"Sektenbeauftragte" –
Die neuen Inquisitoren in Deutschland

Die Bekämpfung friedfertiger religiöser Minderheiten in Deutschland
 durch die beiden Großkirchen in unserer Zeit

Der Theologe Nr. 12, aktualisiert am 24.9.2024



Anneken Hendriks aus Amsterdam geriet ins Visier der damaligen "Sektenbeauftragten". Sie ging sieben Jahre lang nicht zur Beichte und zur kirchlichen Abendmahlsfeier und habe damit "die Ordnungen der heiligen Kirche verachtet". Auch ihre Zwangsvereinnahmung durch die Kirchentaufe als Baby habe sie "verleugnet" und sich als Nachfolgerin Jesu neu taufen lassen. Im Jahr 1571 wurde sie dafür bei lebendigem Leib verbrannt. Um sie möglichst schnell zum Schweigen zu bringen und "letzte Worte" aus dem Feuer zu verhindern, stopfte man ihr auch noch Schießpulver in den Mund, das dort gleich explodierte.
(Zeitgenössischer Kupferstich)
Die heutigen Sektenbeauftragten haben nicht mehr die Machtbefugnisse über das irdische Leben und den Tod wie damals, als sie die von ihnen Kritisierten den staatlichen Behörden zur Ermordung auslieferten. Doch können sie auch heute noch die berufliche und gesellschaftliche Existenz der von ihnen Bekämpften zerstören. Noch immer werden sie von staatlichen Behörden als angebliche "Experten" über Andersdenkende herangezogen, obwohl sie nur Kirchen-Lobbyisten sind und mit ihren Kirchen-Maßstäben messen, den Dogmen und lutherischen Bekenntnissen, die damals als Basis des Grauens die gleichen waren wie sie heute sind.

 

 
1)  
"Sektenbeauftragter", "Religions- und Weltanschauungsbeauftragter" – Begriffe aus NS-Zeit


  2)   Der erste "Sektenbeauftragte"

 
3)  Vertreibung Andersdenkender: Der Volksverhetzer im Namen der lutherischen Kirche in Aktion

  4)   Die moderne Inquisitio, "Hexenbeauftragte", "Ketzerbeauftragte"

  5)   Wie äußern sich katholische Verlautbarungen?

  6)   Die Verdrehung des Begriffes "Toleranz"

  7)   Die Strategie der Kirche

  8)   Die Zerstörung von Familien

  9)   Die Verantwortung der gesamten Kirche


10)   Inquisition – früher und heute

11)  Interview mit Prof. Dr. Hubertus Mynarek: "Scheiterhaufen können wir nicht mehr anzünden"

12)  Wie die Verfolgung religiöser Minderheiten im Deutschland des ausgehenden 20. Jahrhunderts weiter ging (ab 1945)

13) Die Inquisition – Nachrichten

       Gedenktag: 17.2.1600 – Giordano Bruno lebendig verbrannt

       Galileo Galilei wurde gar nicht rehabilitiert

 

 

"Im Mittelalter wären wir ganz anders mit euch umgesprungen."

(Friedrich-Wilhelm Haack, Sektenbeauftragter der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern, zu Anhängern einer kleinen Religionsgemeinschaft; zit. nach Der Steinadler und sein Schwefelgeruch, Marktheidenfeld 2003, S. 290) –
zum Mittelalter siehe auch hier sowie die Studie über Foltermethoden der Inquisition)

 


Die römisch- katholische Kirche – der selbsterklärte Todfeind
der Nachfolger des Jesus von Nazareth

"Die Ketzerei ist eine Sünde, durch welche man verdient, nicht nur von der Kirche durch die Exkommunikation, sondern auch von der Welt durch den Tod ausgeschlossen zu werden. Bliebt der Ketzer bei seinem Irrtum, so soll die Kirche es aufgeben, ihn zu retten und soll für das Heil der übrigen Menschen sorgen, indem sie ihn durch ein Exkommunikationsurteil aus ihrem Schoße ausschließt; das Übrige überlässt sie dem weltlichen Richter, damit er ihn durch den Tod von dieser Erde verbanne."

(Der heilig gesprochene Kirchenlehrer Thomas von Aquin (1225-1274) in Summa theologia, zit. nach Henry Charles Lea, Geschichte der Inquisition im Mittelalter, Band 1, Eichborn-Verlag, Köln 1997)


 




1) "Sektenbeauftragter", "Religions- und Weltanschauungsbeauftragter" – Begriffe aus der NS-Zeit

Während die Ketzer brennen, erheben die Herren der Kirche ihr KruzifixFrüher wurden sie "Inquisitoren" genannt. Sie betonten vordergründig ihre angebliche "Sorge" um ihre Mitmenschen. Doch dahinter steckten die "Wölfe im Schafspelz". Die "Inquisition" der beiden Großkirchen hat das Leben zahlloser Menschen und die Zerstörung ihrer Familien über einen Zeitraum von zwei Jahrtausenden auf dem Gewissen (siehe dazu https://www.kirchenopfer.de). Dabei handelt es sich nicht um eine Neben- oder Unterabteilung des kirchlichen Herrschaftsgefüges, sondern seit den Anfängen um ein zentrales Wesensmerkmal des veräußerlichten Christentums, das den Namen "Christus" missbraucht für eine Machtreligion. Diese Religion wurde und wird immer noch von Priestern und Theologen beherrscht, welche Jesus, der Christus, niemals eingesetzt hat. Und diese ermächtigten sich dabei nicht nur viele Jahrhunderte lang als Herren über Leben und Tod, sondern aufgrund ihrer so genannten "Sakramente" (Taufe, Beichte, Eucharistie, Letzte Ölung u. ä.) bis heute auch als Herren über Seligkeit oder Verdammnis, obwohl diese ihre religiösen Lehren in Wirklichkeit nur Brimborium und Kirchentheater sind.

Machtdemonstration der Kirche: Die früheren "Sektenbeauftragten" genießen ihren Triumph. Die urchristlichen Abweichler vom "reinen" römisch-katholischen Glauben werden gleich auf dem Scheiterhaufen verbrennen.

Die modernen Begriffe für die kirchlichen Inquisitoren, z. B. "Beauftragte für Religions- und Weltanschauungsfragen", tauchten in ähnlicher Form schon im Dritten Reich auf. So hieß das Referat V beim Reichssicherheitshauptamt z. B. "Referat für Religions- und Weltanschauungsfragen", und es war dem SS-Führer Heinrich Himmler unterstellt. Die Zielsetzung dieses Referates war "das Auslöschen des Sektenwesens". Die Arbeitsweise: Verleumdung, Denunziation, üble Nachrede, falsche Anschuldigungen vor Gerichten. (Institut für Zeitgeschichte – Universität München, Brief von C. Nestmann, 15.1.1988)

Der Katholik Adolf Hitler war dabei bestrebt, eine Auseinandersetzung zwischen den Großkirchen oder gar Übertritte von einer Konfession zur anderen zu vermeiden, um die Menschen nicht von ihren "völkischen" Aufgaben abzulenken. Er selbst blieb in diesem Sinne zeitlebens Mitglied der römisch-katholischen Kirche und zahlte jeweils pünktlich seinen Kirchenbeitrag (Belege bei Der Theologe Nr. 4). Und um sich die Gunst der Kirchen für die "völkischen" Aufgaben zu sichern und zu erhalten, kam der nationalsozialistische Staat gerne auch deren kirchlichem Verlangen nach, kleinere religiöse Bewegungen oder Atheisten und Agnostiker zu bekämpfen. So wurde bereits im Jahr 1932 unter der Kanzlerschaft des Katholiken Franz von Papen mit den Stimmen der NSDAP und unter dem Beifall der Kirchen die Freidenker-Bewegung verboten.

Im Jahr 1933 kommentiert dann Das Evangelische Deutschland, das in Berlin erscheinende damals "maßgebliche Organ auf protestantischer Seite", das Verbot der Zeugen Jehovas mit Dankbarkeit und fordert weitere Verbote: "Die Kirche wird dankbar anerkennen, dass durch dieses Verbot eine Entartungserscheinung des Glaubens beseitigt worden ist ... Damit ist jedoch noch keine vollständige Bereinigung der Sekten erreicht. Erwähnt seien nur die Neuapostolischen" (Das Evangelische Deutschland, Kirchliche Rundschau für das Gesamtgebiet der Deutschen Evangelischen Kirche, Nr. 37, 10.9.1933; zit. nach Detlef Garbe, Die Verfolgung der Zeugen Jehovas im Dritten Reich, EZW-Text Nr. 145, Berlin 1999, S. 10). Die Kirche versuchte dabei von Anfang an, die nationale Stimmung in Deutschland im Sinne ihrer inquisitorischen Ziele zu nutzen.

"Ich träumte davon, Großinquisitor zu werden ... So lernte ich dieses höchste Gremium der Kirche als eine Versammlung kranker Geister kennen, die Vergnügen daran fanden, einen Scheiterhaufen nach dem anderen aufzuschichten und in Brand zu stecken."

(Dr. Monsignore Krzysztof Charamsa, Kaplan Seiner Heiligkeit und von 2003
-2015 als Theologe in der Glaubenskongregation des Vatikan tätig, zit. nach Stern Nr. 18/2017)


Und einmal mehr ließ ein Staat den Inquisitionsgeist der Kirche gewähren, und die Kirche bedankte sich später unter anderem mit uneingeschränkter kirchlicher Unterstützung für alle deutschen Angriffskriege. So sind in der Zeit von 1933 bis 1939 zum Beispiel 5-10 % der KZ-Insassen im nationalsozialistischen Deutschland Zeugen Jehovas. 1200 von ihnen kommen dort ums Leben, weitere 250 werden im Sinne der "Bereinigung der Sekten" anderweitig erhängt, erschossen oder geköpft. Und im Jahr 1942 verlangt der bayerische evangelisch-lutherische Pfarrer Friedrich Wilhelm Auer von der NS-Regierung gar eine neue "Bartholomäusnacht", bei der keiner der noch lebenden Juden verschont werden soll. Der lutherische Pfarrer wurde für sein "Endlösungs"-Konzept der "Judenfrage" im Namen seines "Gottes" auch nach 1945 nie juristisch belangt. 

Kirche und Nationalsozialisten arbeiteten bei der "Bereinigung der Sekten" und der Judenverfolgung auf vielfache Weise Hand in Hand. Die Apologetische Centrale in Berlin, Vorläuferin der heutigen Evangelischen Zentrale für Weltanschauungsfragen (EZW), erarbeitet z. B. Materialien über "Sekten" und Juden. Und deren Leiter Walter Künneth schreibt in einem Brief vom 16.12.1933 über die Zusammenarbeit mit der Gestapo: "Der Materialaustausch zwischen dem Geheimen Staatspolizeiamt und der Apologetischen Centrale hat bereits begonnen. Auch mit dem Propaganda-Ministerium wurde Fühlung aufgenommen. Es besteht die Aussicht, dass auch hier eine Arbeitsverbindung zustande kommt. Auch das Reichsinnenministerium hat in den vergangenen Monaten der Apologetischen Centrale wiederholt wichtiges Material zur Durchprüfung und praktischen Ausnutzung zur Verfügung gestellt." (Evangelisches Zentralarchiv 1/C3/392; zit. nach Röhm/Thierfelder, Juden-Christen-Deutsche, Stuttgart 1990, Band 1, S. 412; weitere Hinweise siehe z. B. in Der Theologe Nr. 4 – Die evangelische Kirche und der Holocaust)
Im Jahr 1937 wird die Centrale dann aufgrund eines Konflikts der Kirchenmänner mit dem Reichsleiter und Erziehungs-Beauftragten der NSDAP, Alfed Rosenberg, geschlossen. Die Centrale hatte zuvor Rosenbergs Buch
Mythos des 20. Jahrhunderts
kritisiert. Dies wird von der evangelischen Kirche heute als scheinbarer Beleg dafür missbraucht, dass sie nicht im Einklang mit dem damaligen Staat stand. In Wirklichkeit hat aber Adolf Hitler die germanisch-heidnischen Anschauungen von Alfred Rosenberg nur als dessen Privatmeinung und ausdrücklich nicht als Position der NSDAP bezeichnet, weshalb die Maßnahmen Rosenbergs wahrscheinlich gar nicht im Einvernehmen mit Hitler und der NSDAP-Parteispitze getroffen wurde, man jedoch Rosenberg in diesen Angelegenheiten gewähren ließ, um ihn nicht zu demontieren. Ein klarer Belegt dafür:
Adolf Hitler sagte 1936 wörtlich: "Ich wünsche keinerlei Kampf gegen die Kirchen oder Priester. Der Mythos des Herrn Rosenberg ist keine parteiamtliche Publikation" (Friedrich Heer, Der Glaube des Adolf Hitler, Anatomie einer politischen Religiosität, München, Esslingen 1968, S. 310). Außerdem hat sich durch die Aktivitäten Rosenbergs die Haltung der Kirchen gegenüber religiösen Minderheiten nicht geändert.
So fordert im selben Jahr 1937 der der so genannten Bekennenden Kirche angehörige Oberkirchenrat D. Otto Bezzel:
"Die Juden sind die Zerstörer und gehören hinausgepeitscht" (zit. nach Evangelisches Sonntagsblatt in Bayern Nr. 42/1988, S. 15). Im Jahr 1947 wird D. Otto Bezzel dann zum Personalreferenten der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Bayerns befördert. Damit ist er faktisch der zweitstärkste Mann hinter dem Landesbischof, was er bis zu seiner Pensionierung im Jahr 1962 auch bleibt. Dies sind allerdings nur wenige typische Einzelfälle innerkirchlicher Karrieren. Wollte man alle heute zugänglichen Materialien hier aufzählen, könnten darüber mehrere Bücher geschrieben werden.

