nach der Machtergreifung Hitlers dem
Reichspropagandaministerium und der Gestapo Material über die Zeugen Jehovas
und andere Glaubensgemeinschaften zur Verfügung. (Die Nachfolge-Einrichtung
der Apologetischen Centrale ist die Evangelische Zentralstelle für
Weltanschauungsfragen – inzwischen wieder in Berlin beheimatet.)
Ehe die Zeugen Jehovas im Juni 1933 reichsweit verboten wurden, kam es in
Berlin zu einer Zusammenkunft von Nazi-Vertretern der Ministerien und der
Gestapo mit Vertretern der katholischen und der evangelischen Kirche. Der
katholische Domkapitular Piontek forderte auf diesem Treffen "strenge
staatliche Maßnahmen" gegen diese Gemeinschaft. Und der evangelische
Oberkonsistorialrat Fischer begrüßte ebenfalls ein Verbot wegen der Gefahr
für das "deutsche Volkstum", so das Protokoll.
161
Die Kirche war damit allerdings noch nicht zufrieden. Denn es gehört zur
über ein Jahrtausend alten Praxis der Kirche, bei der Verfolgung religiöser
Minderheiten nach dem Salamiprinzip vorzugehen: Erst eine angeblich
besonders "schlimme" Gruppe herausgreifen und verbieten lassen, dann die
anderen "Sekten". (Heute spielt Scientology die Funktion des "Dosenöffners"
162) Am 10. September 1933 kommentiert der
Schriftleiter des Evangelischen Deutschland – damals ein maßgebliches Organ der
protestantischen Seite – das Verbot der Zeugen Jehovas mit Dankbarkeit und
fügt hinzu: "Die Kirche wird dankbar anerkennen,
dass durch dieses Verbot eine Entartungserscheinung des Glaubens beseitigt
worden ist. ... Damit ist jedoch noch keine vollständige Bereinigung der
Sekten erreicht. Erwähnt seien nur die Neuapostolischen."
163
Eine solche evangelische Verlautbarung spricht für sich. In Zeiten, in denen
sie sich frei fühlen, weil sie sich der Wertschätzung eines Staates sicher
sind, der die Menschenrechte missachtet, sprechen Kirchenvertreter eben
ungehemmt aus, was sie in demokratischen Zeiten hinter wohlgesetzten
Floskeln verbergen – aber nichtsdestoweniger anstreben.
Dass die gemeinsame Verfolgung der Zeugen Jehovas und anderer
"Sekten" nicht
nur ein "Fehltritt" der Anfangszeit des "Tausendjährigen Reiches" war,
belegen zwei Beispiele aus späteren Jahren: Im August 1937 ruft ein
Vertreter des Landesbischofs der Bremischen Evangelischen Kirche dazu auf,
Aktivitäten der Zeugen Jehovas umgehend an die Gestapo zu melden. Und als im
Oktober 1939 Bibelforscher eine Flugschrift mit dem Titel "Krieg oder
Frieden?" vor die Tür eines evangelischen Vikars aus dem Münsterland legen,
verständigt dieser sofort die Polizei und teilt mit, wer nach seiner Meinung
als Täter in Frage kommen könnte. 164
Man mag zu den Zeugen Jehovas stehen, wie man will,
und ihr Bibelfanatismus hat mit dem Freien Geist des Christus Gottes
ebenfalls nichts gemein. Sie gehörten nach
Aussage von Mithäftlingen jedoch zu den mutigsten und standhaftesten Häftlingen in
den Konzentrationslagern, praktizierten bis zuletzt einen gemeinschaftlichen
Zusammenhalt. Sie waren die einzige religiöse Gruppe, die konsequent den
Kriegsdienst verweigerte: Mindestens 250 Zeugen wurden deshalb hingerichtet.
Katholische oder evangelische
Kriegsdienstverweigerer, die für ihre
religiöse Überzeugung in den Tod gingen, kann man hingegen an den Fingern
einer Hand abzählen. Was wäre geschehen, wenn die großen Kirchen nur einen
Bruchteil des Widerstands gegen die Nazi-Diktatur aufgebracht hätten, den
diese religiöse Minderheit vorlebte?