Der Name des Referats V im damaligen Reichssicherheitshauptamt, "Referat für Religions- und Weltanschauungsfragen", wurde Anfang der 70er Jahre dann fast identisch in dem Namen "Arbeitsgemeinschaft für Religions- und Weltanschauungsfragen" wieder verwendet. Und diese ist eine Initiative des Sekten- und Weltanschauungsbeauftragten der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern, Pfarrer Friedrich Wilhelm Haack (F. W. Haack, Sekten, 1974, S. 62 – Der Hinweis auf Pfarrer Haack fehlt in späteren Auflagen). Beauftragte für "Sekten- und Weltanschauungsfragen" – in diesem Gewand treten die alten Inquisitoren des kirchlichen Imperiums nun in Deutschland nach dem 2. Weltkrieg auf und ihre Macht ist seither gewachsen. Die ähnlich wie in der Weimarer Republik gegenüber der Kirche schwache und unterwürfige deutsche Demokratie berief und beruft die kirchlichen Inquisitoren sogar auf staatliche Stellen – obwohl dies eindeutig gegen das Verfassungsgebot der weltanschaulichen Neutralität des Staats verstößt. Der systematische Aufbau der neuen inquisitorischen Macht-Seilschaften begann seit den 60er Jahren zuerst nebenamtlich, später hauptamtlich in den beiden Großkirchen. Wie früher, so auch heute tragen diese Männer und teilweise auch Frauen immer die "fromme" und letztlich scheinheilige Maske der "Sorge" um ihre Mitmenschen. Doch so mancher Zeitgenosse hat dahinter schon den reißenden "Wolf im Schafspelz" am eigenen Hals erfahren müssen. Nicht jeder "Sektenbeauftragte" ist dabei natürlich gleich dem anderen, und einzelne sind auch weniger inquisitorisch veranlagt als die Kollegen. Doch aufs Ganze gesehen dienen sie alle der Aufrechterhaltung der kirchlichen Macht, ihrer noch darüber hinaus gehenden maßlosen Machtansprüche und der Bekämpfung der kirchlichen Gegner. Worum es bei dieser Arbeit grundsätzlich geht, zeigt ein Blick in die Entwicklung in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts. 

2) Der erste "Sektenbeauftragte"

Erster offizieller "Sektenbeauftragter" im Deutschland nach dem 2. Weltkrieg ist Pfarrer Friedrich-Wilhelm Haack von 1964-1967 als Gemeindepfarrer in Hof an der Saale zunächst im Nebenamt Beauftragter für "Sekten- und Weltanschauungsfragen" der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern, seit 1969 dort hauptamtlich tätig. In jenem Jahr wurde diese Stelle also zuerst in der Evangelischen-Lutherischen Landeskirche in Bayern geschaffen. Nachfolger Haacks wurde 1992 Dr. Wolfgang Behnk, der daraufhin 22 Jahre lang bis 2014 in diesem Kirchenamt regelrecht gegen Andersdenkende wütete und der im Jahr 2022 schließlich verstorben ist (traueranzeige/wolfgang-behnk).

Haack und Behnk wie auch alle anderen üben diesen Dienst im Rahmen ihres Auftrags als evangelische Pfarrer aus. Dieser wird z. B. auch für die jeweils beiden evangelischen Inquisitionspfarrer aus Bayern offiziell wie folgt von der Kirche formuliert:

1) In der Kirchenverfassung, Grundartikel: "Die Evangelisch-Lutherische Kirche in Bayern steht mit der ganzen Christenheit unter dem Auftrag, Gottes Heil in Jesus Christus in der Welt zu bezeugen."
2) Im
Pfarrergesetz, Art. 6 a: "Ich bin bereit, das Amt, das mir anvertraut wird, nach Gottes Willen in Treue zu führen, das Evangelium von Jesus Christus, wie es in der Heiligen Schrift gegeben und im Bekenntnis unserer evangelisch-lutherischen Kirche bezeugt ist, zu predigen, die Sakramente ihrer Einsetzung gemäß zu verwalten, das Beichtgeheimnis und die seelsorgerliche Verschwiegenheit zu wahren und mich in allen Dingen so zu verhalten, wie es meinem Auftrag entspricht. Dazu erbitte ich die Hilfe des Dreieinigen Gottes."
3) In der
Ordnung kirchlichen Lebens, Abschnitt IX, Abs. 3: "Pfarrer und Gemeinde haben miteinander dafür zu sorgen, dass die Auslegung der Heiligen Schrift recht geschieht, dem Verständnis und den jeweiligen Verhältnissen der Gemeinde entspricht und niemand durch falsche Lehre und Irrglauben verführt wird ..."
4) Noch einmal im
Pfarrergesetz
, Par. 37, für Pfarrer mit "allgemeinkirchlichen Aufgaben", zu denen der "Sektenbeauftragte" gehört: "In der ihm übertragenen allgemeinkirchlichen Aufgabe soll der Pfarrer seinen Dienst ausrichten gleicherweise zum Aufbau der Kirche wie der einzelnen Gemeinde ..."

Die in diesen Artikel und Paragraphen dokumentierte Scheinheiligkeit, mit der man diese spezielle Ausformung des Kirchentums zu Unrecht mit Jesus, dem Christus, in Verbindung bringt, soll hier nicht weiter analysiert werden. Maßgeblich in diesem Zusammenhang ist jedoch folgendes: Der Auftrag des "Sektenbeauftragten" wäre demnach eindeutig innerkirchlich. Es geht klar um die jeweiligen protestantischen Gemeinden und um den Aufbau der betreffenden evangelischen Kirche. Doch der erste "Sektenbeauftragte" hatte sich bereits ganz andere und weit darüber hinaus gehende Ziele im Hinblick auf die kleineren Gemeinschaften außerhalb der Kirche gesetzt.
So schreibt Pfarrer Haack in seiner Darlegung
Sekten von 1974 im ersten Kapitel: "Nicht aus Konkurrenzneid und nicht aus Hass, weder aus theologischer Rechthaberei noch aus Machtgründen, sondern allein wegen der geistlichen Gefahren muss die Kirche auch heute den Sekten entgegentreten
."
Die Formulierung "auch heute" legt unzweideutig nahe, dass man ergänzt: "Wie früher". Und wie hat das die Kirche früher getan, wäre die anschließende Frage? Und um keine unerwünschten Assoziationen zu wecken, schreibt Haack weiter: "Sie wird es, wie zu den Tagen der Apostel, mit geistlichen und geistigen Waffen tun."

Kommt es jedoch zum Konflikt, dann entlarvte ein Mann wie Pfarrer Haack selbst seine eigenen Worte als bloße fromme Phrasen, und der Wolf streckte seinen Hals dann aus dem Schafspelz heraus. "Im Mittelalter wären wir ganz anders mit euch umgesprungen", so dieser evangelische Pfarrer beispielsweise zu einem Anhänger einer kleineren Gemeinschaft (siehe oben).
Und wenn der Pfarrer von "Wir" spricht, dann spricht er von seiner Kirche. Doch nicht einmal die weichgespülte Formulierung, den so genannten "Sekten" angeblich nur mit "geistlichen Waffen" entgegenzutreten, kann mit den oben zitierten grundlegenden Kirchengesetzen und Dienstaufträgen gerechtfertigt werden. Solches steht nämlich auch dort nirgends. Und schon gar nicht steht dort, dass der Staat parallel dazu aufgefordert werden soll, mit dem ihm, dem Staat, zur Verfügung stehenden "Waffen" das Seine zur Erfüllung der kirchlichen Ziele zu leisten. Doch welcher Kirchenverantwortliche interessiert sich für diesen Sachverhalt? Arbeitsplatzbeschreibungen sind schnell neu formuliert, und Pfarrer Haack schuf schlicht Fakten und gab damit die Richtung vor, in die auch nachfolgende "Sektenbeauftragte" gehen sollten.
Und welches sind hierbei genau die "geistlichen Gefahren", die man kirchlicherseits abwenden will? In erster Linie sind es natürlich Kirchenaustritte, auch wenn man das nicht so gerne zugibt. Denn diese tun den Kirchen am meisten weh.

3) Vertreibung Andersdenkender: Der Volksverhetzer im Namen der lutherischen Kirche in Aktion

Friedrich-Wilhelm Haack, offiziell der Sektenbeauftragte der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern, agitierte beispielsweise am 4. Januar 1988 im von Bierdunst und Zigarettenrauch geschwängerten katholischen Pfarrsaal in Hettstadt im Landkreis Würzburg. Dort hatten einige friedfertige Urchristen, die keine Kirchenmitglieder mehr waren, Baugrundstücke rechtmäßig erworben, woraufhin die beiden Großkirche alles daran setzten, die Erschließung des Baulandes durch die Gemeinde solange zu stoppen, solange die Christen ihre Grundstücke nicht wieder verkauft haben. Nach jahrelangen Auseinandersetzungen sei dies schließlich "gelungen", die katholische St.-Bruno-Stiftung sprang dafür ein, und kirchlich "rechtgläubige" Interessenten konnten schließlich einen großen Teil der von da an von der katholischen Kirchenstiftung angebotenen Grundstücke erwerben. Der katholische CSU-Bürgermeister wurde für diesen Coup schließlich zum Landratskandidaten gekürt, was 1996 bei dieser Parteizugehörigkeit den sicheren Wahlsieg geebnet hatte. Und der nun zum Landrat aufgestiegene Gegner der Urchristen erhielt kurz vor seinem Tod im Jahr 2008 gar unter ausdrücklicher Berufung auf diese Vertreibung Andersdenkender den päpstlichen Silvesterorden und damit das Recht, mit einem Pferd die Stufen zum Petersdom empor reiten zu dürfen, was er jedoch wohl gesundheitsbedingt nicht mehr wahrnahm.

Einschneidend im Verlauf der Auseinandersetzung war jedoch vor allem der Vortrag von Pfarrer Haack am 4.1.1988. Er erfand ein apokalyptisches Szenario, Hettstadt "leidet jetzt stellvertretend für viele Gemeinden in der Bundesrepublik". Und weiter: "Rechnen Sie damit, dass Sie hier in Hettstadt vielleicht ein stellvertretendes Leid für unser ganzes Volk mitmachen." Und warum? Die Siedler, einige Dutzend Urchristen, seien Menschen, die sich laut Pfarrer Haack "bissig, aggressiv und böswillig" äußern, die "das Maul sehr weit aufreißen", die "peinliche und ekelerregende Unterstellungen verbreiten". Doch alles das ist erlogen und der Versuch, in den Schmutz zu ziehen, dass sich die Christen anfangs redlich, aber klar gegen ihre geplante Vertreibung aus Hettstadt zu wehren versuchten. Solche Leute wollten "in den Ort einbrechen", so hatte es der lutherische Pfarrer formuliert. Und er hetzte weiter und warnte im kirchlichen Interesse: "Tun Sie nichts, dann haben Sie nichts getan! Dann ist eines Tages der Himmel verhängt." Und weiter: "
Sie müssen keine Achtung vor denen haben ... Es gibt kein Gebot zur Liebe und Freundschaft und zum Hegen und Pflegen dessen, der mir ans Schienbein treten will. ... Man muss mit ihnen nichts zu tun haben."
Am Ende der Veranstaltung am 4. Januar 1988 zeigt sich, welche Wirkung sie gehabt hat. In der Nähe des Ausgangs stehen einige Urchristen, um in einer weniger aufgeheizten Atmosphäre für ein Gespräch zur Verfügung zu stehen. Doch: "
An die Wand sollte man sie stellen, alle wie sie nacheinander dastehen. Aufknüpfen!" wird gerufen. "Aufhängen sollte man euch!" Eine ältere Frau spuckt vor den Christusfreunden verächtlich aus, und jemand schreit: "Heil Hitler!" (Die Fakten und Zitate stammen aus dem Buch von Matthias Holzbauer, Der Steinadler und sein Schwefelgeruch, Marktheidenfeld 2003, S. 236 ff.)

Als Pfarrer Haack gut drei Jahre später, am 4. März 1991, stirbt, würdigt der Würzburger Bischof Scheele ausdrücklich seine "Verdienste". Für die Katholiken des Bistums sei sein Tod ein "schmerzlicher Verlust". In "seltener Klarheit habe er die heraufkommenden extremen Weltanschauungen als Herausforderung für alle Kirchen des apostolischen Glaubensbekenntnisses erkannt", gibt das katholische Volksblatt (15.3.1991) die bischöfliche Laudatio wieder. Und seine eigene, die lutherische Kirche, ehrt ihn ohnehin. Im Jahr 2019 feiert sie extra das 50jährige Jubiläum von Pfarrer Haacks Amtsantritt als Sektenbeauftragter der evangelischen Landeskirche in Bayern. Den "Festvortrag" hält Ex-EKD-Ratsvorsitzender und Fast-Bundespräsidenten-Kandidat Bischof Prof. Dr. Wolfgang Huber.
Im Jahr 2014, bei der kirchlichen Verabschiedung seines Nachfolgers, Kirchenrat und Pfarrer Dr. Wolfgang Behnk,
wird von Oberkirchenrat Dr. Michael Martin eigens auch noch einmal selbstbeweihräuchernd an den "legendären ersten Sektenpfarrer" Haack erinnert. "Die ganze Kirche" hätte immer hinter Pfarrer Behnk gestanden, so seine Worte. Und sie hat es getan, wie sie auch immer – hier unausgesprochen – hinter Pfarrer Haack gestanden hat, in Bayern unter Landesbischof Hermann Dietzfelbinger (bis 1975) und unter Landesbischof Johannes Hanselmann (1975-1994), unter Landesbischof Hermann von Loewenich (1994-1999), unter Landesbischof Johannes Friedrich (1999-2011) und unter Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm (2011-2023).
 
Die Worte bei der Verabschiedung des Sektenbeauftragten Behnk im Jahr 2014 sind erhellend vor allem für jene, die glauben, diese Beauftragten wären vielleicht in ihrem Inquisitionseifer hier und da etwas weit gegangen, während die Kirche "als Ganze" doch wohl etwas ausgewogener sei. Nein, "die ganze Kirche" steht hinter ihnen, so hier einmal wörtlich, und ihre Inquisitoren repräsentieren demnach das Wesen eben der "ganzen Kirche" und nicht nur von Teilbereichen. Wer anderes vorgibt, verwechselt folglich das kirchliche Wesen mit notgedrungenen Anpassungen an den Zeitgeist, wodurch manchmal der Anschein erweckt werden solle, als habe man sich geändert.

4) Die moderne Inquisition, "Hexenbeauftragte" und "Ketzerbeauftragte"

Pfarrer Friedrich-Wilhelm Haack knüpft bei seiner Arbeit dabei gezielt an die Geschichte der Inquisition an, und er gibt dies auch zu. So schreibt er in einem Brief vom 30.4.1986: "Wenn Sie bei mir auf Inquisition tippen, dann liegen Sie natürlich richtig!" (Brief von Pfarrer Friedrich-Wilhelm Haack an H. Radegeis vom 30.4.1986 liegt der Redaktion vor)  
So wurden früher durch die Inquisition der Kirchen "Ketzer" und "Hexen" zuerst kirchlich verurteilt und dann den staatlichen Henkern überantwortet. Und der Staat wurde dazu aufgefordert, die "aufrührerischen" Bauern
(Martin Luther) oder im Krieg die "ungläubigen" Türken (Evangelische Bekenntnisschriften) zu töten bzw. die Juden mit unterschiedlichsten Strafmaßnahmen bis zur Hinrichtung zu verfolgen (Martin Luther). Auch Eltern, die ihren Säugling nicht taufen lassen wollten, sollte der Staat auf Verlangen der Kirche hinrichten (Philipp Melanchthon, Martin Luther), und viele mehr.
Pfarrer Friedrich-Wilhelm Haack versteht sich in dieser Tradition jedoch als "moderner" Inquisitor und schreibt unter anderem auch: "Sehen Sie, auch die Inquisition ist moderner geworden und hält sich auch an die Grundsätze der fairen Berichterstattung"
(Brief von Pfarrer Friedrich-Wilhelm Haack an H. Radegeis vom 30.4.1986 liegt der Redaktion vor). Also faire Berichterstattung statt Hinrichtungen? Wer einmal zur Zielscheibe der modernen Inquisition geworden ist, kann darüber nur den Kopf schütteln
. Von fairer Berichterstattung kann keine Rede sein oder nur in vereinzelten Ausnahmefällen. Hinter der frommen Maske verbirgt sich einmal mehr der Wolf im Schafspelz. Und so könnte man die "Sektenbeauftragten", also die modernen Inquisitoren, auch
"Hexenbeauftragte" nennen oder "Ketzerbeauftragte", oder "Hexen- und Ketzerbeauftragte". Dann wird klar, welche Kräfte hier am Werk sind.

"Ich tu´ das Üble, schrei´ dann selbst zuerst –
Das Unheil, das ich selber angerichtet –
Leg ich den Anderen dann zur Last"!

(Shakespeare)

So haben die Kampagnen der Kirchenvertreter in unserer Zeit bereits zu folgenden Maßnahmen gegen religiöse Minderheiten geführt:
Behördliche Verbote, Informationsstände oder Büchertische aufzustellen; Verweigern oder Streichen von bestimmten öffentlichen Zuschüssen; Benachteiligungen von Privatpersonen und Geschäftsleuten durch Behörden und Gerichte; Errichten von staatlichen Stellen zur Überwachung von Minderheiten, die man meist mit Mitgliedern der Kirchen besetzt; in Einzelfällen Berufsverbote (Menschen müssen öffentlich erklären, keiner so genannten "Sekte" anzugehören, um bestimmte Berufe ausüben zu dürfen), Verbot von Verkaufsständen z. B. in Markthallen und auf Marktplätzen, wenn der Betreiber einer bestimmten Glaubensgemeinschaft angehört; Verbot, bestimmte Verträge unterzeichnen zu können oder andere Aufgaben oder Rechte wahrnehmen zu können; weiterhin gibt es viele Werbeverbote (z. B. Verbot, Plakate aufzuhängen oder Verbote, einen Werbespot im Rundfunk zu schalten) oder Verbot von Vermietungen (z. B. bei öffentlichen Gebäuden in Berlin), Verbot von Anzeigenschaltungen in Zeitungen und manches mehr. Hinzu kommt der vielfache Rufmord in den Medien, der auch im nichtstaatlichen Bereich unübersehbare negative Folgen hat.
 
Besonders schlimm ist die Vergiftung der nachwachsenden Generationen durch den konfessionellen Religionsunterricht in staatlichen Schulen. Bei noch leichter zu beeinflussenden und zu manipulierenden Jugendlichen wird um das 9. Schuljahr herum die "Sektenkeule" im kirchlichen Religionsunterricht geschwungen, der aber zu 100 % vom Staat, d. h. von allen Bürgern, bezahlt wird, und zwar mit ca. 6,5 Milliarden Euro pro Jahr; also auch von denen, die man dort auf Staatskosten in den Schmutz zieht. Nebenbei werden z. B. schulische Projektwochen veranstaltet, an denen alle Schüler teilnehmen, auch noch deutlich jüngere, und bei denen die konfessionellen Priester oder Religionslehrer alle möglichen kleineren Gemeinschaften mit Lügen und Verleumdungen nieder machen. Dies sind massive staatliche Verfehlungen an der eigenen Jugend, und hier werden faktisch die positiven ethischen Werte einer freiheitlichen Demokratie verleugnet im Interesse und zugunsten der kirchlichen Indoktrination schon bei kleinen Kindern und Jugendlichen. Gleichzeitig wird das Milieu, in dem unzählige Kinder verbrecherischen pädophilen Priestern zum Opfer fallen, mit Staatsgeldern finanziert, alleine die Ausbildung der Priester und Pfarrer mit ca. 850 Millionen Euro pro Jahr.
 
Die Indoktrinationsarbeit der Kircheninstitutionen gegen kleinere Gemeinschaft erfolgt
in enger Zusammenarbeit mit den Massenmedien, die aus Gründen der Sensationsgier und der Verkaufs- oder Einschaltquote immer wieder mal etwas "gegen Sekten" bringen wollen. Und in deren Aufsichtsräten sitzen wiederum die Kirchenvertreter, die dann bei der Auswahl des vor die Flinte zu scheuchenden Freiwilds als so genannte "Experten" im Hintergrund und als Interviewpartner im Vordergrund fungieren – eine Schande für den Staat und die von ihm zu verantwortende Medienarbeit.
Und aufgehetzt und aufgepeitscht von scheinbar seriösen Berichten öffentlich-rechtlicher oder privater Massenmedien, in Wirklichkeit aber durch von kirchlichen Sektenbeauftragten gesteuerte Berichte, verlangen dann manche Jugendliche selbst, sie wollen nun noch mehr über "Sekten" hören in ihrem staatsfinanzierten kirchlichen Religionsunterricht. Dies geht dann oft so weit, dass sie in der Folgezeit gegen diese Menschen pöbeln, die zum Beispiel auf einem Wochenmarkt in "Treu und Redlichkeit" ökologische Nahrungsmittel oder andere Produkte verkaufen. Und wie Haie, die Blut geleckt haben, greifen dann auch die meisten Religionslehrer auf die Rufmord-Reportagen zurück und gießen weiteres Öl ins Feuer der modernen Scheiterhaufen. Und wie gesagt:
Alles auf Staatskosten. Diese Erziehung zur Volksverhetzung im konfessionellen Religionsunterricht bezahlt dann der deutsche Staat, anstatt die ethische Erziehung an den Schulen in die eigene Verantwortung im Sinne von Toleranz und Demokratie zu nehmen, wie es z. B. in Berlin und Brandenburg durch das Fach LER (Lebenskunde-Ethik-Religion) wenigstens im Ansatz geschieht, sofern man dort nicht auch den kirchlichen Verleumdungen aufsitzt. Doch obwohl nur noch weniger als 48 % der Bundesbürger einer der beiden Großkirchen angehören, hat dieses System des staatlich finanzierten kirchlichen Konfessionsunterrichts in allen anderen deutschen Bundesländern immer noch Bestand.

5) Wie äußern sich katholische Verlautbarungen?

Interessanterweise ist es in Deutschland zunächst die evangelische Kirche, die in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts ein Netz von modernen Inquisitoren, also evangelischen Sektenbeauftragten, aufgebaut hat. Erst in den 80er Jahren zieht die katholische Kirche nach. Den besonderen Inquisitions-Eifer der Evangelischen erklärt der Religionswissenschaftler Hubertus Mynarek u. a. damit, dass die evangelische Kirche selbst eine "Sekte hoch zwei" ist. Sie will zum einen der katholischen Muttersekte imponieren, von der sie sich abgespalten hat (lat. secare = abspalten), nachdem sich die katholische "Sekte" ursprünglich einmal vom Urchristentum abgespalten hatte. Und zum anderen projiziert man mit den Inquisitions-Bemühungen eigene massive Defizite auf Andersgläubige (vgl. hierzu v. a. in Der Theologe Nr. 1 die Besprechung der Doktorarbeit (= Promotion) des Sektenbeauftragten Pfarrer Dr. Wolfgang Behnk).

Die katholischen Sektenbeauftragten unterscheiden sich dabei im Prinzip nicht von den evangelischen, und nachfolgende Passage aus einer Broschüre des Bischöflichen Generalvikariats Aachen könnte im Kern auch in einer evangelischen Broschüre stehen. So heißt es etwa in der Verlautbarung Neue Kultbewegungen und Weltanschauungsszene 2, Mönchengladbach o. J.: "Wenn wir aber unseren eigenen Glaubensauffassungen und Grundsätzen – Achtung des Menschen, Achtung der Religionsfreiheit, Vertrauen auf den Heiligen Geist ... – treu sein wollen, dann können wir uns nicht damit zufrieden geben, die Sekten zu verdammen und zu bekämpfen ... Die Herausforderung durch die neuen religiösen Bewegungen liegt darin, unserer eigenen Erneuerung zu einer größeren pastoralen Wirksamkeit einen Impuls zu verleihen." (S. 33)

"Wenn die Kirche keine Hoffnung mehr hat, den Ketzer zu bekehren, so trennt sie ihn, in Fürsorge für das Wohl der anderen, durch die Exkommunikation von ihrer Gemeinschaft, und überdies überlässt sie ihn dem weltlichen Gericht, damit es ihn durch den Tod aus der Welt schaffe: ulterius relinquit eum judicio saeculari a mundo ex terminandum per mortem."

(Thomas von Aquin (1225-1274), Heiliger und bedeutendster Kirchenlehrer der römisch-katholischen Kirche, zit. nach Graf von Hoensbroech, Das Papsttum in seiner sozial-kulturellen Wirksamkeit, Leipzig 1904, S. 57)

"Thomas von Aquin ... verglich die Häresie mit der Münzfälscherei, und da er die Fälschung des Glaubens für mindestens so schlimm hielt wie die Fälschung von Münzen, die schon lange mit dem Tode bestraft wurde, musste auch die Häresie die Todesstrafe nach sich ziehen."

(Michael Hebeis, Schwarzbuch Kirche, Köln 2012, S. 235)

Über diese Worte im bischöflichen Auftrag sollte man nicht so schnell hinweg lesen: "Die Sekten zu verdammen und zu bekämpfen", ja laut Kirchenlehren ewig verdammen und bekämpfen bzw. ausmerzen, so heißt es in den offiziellen römisch-katholischen Dogmensammlungen (z. B. hier). Auch hier wird die Verdammung und Bekämpfung der als "Sekten" verleumdeten religiösen Minderheiten einfach selbstverständlich vorausgesetzt, ohne dass dieses Handeln überhaupt in Frage gestellt geschweige denn auf eine innerkirchliche Legitimation verwiesen wird, die es nämlich, wie oben dargelegt, gar nicht gibt. Es bleibt auch unbeantwortet, wie  "Achtung der Religionsfreiheit" einerseits und "die Sekten zu verdammen und zu bekämpfen" andererseits vereinbart werden soll. Auch auf diese Weise verkommen Werte wie "Achtung des Menschen, Achtung der Religionsfreiheit, Vertrauen auf den Heiligen Geist" zu scheinheiligen hohlen Worthülsen.

Weiter noch: Das II. Vatikanische Konzil bekannte sich sogar zur Toleranz gegenüber anderen religiösen Gemeinschaften. Doch die Praxis sieht auch hier ganz anders aus. Immerhin mussten die "Sektenbeauftragten" dazu manche Begriffe in ihrer Bedeutung verändern bzw. zu verdrehen, um den Widerspruch zwischen Theorie und Praxis nicht zu offensichtlich erscheinen zu lassen. Bei den Theologen ist es ja möglich, Begriffe verschieden zu interpretieren. Dies kann sogar so weit gehen, dass ein Begriff auch begründet geradezu in sein Gegenteil verkehrt wird, wenn er in sein Gegenteil verkehrt werden soll. Etwa, wenn man von "Frieden" spricht und damit meint, den Andersdenkenden töten zu wollen, damit er keinen "Unfrieden" mehr stiften könne. Ähnliches hat die Kirche mit dem Begriff "Toleranz" gemacht.

6) Die Verdrehung des Begriffes "Toleranz"

Auf dem II. Vatikanischen Konzil wurde also, wie bereits genannt, ein Dokument über die Religionsfreiheit verabschiedet, welches auch die "Toleranz gegenüber andere religiöse Gruppen einschließt".
Über dieses Dokument referiert z. B.
Pater Anselm Reichold, OSB (Vortrag abgedruckt in: Jugendsekten, Hrsg.: Junge Union Bayern, München 1985, S. 47
). Dabei spricht er plump einfach lediglich von einer Ausnahme (!), wo "Intoleranz" geboten sei, und sagt: "Aber ebenso ´intolerant` war er [Jesus] gegen die bewussten Betrüger." Nur: Wer sind für einen überzeugten Katholiken die "bewussten Betrüger"? Anstatt sich zu fragen, ob man nicht selbst der Betrüger ist (indem man z. B. behauptet, "katholisch" oder "evangelisch" wäre "christlich", also etwas, das angeblich im Sinne von Christus sei), projiziert man diese Beschimpfung einmal mehr auf die religiösen Minderheiten, denen gegenüber folglich "Intoleranz" geboten sei. Was ist das Toleranzgebot des II. Vaticanums ihnen gegenüber dann noch wert?

Noch einen Schritt weiter in der Manipulation und Irreführung der Bürger geht wiederum der evangelische Weltanschauungsbeauftragte Friedrich-Wilhelm Haack. So sagte er 1982: "Nun ist Toleranz gegenüber Ideen dann ein Unding, wenn diese Ideen beispielsweise lebensgefährdend sind. Was würde man einer Religion gegenüber sagen, die Menschenopfer bringen will? Auf ihre Weise tun dies die Ersatzreligionen tausendfach ... Toleranz kann sich gar nicht gegen Ideen richten, sondern nur gegenüber Menschen. Auch dann, wenn diese Träger zerstörerischer Ideen sind. Dann allerdings wird es auch Sache der Toleranz sein, das Leben der Gefährdeten zu bewahren und diese Menschen an der Ausübung ihrer zerstörerischen Ideen zu hindern."

"Verstehen wir unseren Glauben richtig, dann haben wir kein Recht, den ´Anderen` in seinem Glauben zu lassen."

(Friedrich-Wilhelm Haack, Sektenbeauftragter der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern, in seinem kircheninternen Bericht "Übersicht über die Sekten- und Weltanschauungsarbeit" vom 27.6.1970, 1. Halbjahr 1970, dokumentiert u. a. im Landeskirchlichen Archiv seiner Kirche)

Die geschliffenen intellektuellen Worte Haacks klingen für naive Ohren scheinbar vernünftig – auch wenn das Wort "Toleranz" – wie oben grundsätzlich erläutert – dabei unmerklich bereits in sein Gegenteil verkehrt wurde. "Tolerant" sei nach kirchlicher Auffassung demnach derjenige, der einen anderen an der Ausübung seiner Religion hindert. Natürlich nur unter bestimmten Bedingungen – nur dann nämlich, wenn jene Religionsgemeinschaft "Träger" einer "zerstörerischen Idee" sei. Doch das ist eben nach Haacks Meinung kein Einzelfall, bei der die Kirche die Beweispflicht hätte, dass hier wirklich "zerstörerische Ideen" vorliegen. Sondern, so Haack, dieser Fall ist "tausendfach" (!) gegeben, womit wiederum alle (!) religiösen Minderheiten pauschal im Visier der kirchlichen Rufmord-Maschinerie sind. Was also ist das Wort "Toleranz" in diesem Zusammenhang dann überhaupt noch wert? Wird dieser hohe Wert hier nicht schlichtweg verhöhnt?