Wie brisant diese Frage bis heute geblieben ist, zeigt sich an kirchlichen
Reaktionen auf Veranstaltungen zum Schicksal der Zeugen Jehovas im Dritten
Reich: In Lohr (Landkreis Main-Spessart) erregte sich im Januar 2000 der
evangelische Dekan Michael Wehrwein darüber, dass die Stadt Lohr den Zeugen
Jehovas das Alte Rathaus für eine Ausstellung mit dem Thema "Standhaft trotz
Verfolgung – Jehovas Zeugen unter dem NS-Regime" zur Verfügung gestellt
habe. Die Stadt habe "mit einer Sekte gemeinsame Sache" gemacht und lasse
sich "vor die Zügel einer Gruppe spannen, die menschenverachtend ist". Zur
Begründung verwies der Dekan auf die Ablehnung der Bluttransfusion durch die
Zeugen und auf das "straffe Regiment" dieser religiösen Gruppierung.
"Wir müssen auch mit unseren Minderheiten fair umgehen", äußerte anders als
der Dekan der Lohrer Bürgermeister Siegfried Selinger. Weshalb ist eine
solche Stimme in der heutigen demokratischen Gesellschaft eigentlich so
selten zu hören?
2 Eine ausführliche Beschreibung des kirchlichen Antisemitismus schon in der
Antike findet sich bei Karlheinz Deschner, Kriminalgeschichte des
Christentums, Band 1, S. 117 ff. Vgl. auch die Zeitschrift "Der Theologe
Nr. 4 – Die evangelische Kirche und der Holocaust",
theologe4.htm
3 Eine aufschlussreiche Zusammenstellung solcher Stellen des Alten
Testamentes findet sich in: "Tiere klagen – der Prophet klagt an", aus der
Reihe: Der Prophet, Nr. 15, Gabriele-Verlag Das Wort, Max-Braun-Straße 2, 97828
Marktheidenfeld
5 J. R. Grigulevic, Ketzer, Hexen, Inquisitoren, Ahriman-Verlag 1995, S. 49
6 ebenda, S. 56, 65
7 Zu Bücherverbrennungen durch die Kirche schon in der Antike: Karlheinz
Deschner, Kriminalgeschichte, Band 3, S. 549 ff.
8 Rupert Lay, Nachkirchliches Christentum, Düsseldorf 1995
9 Herbert Haag, Worauf es ankommt – Wollte Jesus eine Zwei-Stände-Kirche?,
Freiburg 1997
10 vgl. hierzu: Karen Jo Torjesen, Als Frauen noch
Priesterinnen waren
11 Zum Vegetarismus im Urchristentum: Carl Anders Skriver,
Die Lebensweise
Jesu und der ersten Christen, Lübeck 1973, vgl. auch: Die ersten Christen
waren Vegetarier in Der Theologe Nr. 7
12 Zu Origenes: Robert Sträuli, Origenes – der Diamantene, Zürich; sowie
"Der Theologe
Nr. 2" – Reinkarnation,
theologe2.htm
13 vgl. hierzu: Ralph Woodrow, Die Römische Kirche –
Mysterien-Religion aus Babylon, Marienheide 1992, oder auch: Der Theologe Nr. 32
– Die Sakramente und
Kulte der Kirche
14 Deschner, Kriminalgeschichte, Band 3, S. 473
15 Herrmann, Kirchenfürsten, S. 78
16 ebenda, S. 80
17 Deschner, Kriminalgeschichte,
Bd. 1, S. 160
18 Deschner, Abermals krähte der Hahn, S. 312
19 ebenda, S. 318
20 Deschner, Kriminalgeschichte,
Bd. 1, S. 161
21 Deschner, Abermals krähte der Hahn, S. 320
22 ders., Kriminalgeschichte,
Bd. 1, S. 217
23 ders., Abermals krähte der Hahn, S. 507
24 ders., Kriminalgeschichte, Bd. 1, S. 264. Konstantin ließ seine Frau
Fausta und seinen Sohn Crispus hinrichten.