 Jetzt bräuchten die "Sektenbeauftragten" andere Religionsgemeinschaften also nur noch als "Träger zerstörerischer Ideen" verleumden, damit sich dieser Teufelskreis schließt, und ein Krieg im Namen der "Toleranz" legitimiert erscheint. Und diese Verleumdung ist bei jeder Gemeinschaft mithilfe von inquisitorischem Verdrehungsgeschick möglich, worin die Beauftragten ja geschult sind.
So wie also zunächst das Wort "Toleranz" verdreht wurde, so folgen nun andere und neue Verleumdungen, Verdrehungen und Lügen – diesmal mit dem Ziel, einer Gemeinschaft z. B. "zerstörerische Ideen" unterzuschieben, damit sie in das Negativ-Schema passt und ihr gegenüber "Toleranz" fehl am Platz sei. Haacks Nachfolger,
Kirchenrat Dr. Wolfgang Behnk, betrieb diese Methode teilweise bis in den Wortlaut hinein, wenn er zum Beispiel das ethisch-moralisch hohe Ziel der Überwindung von Egoismus als "Persönlichkeitszerstörung" verhetzt und diffamiert.
Alles das hat System, und es schafft durch ständige Wiederholung die geistigen Grundlagen, auf der eine vielfältige Diskriminierung von seriösen und friedfertigen Gemeinschaften möglich gemacht werden kann. Die Kirche schwingt – diesmal bildlich gesprochen – immer wieder die Fackel und das Kruzifix. Es ist nur die Frage, was der Staat alles anbrennen und verbrennen lässt und wie weit es die Kirche diesmal damit bringt. Wieder zu Herren über Leben und Tod, oder bricht sie vorher unter der Last ihrer Entlarvung zusammen?
 

Die Intoleranz der Kirche

"Nein, Kriege, Kriege in eigener Regie, führt der Papst inzwischen keine mehr, nicht mehr gegen Heiden und nicht mehr gegen Christen, weil man ihm alles, womit er Jahrhunderte lang Kriege geführt, weggenommen hat – Truppen, Generäle, Schlachtschiffe, Kanonen, Festungen, Waffenfabriken. Doch gibt es Möglichkeiten, die Menschen auf andere Weise, gleichsam friedlicher zu bekämpfen. Ideologisch, durch dogmatischen Wahnsinn, der sich ja nie mit dem bloßen Glauben begnügt, der "missionieren", ausgreifen will; durch Unterstützung einer desaströsen Gesellschaftsmoral, die die Armen zugunsten der Reichen betrügt; durch eine desaströse Sexualmoral, die im Mutterschoß schützt, was sie preisgibt im Krieg ... Im Übrigen ist das Papsttum, seine ganze Geschichte beweist es, intolerant durch und durch, ist tolerant nur, wenn es die Opportunität erheischt, wenn es zweckdienlich ist, wenn es einfach nicht mehr anders geht, aber nur dann!"

(Der Kirchenhistoriker Karlheinz Deschner im Interview, Main-Post, 1.10.2008)

Anmerkung: Was Karlheinz Deschner hier über den ideologischen Kampf und die Intoleranz des Papsttums schreibt, wurde Ende des 20. Jahrhundert allerdings noch übertroffen durch die Inquisition und die Intoleranz der evangelischen Kirchenvertreter, wie diese Ausgabe des "Theologen" nachweist.
 


7) Die Strategie der Kirche

Wolfgang Behnk – als Nachfolger des ersten modernen Inquisitors Haack, der für die Evangelisch-Lutherische Kirche in Bayern wütete – ging sogar noch diesen einen Schritt weiter als sein geistiger Ziehvater und sein großes Vorbild Haack, und er unterstellte z. B. einer friedfertigen urchristlichen Gemeinschaft ohne einen geringsten Anknüpfungspunkt gar alle Voraussetzungen für einen Massenselbstmord. Allerdings nur dann – so eine bei Kirchenvertretern übliche heuchlerische taktische Einschränkung –, wenn diese Menschen sich einmal in einer ausweglosen Situation befinden sollten.
Auch an diesem Beispiel zeigt sich die Machart der Verhetzung anderer durch die Macht der Kirche. Die Niedertracht und Bösartigkeit ist kaum mehr zu überbieten. Denn es werden keine Fakten genannt (weil es sie – wie
meistens – nicht gibt), nur übel wollende Unterstellungen und Verdrehungen! Und schwerwiegender als in diesem Beispiel konnten "zerstörerische" Ideen, die Behnks Vorgänger Haack zur Bedingung für Intoleranz gemacht hat, gar nicht unterstellt werden. Hier ging es letztlich sogar um die grundlose Unterstellung von möglichem "Mord", wenn man sich einmal vorstellt, dass in ein Massenselbstmord-Szenario auch von ihren Eltern abhängige Kinder mit hineingedacht werden. Das waren also – wenn man so will – jetzt die "möglichen" "Menschenopfer", die Behnks Lehrer, Pfarrer Haack, zuvor beschworen hatte, und damit wird die Volksverhetzung durch die Kirche auf die Spitze getrieben.*  Denn faktisch liegt nicht das Allergeringste vor. Jedoch: Es war die Kirche selbst, die in der Vergangenheit Millionen von Menschen ermorden ließ und damit Menschenopfer in einem unvorstellbaren Ausmaß darbrachte.
So schreibt auch der bekannte Historiker
Karlheinz Deschner, er kenne "in Antike, Mittelalter und Neuzeit, einschließlich und besonders des 20. Jahrhunderts, keine Organisation der Welt, die zugleich so lange, so fortgesetzt und so scheußlich mit Verbrechen belastet ist wie die christliche Kirche, ganz besonders die römisch-katholische Kirche" (in: Die beleidigte Kirche, Freiburg 1986, S. 43).
Wobei es eine zusätzliche historische Schuld der Kirche ist, den von Christus abgeleiteten Namen "christlich" in den Schmutz getreten zu haben und bis heute zu treten, denn mit Jesus Christus hat das alles nicht das Geringste zu tun.

8) Die Zerstörung von Familien

Ein Hauptansatzpunkt für das destruktive Wirken der Kirche sind dabei die Familien. So appellierte der evangelische "Sektenbeauftragte" Friedrich-Wilhelm Haack 1977 im Handbuch für Kirchenvorsteher an die evangelischen Kirchenvorsteher unter der Rubrik Religiöse Gemeinschaften, Sekten wie folgt: "Religiöse Auseinandersetzungen in einer Familie können zu den übelsten und zerstörerischsten Begebenheiten werden. Liebe ist das stärkste Argument, darf aber nicht mit ´Nachgeben um des lieben Friedens willen` verwechselt werden ..."

Viele Mitbürger denken bei solchen Sätzen allerdings an den fanatischen Katholizismus, der unsägliches Leid z. B. in viele konfessionsverschiedene Familien gebracht hat, doch Haack hat natürlich auch hier die kleineren Bewegungen im Blick. Bestünde nämlich die Gefahr, dass ein Mitglied sich einer als Sekte verleumdeten religiösen Minderheit zuwendet, sollte sofort Kontakt mit dem Geistlichen aufgenommen werden. Kirchenvorsteher können solche Kontakte vermitteln. Eine ehemalige Katholikin berichtete, wie der katholische Pfarrer (Anfang des 21. Jahrhunderts) darauf hin ins Haus kam und dann zusammen mit ihrem katholischen Mann vor ihren Augen ihre Bücher verbrannte, in denen sie gerne gelesen hat. Doch die Kirche hat ihre Ehe, die sie auf gegenseitigem Respekt mit ihrem Mann führen wollte, zerstört.

Foto: UserEPO, 2007; GNU-Lizenz für freie Dokumentation; Zum "Brauchtum" der Kirche gehört das Verbrennen von Menschen, hier symbolisiert durch eine Stoffpuppe auf dem Scheiterhaufen beim Sankt-Hans-Fest. Das Töten steckt offenbar weiter in den Genen und im Unterbewusstsein. Die Kirche hat sich nie geändert. Nur die Versuche, ihre Gegner zu vernichten, variieren, je nach Zeit, Regierung und Umständen.

Indem er die Einschaltung des "Geistlichen" fordert, schürt der "Sektenpfarrer" also genau das, was er anprangert. Anstatt dass man in der Familie offen und respektvoll miteinander redet und dem anderen die Glaubensfreiheit lässt, gießt die kirchliche Seite das Öl ins Feuer und trägt den Konflikt von Anfang an über die Familie hinaus. Erfahrungsberichte zeigen, wie durch Einschalten des Pfarrers und des "Sektenbeauftragten" eine familiäre Situation erst "zu den übelsten und zerstörerischsten Begebenheiten" eskalierte, während man mögliche Konflikte in der Familie ohne kirchliche Einmischung mit Fairness, gegenseitigem Wohlwollen und Toleranz hätte beilegen können. Denn der Kirchenvertreter ist in dieser Situation ja kein neutraler und fairer Vermittler. Er vertritt schon durch sein Amt (und oft auch durch seine hinterhältige Art) von Anfang an die Glaubensposition des kirchlich orientierten Partners und betrachtet den anderen der beiden Partner und dessen Denken als das "Problem", das gelöst oder beseitigt werden muss. 

Diese Form von kirchlicher Einmischung in Familien angesichts der angeblichen Bedrohung durch "Sekten" und andere "Religiöse Gemeinschaften" beschränkt sich bei Friedrich-Wilhelm Haack gemäß des oben dargelegten Pfarrer-Dienstauftrages zunächst noch auf die Mitglieder der Evangelisch-Lutherischen Kirche. Dass die Mitgliedschaft in der Regel ohne Zustimmung des Betreffenden bei einer Säuglingstaufe zustande gekommen war, wird von der Kirche natürlich nicht problematisiert. Dabei könnte man diese Praktiken in Verbindung mit den von der Kirche geschürten Jenseits-Ängsten (weswegen es ja auch die "Nottaufe" gibt) auch als "Zwangschristianisierung" bezeichnen. Und gerade selbstständig denkende und freiheitsliebende Menschen nehmen diesen Zustand später nicht einfach als gottgegeben hin, sondern korrigieren ihn oftmals durch einen Kirchenaustritt.

Und hier erweitert nun die Kirche selbstherrlich ihren Auftrag an ihren Mitgliedern, und sie greift dazu direkt die möglichen Alternativen an, die sich einem Kirchenaussteiger bieten, in erster Linie eben kleinere Gemeinschaften und Initiativen. Theologisch wird dies damit gerechtfertigt, dass man weiter eine Art Besitzrecht auf die Seele des Aussteigers reklamiert. Beispielhaft wird dies in einem Brief des bayerischen Landesbischofs Johannes Hanselmann (dem ehemaligen Vorgesetzten von Friedrich-Wilhelm Haack und Dr. Wolfgang Behnk) deutlich, in dem es heißt: "Ich möchte ihnen aber nur zu bedenken geben, dass man aus der Kirche, in die man durch die heilige Taufe eingegliedert wurde, nicht aus- und eintreten kann wie bei einem Verein, wenn man anderswo etwas gefunden hat, was einem vielleicht mehr zusagt. Man kann Gott den Bund, den er in der heiligen Taufe mit uns geschlossen hat, nicht einfach kündigen" (Brief vom 6.9.1985 an A. Emtmann). Das mag in gewisser Weise gut gemeint gewesen sein. Doch es ist nicht nur scheinheilig, sondern diabolisch, v. a., weil man einmal mehr "Gott" kirchlich vereinnahmt. Und in diesem Zusammenhang wird auch das "Anderswo" verteufelt, das dem ehemaligen evangelischen oder katholischen Kirchenmitglied heute "mehr zusagt". Auf diese Weise wird von der Kirche sowohl ein lösbarer Familienkonflikt als auch ein fortgeschrittener Rosenkrieg zu einer apokalyptischen Auseinandersetzung zwischen Gut und Böse hochstilisiert, bei der die Fronten von Anfang an klar sind und die nicht nur Kleinfamilien zerstören, sondern ganze Familiensippen ins Unglück stürzen kann.

Die kirchliche Methode der Demagogie, anderen Bösartiges anzudichten, kann dabei sehr leicht vor allem wenig nachdenkende Menschen beeinflussen, wie es in der Vergangenheit auch immer wieder geschah. So war es für manche Menschen, die den Inquisitoren früherer Jahrhunderte glaubten, z. B. eine Ehre, das Holz für einen Scheiterhaufen herbeischaffen zu dürfen. Doch auch in der Gegenwart liegen die Menschen den kirchlichen Demagogen vielfach zu Füßen oder lassen sich zum Instrument bzw. Büttel klerikaler Religionspolitik machen.


Ist eine Ehe schließlich gescheitert (jede dritte Ehe ist leider davon betroffen), geht die Auseinandersetzung oftmals weiter im Sorgerechtsstreit um die Kinder. Auch hier die alten Muster: Durch die Einmischung des kirchlichen Sektenbeauftragten werden nicht selten alle Probleme der "bösen Sekte" angelastet anstatt sich wenigstens jetzt um ein faires Abwägen der Situation auch nur zu bemühen. Und während der Sektenbeauftragte Haack gar von "Liebe" heuchelte (siehe oben), waren die kirchlichen Beauftragten in vielen bekannt gewordenen Fällen nicht einmal zu Wohlwollen oder wenigstens zu minimalster Selbstkritik bereit. Stattdessen ist der mit der religiösen Minderheit sympathisierende Partner in der kirchlichen Betrachtungsweise immer der schuldige Täter, oder er wird als die leibhaftige Bedrohung für sein Kind beschuldigt. Und alle anderen Beteiligten werden dann ermuntert, sich als dessen unschuldige Opfer zu suhlen. Damit wurden v. a. die betroffenen Kinder in ein kaum vorstellbares Gefühlschaos gestürzt. So hatten z. B. Kinder schöne Erfahrungen mit dem Elternteil gemacht, der die Kirche verlassen hat, und sie wurden anschließend regelrecht genötigt, ihr Erleben gemäß dem kirchlichen Schema anders zu deuten. Und so mancher Familienrichter brauchte schon einige Zivilcourage, um sich dieses kirchliche Feindbild nicht aufzwingen zu lassen, sondern um beide Seiten gerecht abwägen zu können – obwohl er dann selbst in Verdacht geriet, mit der "Sekte" zu sympathisieren oder gar gemeinsame Sache mit ihr zu machen, obwohl er sich lediglich um Neutralität bemühte. In früheren Jahrhunderten wäre das sein Todesurteil gewesen. Und was die Kirche in unserer Zeit hier bereits an Familienstrukturen langfristig zerstört hat, müsste in einer eigenen Schrift dokumentiert werden.

9) Die Verantwortung der gesamten Kirche

Viele der Kirche grundsätzlich positiv gegenüberstehende Menschen weichen diesen Themen aber weiter gerne aus und fragen sich, ob nicht die "Sektenbeauftragten" nur einzelne extreme Stimmen innerhalb einer "pluralen" Kirche seien, die sich doch insgesamt geändert habe.
Dazu lässt sich sagen, dass einzelne Kirchenmitglieder anders denken mögen (wie auch vereinzelte Sektenbeauftragte ihr Amt weniger inquisitorisch ausüben), doch der Sektenbeauftragte bekämpft grundsätzlich Minderheiten im Auftrag der gesamten Kirche, und er tut es eben nicht als Einzeltäter, sondern offiziell im Namen und im ausdrücklichen Auftrag seiner Kirche. Und verantwortlich für die Arbeit der Sektenbeauftragten sind deshalb die jeweils vorgesetzten Kirchenleitungen. Diese tragen damit die Verantwortung für das Tun. Im Beispiel von Dr. Behnk, der bis 2014 im Inquisitions-Amt war, war dies der
Landeskirchenrat der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern, bestehend aus dem Landesbischof (seit 2011 und bis 2023 Prof. Dr. Heinrich Bedford-Strohm) und 17 Oberkirchenräten: Sie beriefen Pfarrer Behnk (oder seine Kollegen, den 2020 in den vorzeitigen Ruhestand versetzten Pfarrer Michael Fragner, den 2016 verstorbenen Pfarrer Bernhard Wolf und Pfarrer Behnks Nachfolger Pfarrer Matthias Pöhlmann) ins Amt, sie schützten und lobten ihn und beförderten ihn gar zum Kirchenrat, um seine Position in Kirche und Gesellschaft weiter zu stärken und seinem inquisitorischen Treiben zusätzlichen Nachdruck zu verleihen. Und wer einmal ins Visier von ihm oder seinesgleichen geraten war, der glaubt nicht mehr, dass die Kirche sich geändert habe. Der hat es praktisch erfahren, dass sie sich nicht geändert hat und dass es immer noch Wölfe im Schafspelz sind, mit denen man es zu tun hat. Die Kirche habe sich, so mancher Kirchenkritiker, allenfalls dem Zeitgeist angepasst. Und zu diesem Geist passt es auch, dass man die eher unpopulären Arbeiten von dafür bestimmten "Männer fürs Grobe" machen lässt.
So schrieb etwa der "Sektengegner" Norbert Thiel am Beispiel von Behnks Vorgänger Haack, wie es sich mit Pfarrer Haack und seiner Landeskirche verhält: "Pfarrer Haacks Wirken wird vielleicht kritisch betrachtet, de facto aber bewusst geduldet und sogar aktiv gefördert"
(Norbert Thiel, Der Kampf gegen neue religiöse Bewegungen, Mörfelden 1986, S. 79). Zudem treten in den Kirchen heute vermehrt "Freizeit-Inquisitoren" auf, welche sich auch ohne offiziellen kirchlichen Auftrag als "Sektenexperten" profilieren wollen, was bereits unter Pfarrer Haack kräftig gefördert wurde. Bekannt wurde v. a. die Sektenumfrage der Landeskirche (gemeint ist auch hier die Evangelisch-Lutherische Kirche in Bayern) aus dem Jahr 1967, um Aktivitäten religiöser Minderheiten auszuspionieren. Friedrich-Wilhelm Haack schrieb damals: "Zur Beschaffung von Informationen empfehlen sich besonders Oberschüler und Jugendkreise
. Diese kommen oft besser an die notwendigen Informationen heran als die Kirchenvorsteher" (Nachrichten der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern, Jahrgang 1967, S. 327). Heute traut sich die Kirche mit solchen und ähnlichen Praktiken allerdings nicht mehr ganz so frech an die Öffentlichkeit.

Der Denunziant (A. Paul Weber, 1936) Die Kirche hat von Anfang an verdeckte Informanten bzw. Denunzianten alsVerdeckte Informanten im Dienste der Kirche Helfer im Kampf gegen religiöse Minderheiten eingesetzt. Und der evangelische Sektenbeauftragte Friedrich-Wilhelm Haack führt diesen "Dienst" im Jahr 1967 auch in die evangelische Jugendarbeit ein.

Die Kirche agiert dafür aber verstärkt im Hintergrund. So werden z. B. Politiker oder Beamte, die über Entscheidungsbefugnisse verfügen, durch Telefonanrufe eingeschüchtert und bedrängt, Anhängern religiöser Minderheiten bestimmte Rechte zu verweigern, z. B. die Möglichkeit, an einem Marktstand ihre Waren zum Verkauf anzubieten. Dabei wird sehr oft der Freizeit-Inquisitor vorgeschoben. Ein "besorgter Bürger" (in Wirklichkeit ein vom kirchlichen Inquisitor beauftragter oder mit ihm zusammen arbeitender Kirchenanhänger) beschwert sich dann, warum dieser Minderheit (die sich nichts zuschulden kommen ließ) nicht das Handwerk gelegt wird. Oder der "Bürger" bringt als stiller Denunziant beim Sektenbeauftragten diesen erst zum Handeln. 
.
Das Niederträchtige am Tun der Kirche ist, dass ihre Vorwürfe gegen Andersgläubige meist falsch sind, teilweise sogar absurd. So absurd, wie in früheren Zeiten viele kirchliche Vorwürfe der Kirchen gegen "Ketzer" (die Kinder geschlachtet haben sollen), "Hexen" (welche die Ernte durch Zauber vernichtet haben sollen), Juden (welche die Brunnen vergiftet haben sollen), Bauern und Türken absurd waren. Dennoch: In der Vergangenheit ist es der Kirche jeweils gelungen, die staatlichen Obrigkeiten letztlich als Vollstrecker ihrer "Sektenbekämpfung" bis hin zu Hinrichtungen und Kriegen zu gewinnen. Die Parallele zur Gegenwart besteht darin, dass auch die heutigen "Sektenbeauftragten" bestrebt sind, ihren Kampf auf Politiker und Richter zu übertragen und die Medien dafür einzusetzen, in denen wiederum Vertreter der Kirchen z. B. für religiöse Themen im Fernsehprogramm hauptverantwortlich sind. Wenn zum Beispiel der Bayerische Rundfunk eine Reportage gegen eine angebliche "Sekte" macht, dann stellt man in der Regel fest, dass alle verantwortlichen Redakteure Kirchenmitglieder sind oder gar nebenher auch für kirchliche Einrichtungen tätig sind.

So gossen viele kirchengeneigte Journalisten, Richter und Politiker in den letzten Jahren immer  weiteres Öl in den Brandherd, und die unmittelbaren Kirchenvertreter waren dankbar, dass sie dann ihre "groben" Angelegenheiten gar nicht selbst erledigen mussten. Oder Politiker betrachteten die modernen Inquisitoren irrtümlich als "Experten" für religiöse Fragen anstatt als bloße Interessenvertreter ihrer Kirche. Während aber in der Vergangenheit viele "Ketzer", "Hexen", Juden, Bauern und Türken getötet wurden, sind in der Gegenwart einem solchen Tun zum Glück noch Riegel vorgeschoben. Doch dieser Riegel hält nur, wenn Politiker und Bürger sich vom letztlich totalitären kirchlichen Herrschaftsanspruch lösen und in diesem Zusammenhang auch die unsägliche Milliarden-Subventionierung und Privilegierung der katholischen und evangelischen Institutionen zugunsten einer Gleichbehandlung mit anderen Gemeinschaften endlich (!) ersatzlos beenden und damit einen Schritt zu echter Demokratie zu wagen.
Doch leider wird das Unrecht vielfach weiterhin auf die Spitze getrieben. So ließ sich z. B. vor wenigen Jahren die in ihrem Inquisitionsgebaren europaweit führende Evangelisch-Lutherische Kirche in Bayern von entsprechend indoktrinierten Richtern sogar bestätigen, dass es zur Wahrnehmung der "grundgesetzlich garantierten Religionsfreiheit" sogar notwendig sei, überall bekannt zu machen, "wer mit wem in Verbindung steht", d. h. welche Bürger einer von der Kirche verhetzten und verleumdeten Minderheit nahe stehen
(Main-Post, 11.12.2006). Das entsprechende Gericht betonte nämlich, "dass mittlerweile viele Menschen Kontakte zu Glaubensgemeinschaften jeglicher Art und deren Aktivitäten kategorisch ablehnten" (PS: Mit vergleichbaren Argumenten wurde vor einigen Jahrzehnten in Deutschland das Tragen eines Judensterns begründet und gerechtfertigt). Und warum ist das so? Es ist die "Frucht" der bösen Saat der kirchlichen "Sektenbeauftragten" und ihrer Volksverhetzung gegen Minderheiten. Die Niedertracht und Bösartigkeit, mit der v. a. die Evangelisch-Lutherische Kirche in Bayern sozusagen als Speerspitze ihren Feldzug zur Existenzvernichtung Andersgläubiger zu führen versuchte, eskalierte unter der Kirchenrat Behnk leider weiter. Sie schauen, wie weit sie diesmal gehen können. Ihre Gefolgsleute sind dabei vor allem kirchenhörige Politiker oder Theologen, die gleichzeitig als Politiker tätig tätig sind.

Und so gilt noch immer, was Karl Jaspers in seinem Werk Der philosophische Glaube schrieb: Der "biblisch fundierte Ausschließlichkeitsanspruch" der Kirchen "steht nach wie vor ständig auf dem Sprunge, von neuem die Scheiterhaufen für Ketzer zu entflammen". (9. Auflage, 1988, S. 73)

"Es ist durchaus nicht abwegig zu sagen, dass Benedikt XVI. die Aussagen Gregors XVI. im 19. Jahrhundert, seines Vorgängers, wiederholt, zwar nicht in dieser scharfen Form, als dieser sagte, die Religions- und Gewissensfreiheit sei eine absurde Wahnidee. Freilich sagt das so in dieser Weise Papst Benedikt XVI. nicht, aber er meint eben, dass durch diese Dekrete der Religionsfreiheit [des 2. Vatikanischen Konzils] ein Relativismus eingeführt wird, der nicht tragbar ist."

(Professor Dr. Gotthold Hasenhüttl** im Interview mit dem Deutschlandfunk, 3.3.2009)

* Eine Antwort aus den Reihen dieser Gemeinschaft [des Universellen Lebens e.V.] war damals: "Sollten einige Urchristen ... durch die Rufmordkampagnen der beiden Institutionen Katholisch und Evangelisch hingemordet werden, dann haben sich diese Urchristen nicht selbst das Leben genommen, sondern sie wurden getötet. Denn sich das Leben zu nehmen, ist nicht in unserem urchristlichem Sinne." ("Christusstaat weltweit" Nr. 8/1993)

** Professor Dr. Gotthold Hasenhüttl wurde am 2.1.2006 die römisch-katholische Lehrerlaubnis entzogen. Er hatte auf dem Ökumenischen Kirchentag 2003 in Berlin zu einer katholischen Abendmahlsfeier auch Protestanten und andere Nicht-Katholiken eingeladen, was nach römisch-katholischer Lehre verboten ist.


10) Inquisition – früher und heute

Nachfolgend eine Gegenüberstellung der Arbeitsweisen der Inquisition früher und heute. Die Zitate in der linken Spalte stammen aus dem Standardwerk von Iosif R. Grigulevic, Ketzer-Hexen-Inquisitoren, Herausgeber Fritz Erik Hoevels, Ahriman-Verlag, Freiburg 1995.

Inquisition damals

Inquisition heute


1) "Außer diesem sozusagen führenden Apparat der Inquisition gab es noch Hilfspersonal, das aus den so genannten Familiares bestand: Das waren geheime Denunzianten, Gefängniswächter, Boten und anderes Dienstpersonal. Die Geheimagenten, Spitzel und Spione rekrutierten sich aus den verschiedensten Schichten der Gesellschaft."
(S. 117)
 


Heute sind es die Gerüchteerfinder und Stimmungsmacher aus den so genannten "Bürgerinitiativen" oder "Elterninitiativen", die meist von den so genannten "Sektenbeauftragten" der Kirchen inspiriert und gesteuert werden. Die "besorgte Mutter" oder der "wachsame Kunde" ist in Wirklichkeit ein Mitarbeiter des "Sektenbeauftragten" oder ein Helfer bzw. Helfershelfer, der zuvor entsprechend instruiert wurde.

 


2) "In den ländlichen Orten wurde die Rolle des Spürhundes vom Pfarrgeistlichen ausgeübt, dem zwei Gehilfen aus der Laienwelt zur Seite standen."
(S. 118)

 

 


Pfarrgeistliche bzw. die jeweiligen Ortspfarrer oder Ortspriester sind auch heute überall dort zur Stelle, wo z. B. Urchristen Marktstände aufbauen, um dort gesunde Nahrungsmittel zu verkaufen. Ihre Gehilfen rufen dann bei der Stadtverwaltung an und protestieren dagegen, dass diese Leute dort ihre Waren neben katholischen oder evangelischen Händlern verkaufen dürfen. Sie verlangen entweder ein Verbot des Standes oder eine Kennzeichnungspflicht des religiösen Bekenntnisses der Händler.
 

3) "Um jemanden zur Verantwortung ziehen zu können, musste man selbstverständlich einen Grund haben. Als solcher diente in Glaubensangelegenheiten die Beschuldigung, die eine Person gegen eine andere erhob wegen Zugehörigkeit zu einer Sekte bzw. Sympathie oder Hilfe für einen Ketzer." (S. 119)


Wer sich religiösen Minderheiten gegenüber anständig und rechtlich korrekt verhält, gerät selbst oft ins Schussfeld der "Sektenbeauftragten" und ihrer Helfer. Dies geht so weit, dass sich einzelne Menschen öffentlich rechtfertigen müssen, die auch nur im Verdacht stehen, Angehörige einer Minderheit nicht ausgegrenzt zu haben oder z. B. bei ihnen eingekauft zu haben.