25 ders., Abermals krähte der Hahn, S. 474
26 ebenda, S. 467
27 ebenda
28 ebenda
29 ders., Kriminalgeschichte,
Bd. 1, S. 369
30 Deschner, Kriminalgeschichte,
Bd. 1, S. 273
31 Näheres zur kirchlichen Judenverfolgung z.B. bei: Friedrich Heer, Gottes
erste Liebe oder Gerhard Czermak, Christen gegen Juden
32 Deschner, Abermals krähte der Hahn, S. 474
33 ebenda, S. 476
34 Grigulevic, a.a.O., S. 60 f.
35 Deschner, Abermals krähte der Hahn, S. 475
36 ders., Kriminalgeschichte, Bd. 1, S. 450
37 ebenda, S. 450 f.
38 ders., Abermals krähte der Hahn, S. 476
39 Grigulevic, a.a.O., S. 60
40 ebenda, S. 58
41 ebenda, S. 58, 59
42 Deschner, Kriminalgeschichte,
Bd. 1. S. 403
43 ebenda, S. 404
44 ebenda, S. 423
45 ebenda, S. 429
46 Rill, a.a.O., S. 27 f.
47 Josef Dirnbeck, Die Inquisition, München 2001, S. 52
48 Rill, a.a.O., S. 27
49 ebenda
50 Deschner, Kriminalgeschichte,
Bd. 2, S. 258
51 ebenda, S. 265
52 ebenda, S. 260
53 ebenda, S. 261
54 ebenda, S. 268
55 Museion 2000, 5/1997, S. 29
56 Woodrow, a.a.O., S. 87
57 Deschner, Kriminalgeschichte,
Bd. 4, S. 54
58 Museion 2000, 1/99, S. 16
59 Deschner, Kriminalgeschichte,
Bd. 4, S. 173
60 ebenda, Bd. 2, S. 416
61 Präexistenz = die Existenz der Seele vor der Zeugung des Menschen
62 Deschner, Kriminalgeschichte,
Bd. 4, S. 479
63 ebenda, Bd. 6, S. 71
64 ders., Abermals krähte der Hahn, S. 240
65 ebenda, S.222
66 Rill, a.a.O., S. 31
67 Grigulevic, a.a.O., S. 65
68 Eugen Roll, Die Katharer, Stuttgart 1987, S. 41
69 Grigulevic, a.a.O, S. 82
70 Deschner, Kriminalgeschichte,
Bd. 6, S. 539
71 Grigulevic, a.a.O., S. 84
72 engl. "honeymoon" = der erste Monat nach der Heirat
73 Rill, a.a.O., S. 38
74 Walter Nigg, Das Buch der Ketzer, Zürich 1986, S. 257
75 Rill, a.a.O., S. 40
76 Grigulevic, a.a.O., S. 84 f.
77 Rill, a.a.O., S. 40
78 Grigulevic, a.a.O., S. 86
79 Universelles Leben, Die verfolgten Nachfolger Christi, Würzburg 1987,
S. 117
80 Grigulevic, a.a.O., S. 87
81 Rill, a.a.O., S. 42
82 Nigg, a.a.O., S. 228
83 Grigulevic, a.a.O., S. 88
84 ebenda, S. 89
85 Rill, a.a.O., S. 42
86 Burchard Brentjes, Der Mythos vom Dritten Reich, Hannover 1997, S. 42
87 Rill, a.a.O., S. 43
88 ebenda, S. 28
89 Grigulevic, a.a.O., S. 91 ff.
90 Michael Baigent, Richard Leigh, Als die Kirche Gott verriet – die
Schreckensherrschaft der Inquisition, Bergisch Gladbach 2000, S. 39
91 Grigulevic, a.a.O., S. 95
92 Rill, a.a.O., S. 47
93 Baigent, a.a.O., S. 45
94 ebenda, S. 46
95 Rill, a.a.O., S. 46
96 Grigulevic, a.a.O., S. 102
97 Rill, a.a.O., S. 47
98 Dirnbeck, a.a.O., S. 130
99 Deschner, Kriminalgeschichte, Bd. 7, S. 235
100 Grigulevic, a.a.O., S. 103
101 Deschner, Kriminalgeschichte, Bd. 7, S. 254
102 Rill, a.a.O., S. 46
103 Grigulevic, a.a.O., S. 106
104 Baigent, a.a.O., S. 58
105 Grigulevic, a.a.O., S. 107
106 ebenda, S. 108
107 ebenda, S. 108
108 Hubertus Mynarek, Die neue Inquisition,
Marktheidenfeld 1999, S. 27
109 Museion 2000, Nr. 4/1995, S. 26
110 Baigent, a.a.O., S. 95
111 Grigulevic, a.a.O., S. 317
112 Baigent, a.a.O., S. 52
113 Rill, a.a.O., S. 50
114 Baigent, a.a.O., S. 53
115 Grigulevic, a.a.O., S. 100
116 Rill, a.a.O., S. 50
117 Grigulevic, a.a.O., S. 118
118 ebenda, S. 119
119 ebenda
120 ebenda, S. 119 f.