 


4) "In der ... Predigt erläuterte der Inquisitor den Gläubigen die Unterscheidungsmerkmale der verschiedenen Häresien, die Kennzeichen, an denen man die Ketzer erkennen könne, die Schliche, auf die sie sich einließen, um die Wachsamkeit der Verfolger einzuschläfern, und schließlich die Formen und Methoden der Meldung bzw. Anzeige."
(S. 119)

 


Heute reisen so genannte "Sektenbeauftragte" durch die Lande und halten Vorträge, in denen sie den Leuten angebliche Merkmale "gefährlicher" Gruppierungen präsentieren.
Dabei vertrauen sie darauf, dass die Zuhörer nicht merken, wie sehr die meisten dieser Kriterien in Wirklichkeit auf die großen Kirchen zutreffen. Sind diese Veranstaltungen auch schlecht besucht, so sorgt doch die kirchenfreundliche Lokalpresse für eine Verbreitung der abstrusen Thesen. Würde ein Redakteur wagen, nicht im Sinne der Kirche zu schreiben, wären seine Tage vermutlich gezählt.
 

5) "Die Inquisitoren zogen es vor, die Informationen von den Denunzianten persönlich zu empfangen, indem sie ihnen versprachen, ihren Namen geheim zu halten." (S. 119)


Heute übernehmen v. a. Rundfunk- und Fernsehsendungen diese "Arbeit". Hierbei werden die Autoren von den Rundfunk- und Fernsehbeauftragten der Kirche instruiert oder beraten. Sie lassen z. B. anonyme Denunzianten als tatsächliche oder angebliche "Aussteiger" zu Wort kommen. Diese verbreiten meist mit verfremdeter Stimme Unwahrheiten, über die sie aufgrund der angeblich notwendigen Anonymität keine Rechenschaft ablegen müssen.
 


6) "Der traurige Ruhm, der die Inquisition begleitete, schuf unter der Bevölkerung eine Atmosphäre des Schreckens, des Terrors und der Unsicherheit, die eine Welle von Denunziationen erzeugte, deren überwältigende Mehrheit Erfindungen oder törichte und lächerliche Verdächtigungen waren."
(S. 119 f.)
 


Töricht und lächerlich sind auch heute die Verdächtigungen. Doch die Einstellung zu den Verleumdeten ist bei zahlreichen Menschen zumindest verunsichert. Viele, darunter auch viele Journalisten, fallen auf die angeblichen kirchlichen "Experten" herein, die in Wirklichkeit nur aus eigensüchtigen Interessen die "religiöse Konkurrenz" schlecht machen.

 

7) "Aussagen zugunsten des Angeklagten wurden jedoch nicht berücksichtigt, da man der Ansicht war, dass diese durch verwandtschaftliche Bande oder durch sonstige Abhängigkeiten des Zeugen vom Beschuldigten hervorgerufen worden waren." (S. 124)


Auch heute kommen in den Medien so gut wie nie Menschen zu Wort, die z. B. als Nachbarn positive oder "normale" Erfahrungen mit religiösen Minderheiten gemacht haben. Auch Behörden, die verleumdete Betriebe oft bis in alle Einzelheiten prüften, und nichts Unrechtes fanden, werden so gut wie nie nach ihrem Urteil gefragt.
Denn positive Aussagen zu religiösen Minderheiten passen selten in das Konzept einer Radio- oder Fernsehsendung. Denn der Auftrag der Autoren lautet seit vielen Jahren, die "böse Sekte" "in die Pfanne zu hauen". In allen großen Medienanstalten (öffentlich-rechtlich und privat) sitzen die Vertreter der beiden großen Kirche an den Schalthebeln (z. B. im Aufsichtsrat), und sie benutzen die Medien für ihre eigene Lobbyarbeit und ihre Inquisition gegen Minderheiten. Oder die Autoren sind selbst Kirchenanhänger und brauchen gar nicht eigens instruiert werden, dass ihr Auftrag sinngemäß lautet, die betroffene Minderheit zu verleumden und vor ihr zu "warnen". Wer sich weigern würde, gefährdet seine Karriere.
 


8) "Persönliche Gegenüberstellungen der Anklagezeugen mit den Inhaftierten waren verboten."
(S. 125)

 

 


In öffentlichen Veranstaltungen und Fernsehsendungen werden so gut wie nie beide Seiten einander gegenübergestellt. Die rufmörderische oder verleumderische Darstellung der Kirchenvertreter wird von den Medien meist schon bei der Moderation automatisch übernommen. Die Filmaufnahmen werden dann mit entsprechend düsterer Musik unterlegt, um den Zuschauern durch diese Manipulation etwas zu suggerieren, was die Bilder gar nicht beinhalten. Sollte eine Sendeanstalt doch einmal wagen, einen Vertreter einer religiösen Minderheit einzuladen und ihm z. B. gleiche Redezeit einzuräumen, sagt der Kirchenvertreter unter Umständen erbost ab und lässt die Sendung platzen. Die Redakteure müssen dann um ihren Arbeitsplatz fürchten.
 


9) "Sie (die Inquisitoren) bestanden in der Regel auch weiterhin auf den Beschuldigungen, selbst in solchen Fällen, wo sie sich als Verleumdungen und Erfindungen der Denunzianten herausgestellt hatten."
(S. 125)
 


Auch heute werden immer wieder uralte Lügen, die teilweise schon lange widerlegt wurden, neu serviert. Die kirchlichen "Sektenbeauftragten" berufen sich auch wider besseres Wissen auf ihre "Meinungsfreiheit".

 


 

"Die Hinrichtung der ´Ketzer`, die meist an einem Festtag stattfand, gestaltete die Catholica zu einer Schaustellung ihrer unbeschränkten Gewalt. Sonderreiter luden das Volk ein, man nahm hohe Preise für Fensterplätze und gab jedem Gläubigen, der Holz für den Scheiterhaufen herbei schleppte, einen vollkommenen Ablass. Auf dem Weg zur Richtstätte wurde das Opfer oft unter einen Narrenhut gesteckt, mit glühenden Zangen gezwickt und ihm manchmal noch die rechte Hand abgeschlagen. Nur in Ausnahmefällen hat man einen Verurteilten vor der Exekution gnadenweise erwürgt. Während der Häretiker, je nach Windrichtung, erstickte oder qualvoll verbrannte, sangen die versammelten Katholiken das Lied ´Großer Gott, wir loben dich.`"

(Der Historiker Karlheinz Deschner in "Abermals krähte der Hahn", S. 482; es wurde das so genannte "Te Deum" gesungen, aus dem dann später das Kirchenlied "Großer Gott, wir loben dich" entwickelt wurde.)


 



11) Interview mit Professor Dr. Hubertus Mynarek über sein Buch
"Die neue Inquisition" aus dem Jahr 2000

"Scheiterhaufen können wir nicht mehr anzünden, doch ..."

Redaktion: Herr Prof. Mynarek, im Verlag Das Weisse Pferd ist Ihr Buch über "Die neue Inquisition" erschienen. Wie kamen Sie eigentlich darauf, zu diesem Thema ein Buch zu schreiben?

Prof. Mynarek: Seit Jahren schon beobachte ich das im höchsten Maß ungerechte, menschenrechtswidrige Kesseltreiben zahlreicher kirchlicher und staatlicher Sektenbeauftragter gegen neue Religions- und Glaubensgemeinschaften. Ich konnte natürlich nicht alle gegen diese Gemeinschaften erhobenen Beschuldigungen auf ihren Wahrheitsgehalt hin überprüfen. Aber aufgrund meiner guten Kenntnis der Kirchengeschichte und der beiden Großkirchen in ihrem jetzigen Zustand wusste ich mit absoluter Sicherheit, dass alles, was die Sektenbeauftragten den neuen Gruppierungen vorwerfen, in sehr viel größerem und massiverem Umfang den beiden Kirchen vorzuwerfen ist. So reifte in mir der Entschluss, diesen Sachverhalt in allen Einzelheiten im Rahmen eines Buches aufzuzeigen. Außerdem motivierte mich zum Verfassen dieses Buches die Frage: Wie steht es um den Charakter, die Psyche, das Innenleben von solchen Leuten wie den Sektenbeauftragten, wenn sie bereit und fähig sind, tagtäglich eimerweise Dreck und Schlamm über andere Menschen auszuschütten, deren Schuld im Grunde nur darin besteht, nicht oder nicht mehr den beiden Kirchen anzugehören und ihren eigenen spirituellen, religiösen und ethischen Weg gehen zu wollen. Und schließlich ging es mir bei meinem neuesten Buch auch darum, die zynischen, raffinierten Methoden und Strategien aufzudecken, die von kirchlichen und staatlichen Sektenbeauftragten angewandt werden, um neue Glaubensgemeinschaften, ihre Leiter und Angehörigen, zu diskriminieren, zu diffamieren.

Redaktion: Sie sind als der erste Universitätsprofessor der kath. Theologie des deutschsprachigen Raumes im 20. Jahrhunderts aus der Kirche ausgetreten und sind heute einer der bekanntesten Kritiker dieser Institutionen. Wie wurde aus einem hohen Kirchenvertreter ein Kirchenkritiker, ein "Abtrünniger"?

Prof. Mynarek: Ich bin aus ganz idealistischen, ethischen, christlichen Motiven Priester geworden. Ich glaubte damals, die Kirche sei jene Institution, die die Menschen aus den reinsten und besten Absichten und Motiven heraus zu Gott und einem vollkommeneren Leben führen wolle. In diesem Vorgehen wollte ich sie als Priester unterstützen. Je höher ich jedoch auf der Stufenleiter meiner theologischen Karriere bis hin zum Dekan der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien aufstieg, desto deutlicher erkannte ich, dass es den meisten Verantwortlichen in den beiden Kirchen sehr viel primärer und zentraler als um das Heil der Menschen in Wirklichkeit um Macht, Prestige, Profit, Ruhm, Einfluss in Staat und Gesellschaft, Luxus und Prunksucht in einem für den gewöhnlichen Gläubigen geradezu unvorstellbaren Ausmaß geht. Ich habe lange mit mir gerungen, aber mir wurde immer klarer: Du wirst selber zu einem ganz korrupten Funktionär dieses Systems, wenn du nicht den entscheidenden Schritt tust und aus ihm austritt.
Derselbe ethische Idealismus, der mich bewogen hatte, dieser Kirche als Priester zu dienen, trieb mich auch wieder aus ihr heraus, als ich in schmerzlicher Weise erkennen musste, dass die Kirche in Wirklichkeit abtrünnig ist, weil sie in ihrer Praxis ständig alle hohen Normen der Humanität, der Ethik, der Spiritualität und Religiosität mit Füßen tritt und tagtäglich verrät.

Redaktion: Haben Sie auch persönlich, am eigenen Leib, Erfahrungen mit der "neuen Inquisition" gemacht?

Prof. Mynarek: Ja, das habe ich. Als ich mit meiner Kritik an der Kirche an die Öffentlichkeit ging, setzten die Schikanen ein: Telefonterror mit wüsten Beschimpfungen, Verleumdungen, massiven Morddrohungen, aufgeschnittene Autoreifen, Manipulationen an meinem Auto, die mich auf der Autobahn Wien-Salzburg fast das Leben gekostet hätten, weil die Bremsen plötzlich nicht mehr funktionierten usw. Auf massiven Druck hin, den die Kirche auf den österreichischen Staat ausübte, wurde mir die Lehrtätigkeit an der Uni Wien untersagt, obwohl ich mir disziplinrechtlich nichts hatte zuschulden kommen lassen. Aber die Kirche handelte da nur ihrer Herrschaftslogik entsprechend konsequent. Sie hat ja auch die Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen bis heute nicht unterzeichnet. Als den Kirchenoberen zu Gehör kam, dass ich beabsichtigte, ein Buch über Macht und Menschenmissbrauch durch die Kirchenfürsten herauszugeben, erschien bei mir der Delegierte eines deutschen Kardinals und versuchte mich mit allen Mitteln von dieser Idee abzubringen.
Er versprach mir die Wiedereinsetzung in meine Lehrstuhltätigkeit, wenn ich mich verpflichtete, wieder in die Kirche einzutreten und das Buch nicht erscheinen zu lassen. "Andernfalls", so drohte er, "werden wir Sie mit dreißig und mehr Gerichtsprozessen überziehen und Sie finanziell in den Ruin treiben. Denn Scheiterhaufen können wir aber nicht mehr anzünden. Es gibt aber andere Mittel, auch heute noch, Menschen zu vernichten." Tatsächlich strengten Vertreter der Kirche nach Erscheinen des Buches mit dem Titel Herren und Knechte der Kirche vor dem Landgericht und Oberlandesgericht München einen Prozess gegen mich an. Die sich durch mein Buch beleidigt fühlenden Kirchenmänner verlangten Schmerzensgelder zwischen zehntausend und zwanzigtausend Mark für die Antastung ihrer Persönlichkeit. Im Gefolge der mit den langjährigen Gerichtsprozessen verbundenen Kosten wurden mein Haus in Kitzingen bei Würzburg zwangsgepfändet. Mir wurde von einem Amtsgericht sogar die Schreibmaschine gepfändet, denn kirchenkritische Arbeiten könnte ich ja auch mit der Hand schreiben, teilte man mir mit.

Redaktion: Nun hat ja die Enquetekommission des Deutschen Bundestags festgestellt, dass eine generelle Gefahr von so genannten Sekten nicht ausgeht. Ist damit die Gefahr einer neuen "Hexenjagd" in unserem Land vermindert oder gebannt?

Prof. Mynarek:  Leider nein. Denn die Kommissionsmehrheit hat im Widerspruch zu den tatsächlichen Erkenntnissen der Kommission, dass die neuen religiösen und weltanschaulichen Bewegungen keine größeren Gefahren bergen als das, was von vergleichbaren anderen gesellschaftlichen Gruppen, sogar z. B. von Sportvereinen, auch ausgeht, trotzdem einen ganzen Katalog gesetzgeberischer Handlungsempfehlungen beschlossen, die die religiöse Freiheit nichtkirchlicher Gruppen wieder und weiter einschränken sollen.
Ich behandle diese von der Kommissionsmehrheit empfohlenen Maßnahmen am Ende meines Buches Die neue Inquisition, will sie hier also nicht weiter ausführen. Erwähnt sei hier daher nur die Spitzel-Empfehlung der Kommission, wonach die Sammlung und Verbreitung einschlägiger Daten durch das Kölner Bundesverwaltungsamt erfolgen solle. Sodann der Vorschlag, eine neu zu gründende Bundesstiftung solle das Geld für vielerlei Untersuchungen zur Verfügung stellen. Das bedeutet wohl konkret, dass mit der Schaffung einer Bundes- und Länderstiftung, deren Aufsichts- und Wissenschaftsgremien voraussichtlich mit den kirchlichen oder kirchenfreundlichen ehemaligen Sachverständigen der Enquetekommission bestückt würden, die Arbeit der an sich jetzt gar nicht mehr notwendigen Kommission unter der Hand dennoch fortgesetzt würde.