121 ebenda, S. 124 f.
122 ebenda, S. 125
123 Deschner, Abermals krähte der Hahn, S. 482
124 Baigent, a.a.O., S. 54
125 Grigulevic, a.a.O., S. 106
126 H. Ch. Lea, Geschichte der Inquisition im Mittelalter, Bd. 1, S. 677,
zit. nach Grigulevic, a.a.O., S. 108 f.
127 Rill, a.a.O., S. 216
128 Karlheinz Deschner, Opus Diaboli, S. 28
129 Rill, a.a.O., S. 220 ff.
130 Grigulevic, a.a.O., S. 101
131 Rill, a.a.O. S. 186
132 Hans-Jürgen Böhm, Die Lehre M. Luthers – ein Mythos zerbricht!,
Postfach 53, 91284 Neuhaus (Eigenverlag), 1994, S. 185
133 ebenda, S. 193
134 ebenda, S. 182
135 ebenda, S. 182
136 ebenda, S. 192
137 Der Theologe, Die evangelische Kirche und der Holocaust, Postfach
1443, 97864 Wertheim, S. 5, siehe auch
theologe4.htm
138 Brigitte Hamann, Hitlers Wien, München 1996, S. 358
139 Der Theologe, a.a.O., S. 9
140 Friedrich Heer, Gottes erste Liebe, München 1981, S. 406
141 Karl Jaspers, Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung,
München 1962, S. 90
142 Britta Gehm, Die Hexenverfolgung im Hochstift Bamberg und das
Eingreifen des Reichshofrates zu ihrer Beendigung, Hildesheim 2000,
S. 269
143 ebenda, S. 113
144 Würzburg: Philipp Adolf von Ehrenberg (1623-1631); Bamberg: Johann Georg
Fuchs von Dornheim (1623-1633) – der Onkel Julius Echter hatte sich persönlich
um die katholische Erziehung der Neffen gekümmert
145 Georg Rusam, Österreichische Exulanten in Franken und Schwaben,
Neustadt an der Aisch, 1989, S. 52
146 Sigmund von Riezler, Geschichte der Hexenprozesse in Bayern, Stuttgart o.J., S. 195
147 Deschner, Kriminalgeschichte,
Bd. 1, S. 243
148 ders., Abermals krähte der Hahn, S. 483
149 ders., Die Politik der Päpste im 20. Jahrhundert, Hamburg 1991, S. 176
150 ebenda, S. 170.173
151 ebenda, S. 176
152 Renate Riemeck, Moskau und der Vatikan, Basel 1988, S. 60
153 Mynarek, a.a.O., S. 119
154 Der Theologe, a.a.O., S. 14 f.
155 ebenda, S. 16
156 Ernst Klee, Die SA Jesu Christi, Die Kirche im Banne Hitlers,
Frankfurt 1989, Impressumseite
157 Der Theologe, a.a.O., S. 14,
theologe4.htm
158 ebenda, S. 17 f.
159 Detlev Garbe, Glaubensgehorsam und Märtyrergesinnung, Die Verfolgung
der Zeugen Jehovas im Dritten Reich, EZW-Texte Nr. 145, Ev. Zentralstelle
für Weltanschauungsfragen, Berlin 1999, S. 9
160 Besier/Scheuch (Hg.), Die neuen Inquisitoren, Band 2, S. 120
161 Garbe, a.a.O., S. 10
162 Besier/Scheuch, a.a.O., S. 33. Vgl. auch: Renate Hartwig, Die
Schattenspieler, direct verlag 2002
163 Garbe, a.a.O., S. 10
164 ebenda
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