Redaktion: Sie schreiben in Ihrem Buch, dass der totalitäre Typ von Religion, wie ihn vor allem die katholische Kirche verkörpert, die Menschen heute immer weniger beeindrucken oder gefangen halten kann. Weshalb verlassen so viele Menschen auch die lutherische Kirche, die doch bezüglich Dogmen und Vorschriften ein "liberaleres" Image hat als die katholische?

Prof. Mynarek:  Die lutherische Kirche hat tatsächlich ein liberaleres Image als die katholische Kirche. Aber der Schein trügt. In Wirklichkeit ist das Gottes- und Menschenbild, das Luther hatte und seiner Kirche vermachte, noch weit menschenfeindlicher und grausamer als das der katholischen Kirche. Mein Buch über Die neue Inquisition zeigt das in allen Einzelheiten. Das fatale Menschen- und Gottesbild Luthers, der den Menschen im Angesicht und unter dem Druck eines rücksichtslosen Willkürgottes keine Chance für eine freie ethische Entscheidung lässt, prägt ja auch noch die heutigen Inquisitoren, d. h. die protestantischen Sektenbeauftragten. Nicht ohne Grund betonte einer der einflussreichsten unter ihnen: "Wenn Sie bei mir auf Inquisition tippen, dann liegen sie richtig!"

Redaktion: Sie kennen den jetzigen Papst noch aus ihrer Zeit als Student in Lublin, als Karol Wojtyla dort Professor war. Der Papst hält sich bezüglich des Kosovokrieges ziemlich zurück. Im Gegensatz zum Bosnienkrieg hat er diese Aktion nicht als "gerechten Krieg" bezeichnet und beide Seiten zum Einstellen der Gewalt aufgefordert. Geht es dem Papst wirklich um Frieden – oder welche Interessen verfolgt er Ihrer Meinung nach mit dieser Haltung?

Prof. Mynarek:  Ganz generell gilt: Für den Papst und den Vatikan als oberste Zentrale der katholischen Kirche sind Macht und Missionsinteressen stets das Wichtigste. Wenn jetzt der Papst gegenüber Jugoslawien moderatere Töne anschlägt als die USA, mit denen er bei der Zerschlagung des kommunistischen Ostblocks strategisch doch engstens zusammengearbeitet hat, dann tut er das, weil ihm das Herz näher ist als die Hose. Ohne Bild gesprochen: Der Papst will sein Lebensprogramm der Re-Evangelisierung – sprich Rekatholisierung – Europas in Jugoslawien nicht durch eine Pro-Amerika-Haltung im Kosovo-Konflikt gefährden. Milosevic oder dessen Nachfolger werden ihm dankbar ihre Türen öffnen und alle Chancen bereitstellen, wenn dieser Konflikt einmal beendet ist. Ohnehin hat dieser Papst nie einen Hehl daraus gemacht, dass ihm die Annäherung zu den und die Bekehrung der Orthodoxen immer wichtiger war als die von ihm nie ganz ernst genommenen Lutheraner.

Redaktion: Was glauben Sie, aus welcher Richtung der nächste Papst kommen könnte?

Prof. Mynarek:  Das ist völlig egal, aus welcher Richtung der nächste Papst kommen wird. Gegenüber den eisernen Herrschaftsstrukturen und raffinierten Einschüchterungsmechanismen der römischen Kurie wird er entweder ein willfähriges Vollzugsorgan ihrer Weisungen sein oder sterben – wie Johannes Paul I. Man vergesse auch nicht, dass inzwischen die fanatische innerkirchliche Sekte Opus Dei viele wichtige Positionen im Vatikan übernommen hat. Imagemäßig wird natürlich der neue Papst so tun, als ob er offener, weniger doktrinär, weniger autoritär und konservativ als Johannes Paul II. ist. Es wird so kommen, wie ich es in meiner Aussage gegenüber dem Stern sagte: Selbst wenn der neue Papst nur einen "Furz" progressiver sein sollte als der alte, werden ihn die Medien schon wieder als einen sagenhaften Reformator und Renovator feiern, und die katholische Kirche wird wieder von dieser Imageverbesserung profitieren.

Redaktion: Herr Prof. Mynarek, wir danken Ihnen für das Gespräch.

Von dem Buch sind noch einige Exemplare über den Verlag erhältlich [2024]. Zum Thema der neuen Inquisition empfehlen wir auch das Buch Der Steinadler und sein Schwefelgeruch – das neue Mittelalter (siehe nächstes Kapitel).
 

 

DOKUMENTATION

12) Wie die Verfolgung religiöser Minderheiten im Deutschland des ausgehenden 20. Jahrhunderts weiter ging (ab 1945)

Nachfolgende dokumentarische Studie ist dem Buch Der Steinadler und sein Schwefelgeruch Das neue Mittelalter des Sozialwissenschaftlers Matthias Holzbauer entnommen, Marktheidenfeld 2003. Es ist das für die Internet-Publikation aktualisierte 2. Kapitel des Buches. Die Fußnoten wurden mit entsprechender Nummer aus dem Buch übernommen und die dazu gehörigen Quellenangaben finden sich im Anhang. Der Text kann mit Erlaubnis des Autors auch gemäß dieser Veröffentlichung auf theologe.de zitiert werden. Für eine wissenschaftliche Zitierung empfehlen wir jedoch das Buch, da dann auch die Seitenzahlen mit angegeben werden können.

"Ich schäme mich Deutschlands. Was werden die anderen Nationen sagen, die so schon unsere Dummheit zu verlachen pflegen?"

(Friedrich Spee von Langenfeld über die Hexenjagd im 17. Jahrhundert)

Der angebliche Widerstand der Kirchen

Neuer Start mit alten Privilegien

Die Inquisitoren kommen wieder

Zurück ins Mittelalter

Angebliche "Gehirnwäschen"

Kirchliche Lobbyarbeit

Protestanten als inquisitorische Vorreiter

Der Staat bekämpft seine eigenen Bürger

Geballte Staatsmacht gegen religiöse Minderheiten

Staats-Kirchen-Filz auf Schritt und Tritt

Die Hysterie greift um sich

Die angebliche Gefahr ... gibt es gar nicht

Inquisition im Deutschen Bundestag

Der gläserne homo religiosus

"Faschistische Züge" der Sektenjagd

Im Jahre 1945 lag Deutschland in Trümmern – und suchte verzweifelt nach neuer Orientierung. Die Frage, inwieweit eine ganze Generation am Entstehen einer menschenverachtenden Diktatur und an deren furchtbaren Verbrechen mitschuldig war, stand zwar im Raum – wurde aber angesichts der Notsituation, der äußeren wie inneren Zerstörungen, schnell verdrängt. Erst nach vier Jahren Besatzung durften die Deutschen beginnen, sich selbst zu regieren – doch zunächst waren sie in der Völkergemeinschaft noch immer mit dem Kainsmal des Völkermords behaftet. Jegliche Unsicherheit der Regierenden aber schafft erhöhten Legitimationsbedarf – wie das Beispiel Karl "der Große" zeigt. Was lag da näher, als dass die neue "rheinische Demokratie" Adenauerscher Prägung sich wiederum eng an die Kirchen anlehnte?

Die beiden Steigbügelhalter des NS-Staates hatten den Zusammenbruch erstaunlich gut überstanden. Dabei musste der Aufstieg des Phönix Kirche aus der Asche den Prälaten und Oberkirchenräten wie ein Wunder vorkommen – hatten sich doch beide Konfessionen mit der Hitlerdiktatur fest liiert. Ihr erneuter Aufstieg zu Machtfülle im neuen Staatswesen, zu neuen (und alten) Privilegien zeugt jedenfalls von einer Meisterleistung kirchlicher Geschichtsfälschung, durch die aus den bis fast zum "Endsieg" NS-loyalen Amtskirchen in wenigen Wochen wehrhafte Horte des Widerstands wurden. Die instinktive Fähigkeit der Kirchenführer, sich rechtzeitig nach beiden Seiten abzusichern, ist bemerkenswert. Dennoch ist dieser nahtlose Übergang vom Kollaborateur zum Immer-schon-dagegen-Gewesenen nur durch ein gerüttelt Maß an kollektiver Vergesslichkeit und wohl auch unbewusster Kumpanei weiter Bevölkerungskreise zu erklären.

Der angebliche Widerstand der Kirchen

Von der Begeisterung der Mehrzahl der protestantischen Pfarrer für die nationalsozialistische Bewegung war bereits die Rede. Es ist hier nicht der Platz, ausführlich auf die bis heute gängigen Legenden des kirchlichen Widerstands einzugehen. Es sei hier nur erwähnt, dass die angeblich Widerstand leistende "Bekennende Kirche" (BK) von Personen wie Wilhelm Niemöller geführt wurde, der seit 1923 Mitglied der NSDAP war – und 1933, als er wegen seiner Frontstellung gegen die "Deutschen Christen" aus der Partei ausgeschlossen wurde, mit Erfolg dagegen prozessierte. Niemöller weihte als evangelischer Pfarrer noch im Mai und Juli 1933 NS-Fahnen. Sein Bruder Martin Niemöller, ebenfalls Pfarrer, entgegnete dem Reichsbischof Müller 1934, der Beweis dürfte ihm schwer fallen, "dass ich nicht die Gewähr dafür biete, dass ich jederzeit rückhaltlos für den nationalen Staat eintrete". 165 Auch die Bekennende Kirche unternimmt beispielsweise nichts dagegen, dass zum evangelischen Glauben konvertierte Juden von kirchlichen Ämtern ferngehalten, schließlich sogar ganz ausgeschlossen werden – von einem Eintreten für die verfolgten Juden insgesamt ganz zu schweigen. Das gab es in der Kirche nicht, im Gegenteil: Ein führender Pfarrer der Deutschen Christen wird von der Bekennenden Kirche 1934 wegen seiner angeblichen "Judenfreundlichkeit" öffentlich bei den Nazis denunziert, was zu seinem Parteiausschluss führt. 166 "Widerstand" leistete man in der BK nur gegen die Versuche des Staates, in das kirchliche Selbstbestimmungsrecht einzugreifen. "Die BK war eher ein stabilisierender Faktor für die Nazis als ein Hindernis" – zu diesem Ergebnis kommt der Historiker Karl-Ludwig Sommer in seiner Habilitationsschrift. 167

Zum Sprachrohr der Protestanten machten sich Leute wie der thüringische Landesbischof Sasse von den "Deutschen Christen", der im November 1938 – kurz nach der Reichspogromnacht – die Schrift Martin Luthers "Von den Juden und ihren Lügen" neu auflegt und im Vorwort schreibt: "Am 10. November 1938, an Luthers Geburtstag, brennen in Deutschland die Synagogen. ... In dieser Stunde muss die Stimme des Mannes gehört werden, der als der Deutschen Prophet ... der größte Antisemit seiner Zeit geworden ist, der Warner seines Volkes wider die Juden ..." 168

Ein Pfarrer wie Dietrich Bonhoeffer, der im Widerstand mitarbeitete – das war für die lutherische Kirche die absolute Ausnahme. Doch selbst Bonhoeffer unternimmt im Frühjahr bewusst nichts gegen die wachsende Kriegsstimmung in der Bekennenden Kirche und begründet das in einem Brief an den englischen Bischof Bell mit den Worten: "So würde ich meinen Brüdern einen ungeheuren Schaden zufügen, wenn ich in diesem Punkt Widerstand leistete." 169

Echten Widerstand muss man auch in der katholische Kirche mit der Lupe suchen. Nachdem der Vatikan durch Nuntius Pacelli, den späteren Pius XII., das Hitlerregime 1933 durch ein Konkordat international salonfähig gemacht hatte, schwenkten selbst anfangs misstrauische Bischöfe auf den Kurs des Vatikans ein, mit dem NS-Staat zu paktieren. "Widerstand" leisteten auch sie immer nur dann, wenn kirchliche Einrichtungen gefährdet waren (oder die Kruzifixe an Schulwänden), unterstützten aber ansonsten das Regime bis (fast) zum bitteren Ende, trieben in ihren Hirtenbriefen die deutschen Soldaten zur äußersten "Pflichterfüllung" an. Der "Löwe von Münster", Bischof Galen, bezog zwar gegen die Euthanasie Stellung, forderte aber von den Soldaten "Verteidigung bis zum letzten Blutstropfen" 170, ließ im Katholischen Kirchenblatt den deutschen Angriff auf England mit den Worten loben: "Gott hat es zugelassen, dass das Vergeltungsschwert gegen England in unsere Hände gelegt wurde. Wir sind die Vollzieher seines gerechten göttlichen Willens." 171 Auch der angeblich Widerstand leistende Münchner Kardinal Faulhaber war in Wirklichkeit ein unverbesserlicher Militarist, der schon als Feldpropst während des ersten Weltkriegs die Kanonen des Krieges als "Sprachrohre der rufenden Gnade" 172 bezeichnet hatte, der dann im Zweiten Weltkrieg noch 1941 sein Einverständnis zum Einschmelzen der Kirchenglocken mit den Worten erteilte: "Für das teure Vaterland aber wollen wir auch dieses Opfer bringen, wenn es notwendig geworden ist zu einem glücklichen Ausgang des Krieges." 173 Faulhaber hatte sich während des Krieges jedoch klugerweise einmal mit jemand vom Widerstand getroffen – das genügte, um sich nach dem Krieg flugs die Aura des großen Nazigegners anzudichten.

Neuer Start mit alten Privilegien

Die Kirche hatte es wieder einmal geschafft, in der Stunde Null das moralische Gewissen der geschlagenen Nation vorzutäuschen. Im Gegensatz zu den Kirchenoberen hatte im Volk tatsächlich bei vielen ein Umdenken stattgefunden. Nach dem vielen Leid sollte ein Neuanfang gemacht, dem Militarismus und der Obrigkeitshörigkeit abgeschworen werden. Im Grundgesetz wurden die Menschenrechte neu verankert: Meinungsfreiheit, Gewissensfreiheit, Glaubensfreiheit, Gleichbehandlung aller Bürger ... Doch die Trennung von Staat und Kirche, die in der Weimarer Verfassung bereits vorgesehen, aber nicht vollzogen worden war, wurde auch in der jungen Bundesrepublik nicht verwirklicht. Man ließ den Einfluss der Kirche auf den Staat unangetastet – und so konnten die alten Privilegien wieder Einzug halten: Erhebung der Kirchensteuer durch den Staat, staatliche Bezahlung der Gehälter von Bischöfen, Landesbischöfen, Domkapitularen, Oberkirchenräten, staatliche Finanzierung des kirchlichen Religionsunterrichts an staatlichen Schulen, der theologischen Fakultäten an den Universitäten, der Militärgeistlichen – und sogar jährliche Entschädigungsgelder in Millionenhöhe wegen der in der napoleonischen Zeit (1803) erfolgten Enteignungen kirchlicher Besitztümer. 174

Diese Privilegien sind bis heute geblieben, sie überstanden unbeschadet auch die turbulente 68er Zeit – auch wenn dabei die katholisch-lutherische Kartellgesellschaft Adenauerscher Prägung gehörig durchgeschüttelt wurde. Die dadurch hervorgerufene gesellschaftliche Lockerung bereitete den Kirchen jedoch in anderer Hinsicht erhebliche Probleme. Der soziale Druck hatte abgenommen; es war nun leichter als vorher, sich mit ungewöhnlichen Ideen zu beschäftigen. Gleichzeitig war jedoch der direkte Zugriff eines Teils der jungen Generation auf politische Entscheidungen missglückt. Für einen Teil der Enttäuschten begann der Marsch durch die Institutionen, der sie – unter weitgehender Zurücklassung ihres Reformeifers – innerhalb von drei Jahrzehnten bis in höchste Staatsämter führen sollte. Für einen anderen Teil der Jugend begann eher ein Marsch in eine neue "Innerlichkeit". Man entdeckte den Umweltschutz, alternative Lebensweisen, begann zu meditieren, reiste nach Indien ... Und es blieb nicht aus, dass dabei auch neue religiöse Strömungen ins Blickfeld traten: Transzendentale Meditation, Bhaghwan, Vereinigungskirche, Hare Krishna und andere.

Die Inquisitoren kommen wieder

Einer der ersten, die die Brisanz dieser neuen Situation für die Monopol-Ansprüche der beiden Großkirchen erkannten, war ein Pfarrer der lutherischen Landeskirche in Bayern: Friedrich-Wilhelm Haack (1935-1990). Er hörte das Gras der gesellschaftlichen Veränderung offensichtlich als erster Kirchenfunktionär wachsen. Bereits von 1964-67 ließ er sich, als Pfarramtskandidat in Hof tätig, nebenamtlich zum "Beauftragten für Sekten- und Weltanschauungsfragen" ernennen. Damals ging es in der Kirche zunächst noch um rein innerkirchlich bedeutsame Fragen, inwieweit z. B. die Taufen in Freikirchen von der Kirche anerkannt werden können oder nicht. Dies war z. B. bei einem Übertritt in die lutherische Kirche bedeutsam. Oder man überlegte, ob man Anhänger bestimmter Freikirchen als Taufpaten zulassen konnte. Doch Haack ging es schon bald um mehr: um die Beobachtung und Bekämpfung außerkirchlicher religiöser Gruppen, eben der "Sekten". Es kam ihm dabei vermutlich zugute, dass er durch keinerlei biographische oder geographische Vorprägungen in den konventionell-kirchlichen Rahmen seiner Landeskirche eingebunden war: Er hatte sein Abitur in der DDR gemacht, war mit 20 Jahren in den Westen gekommen und hatte sich am Tag vor einer Einschreibung für ein Chemiestudium in Heidelberg spontan für Theologie und Publizistik entschieden. Haack ließ nun 1967 in der Landeskirche eine "Sektenumfrage" durchführen – die erste seit 1930! Zur Begründung führte er an: "Wenn sich nun die Kirche auf die ´veränderte Lage` einstellen soll, wenn sie in dieser ´pluralistischen Gesellschaft` ihre Botschaft weitergeben und ihren Dienst erfüllen soll, muss das Gegenüber (besser: müssen die Gegenüber) bekannt sein." Die Umfrage war ähnlich detailliert ausgelegt wie die seinerzeitige von 1930. Alle religiösen Aktivitäten, die weder von der lutherischen noch von der katholischen Kirche eingeleitet worden waren, sollten gemeldet werden, "der Übersicht halber" auch Freikirchen. "Auch Einzelpersonen, die nicht aus der Kirche ausgetreten sind und das auch gar nicht vorhaben, jedoch einen besonderen Dienst in eigener Verantwortung (wie z. B. das Verteilen evangelistischer Traktate) durchführen, sollten erwähnt werden." Alle Veranstaltungen, Vorkommnisse, Hintergrundinformationen waren von Bedeutung. Und – daran erkennt man einen geborenen Inquisitor – auch zur Beschaffung der Informationen wurden wertvolle Tipps gegeben: "Zur Beschaffung der Informationen empfehlen sich besonders Oberschüler und Jugendkreise. Diese kommen oft etwas besser an die notwendigen Informationen heran als die Kirchenvorsteher, die ja oft durch ihren Beruf zeitlich bestens ausgefüllt sind." 175

So ein Mann fällt auf. Den muss man fördern. Der könnte für uns die nötige Drecksarbeit machen. So wie weiland Dominikus von sich aus gegen die Ketzer zu predigen begann und sodann vom Papst den großen Auftrag bekam, so griff die Kirchenleitung dem jungen Talent unter die Arme. Der Kirchenapparat kannte zwar das leidige Problem der "Sekten", aber ein Konzept hatte man nicht. Nun wird Haack 1969 in den Schuldienst nach München versetzt (Vater Staat macht`s möglich) und gleichzeitig zum nunmehr hauptamtlichen "Beauftragten für Sekten und Weltanschauungsfragen" ernannt.

Den Schuldienst lässt er wenig später fallen – und die Zurückhaltung bezüglich seiner Zuständigkeit auch. Denn mit rein innerkirchlichen Fragen – was tun wir, wenn in einer lutherischen Familie jemand einer "Sekte" beitritt – wollte sich Haack nicht zufrieden geben. Nicht umsonst hatte er Publizistik studiert – er wollte auf die Bühne der Öffentlichkeit und dort offensiv gegen die religiösen Abweichler kämpfen. In seiner Schrift Sekten schrieb er 1974: "Nicht aus Konkurrenzneid und nicht aus Hass, weder aus theologischer Rechthaberei noch aus Machtgründen, sondern allein wegen der geistlichen Gefahren muss die Kirche auch heute den Sekten entgegentreten ..."

Verräterisch sind die zwei Worte: "auch heute". Heißt das nicht: "wie früher"? Doch um keine unerwünschten Assoziationen zu wecken, fährt Haack fort: "... Sie wird es, wie zu den Tagen der Apostel, mit geistlichen und geistigen Waffen tun."

Eine beiläufige Geschichtsfälschung – denn die Auseinandersetzung zwischen Kirche und christlichen Häresien begann nicht zur Zeit der Apostel, sondern später. Entscheidend ist aber: Ein solches offensives "Entgegentreten" der Kirche gegen andere Glaubensgemeinschaften ist in den Statuten der Kirche bis dahin gar nicht vorgesehen. Deshalb bereitet Haack schon den nächsten Schritt vor. Um die Öffentlichkeit "heiß" zu machen, darf man nicht religiös argumentieren (was ihm als Spontan-Theologen ohnehin schwer gefallen wäre). Man muss soziologisch, gesellschaftlich argumentieren. Und man muss positive Begriffe in ihr Gegenteil verkehren – etwa den der Toleranz. In einem Vortrag führt er 1982 aus: "Nun ist Toleranz gegenüber Ideen dann ein Unding, wenn diese Ideen beispielsweise lebensgefährdend sind. Was würde man einer Religion gegenüber sagen, die Menschenopfer bringen will? Auf ihre Weise tun dies die Ersatzreligionen tausendfach ... Toleranz kann sich gar nicht gegen Ideen richten, sondern nur gegenüber Menschen, auch dann, wenn diese Träger zerstörerischer Ideen sind. Dann allerdings wird es auch Sache der Toleranz sein, das Leben der Gefährdeten zu bewahren und diese Menschen an der Ausübung ihrer zerstörerischen Ideen zu hindern." 176

Das muss man zweimal lesen, um die ganze inquisitorische Hinterlist und Perfidie darin zu erkennen. Erst werden mit dem Begriff "Menschenopfer" Emotionen geweckt. Dann werden diese auf die neuen Religionsgemeinschaften übertragen: Die "Ersatzreligionen" – ein von Haack erfundener Begriff – tun dies angeblich "tausendfach". Sie bringen also alle "Menschenopfer", sind alle "Träger zerstörerischer Ideen". Und deshalb müssen sie bekämpft werden, indem man diese "Ersatzreligionen" beseitigt, ihre Ausübung verhindert. "Toleranz" wird auf diese Weise zu einem Kampfbegriff gegen religiöse Minderheiten umgedeutet – Orwells "Doppelsprech" lässt grüßen.

Diese Argumentationslinie hat Modellcharakter – alle "Sektenbeauftragten", und es sollte bald viele davon geben, übernehmen sie. Fast 20 Jahre später wird Haacks Nachfolger Wolfgang Behnk in einem Vortrag in Landau (Niederbayern) die Abschaffung des Religionsprivilegs im deutschen Vereinsrecht begrüßen, denn, so fasst es die Passauer Neue Presse zusammen: "Letztlich könne nur der Staat, dem die Verfassung das Gewaltmonopol verliehen hat, gegen die Gewalttätigkeit mancher religiöser sektiererischer Systeme etwas unternehmen. ... Das Grundgesetz gehe dabei soweit, dass zum Beispiel die Zeugen Jehovas glauben dürfen, dass es besser sei, ihre Kinder verbluten zu lassen als sie mit einer Bluttransfusion zu retten. Sie dürfen es jedoch nicht an ihren Kindern real durchsetzen ... Die Grenze der Toleranz ist für den Redner genau dort, wo ihr mit Mitteln der Unterdrückung, der Manipulation, der Gewalt und des Terrors systematisch der Kampf angesagt wird. Die Notwendigkeit einer solchen Toleranzgrenze hätten die Terroranschläge religiös-ideologischer Fanatiker in New York und Washington dramatisch vor Augen geführt. ´Es kann von den Demokratien dieser Welt nicht kampflos hingenommen werden, dass religiös-ideologischer Fanatismus sektiererischer Prägung sich unter dem Deckmantel der Religion als blindwütiger Terrorismus austobt`." 177

Behnk, der nach Haacks Tod monatelang dessen Archiv durchforstete, erweist sich hier als gelehriger Schüler seines Verleumdungsmeisters. Man halte sich einmal vor Augen: Die schrecklichen Terroranschläge des 11. September 2001 werden hier auf eine Stufe mit den Glaubensüberzeugungen und -praktiken religiöser Minderheiten wie der Zeugen Jehovas gestellt – wobei jeder unvoreingenommen Forschende mühelos erkennen kann, dass die Zeugen Jehovas bezüglich der Bluttransfusion durchaus nach Alternativen, etwa Blutplasma oder Eigenblut, suchen und mit Kliniken intensiv zusammenarbeiten. Doch darum geht es der modernen kirchlichen Inquisition nicht: Auf dem Terror, der die Welt in Atem hält, kocht ein mit Verleumdung beauftragter Kirchenvertreter schamlos sein Verfolgungssüppchen. Er kann dabei darauf vertrauen, dass keiner seiner Zuhörer im Geschichtsunterricht etwas davon gehört hat, welch ein perfektes Terrorsystem die Kirche während der Inquisition und der Hexenverfolgungen gegen die eigenen Gläubigen aufbaute.

Zurück ins Mittelalter

Behnk steht in der direkten Nachfolge Haacks, der innerhalb seiner Kirche die fast in Vergessenheit geratene Disziplin der Apologetik (griech. Verteidigung [des Glaubens]) wieder aktiviert hatte. "Bei Gesprächen mit dem Gegenüber", so schrieb Haack 1970 in einem Tätigkeitsbericht an die Landeskirche, "geht es nicht nur darum, Informationen zu erhalten und gegenseitige falsche Vorstellungen abzubauen. Richtig verstandene Apologetik hat immer auch das Ziel, vorhandene Grenzen aufzuzeigen, und sie will letzten Endes Mission sein. ´Der Andere` ist uns auch als Andersgläubiger ans Herz gelegt. Es besteht heute keine besondere Vorliebe für den Ausdruck ´Irrgläubiger`. Verstehen wir unseren Glauben richtig, dann haben wir kein Recht, den ´Anderen` in ´seinem Glauben zu lassen`."

Die Opfer der kirchlichen Inquisition: Früher Mord – heute Rufmord

Anfangs scheint es tatsächlich Widerstände gegen seine Arbeit gegeben zu haben. "Hier zeigen sich Befürchtungen, dass die apologetische Arbeit wieder auf die Gleise der Inquisition zurückverfallen könnte, bzw. es zeigt sich ein Niederschlag des Vulgärglaubens ´Religion ist Privatsache`", beklagte er sich in demselben Bericht. Und auch hier reibt sich Haack an der Toleranz und er schreibt: "Häufig hindert ein falscher Toleranzbegriff Christen (auch Pfarrer), apologetischen Fragen nachzugehen." Wie er selbst über Toleranz dachte, kommt dann entlarvend in einem Interview zum Ausdruck, das er der "Bayerischen Landeszentrale für politische Bildungsarbeit" gab: "Ich glaube, dass wir da auf die Dauer diesem abendländisch-aufklärerischen Gebilde, das auch in ´Nathan der Weise` von Lessing zu finden ist, nicht folgen können." 178

Wie kommt es, dass ein studierter Mitteleuropäer des 20. Jahrhunderts die Errungenschaften der Aufklärung so einfach wegwischt? Ist er mit einer solchen Denkweise überhaupt im 20. Jahrhundert zu Hause? Oder führt nicht eine direkte Linie von dieser Art des Denkens zu Augustinus ("Liebet die irrenden Menschen; doch bekämpft mit tödlichem Hass den Irrtum!" 179), zu Innozenz III., zu Luther? War nicht auch Luther in seinem Fanatismus völlig desinteressiert an Erkenntnissen der Vernunft, wie seine Hasstiraden gegen Erasmus von Rotterdam beweisen 180 – so wie Haack oder Behnk kein Interesse daran haben, Forschungsergebnisse oder Klarstellungen zur Kenntnis zu nehmen, die von ihnen angegriffene Glaubensgemeinschaften entlasten könnten?

Man muss kein Anhänger des Reinkarnationsgedankens sein, um festzustellen, dass so mancher "Sektenbeauftragter" direkt aus dem Mittelalter oder der Reformationszeit entsprungen sein könnte. Immerhin schrieb Haack einmal in einem Brief an einen Vertreter einer von ihm verfolgten religiösen Minderheit ganz offen: "Wenn Sie bei mir auf Inquisition tippen, liegen Sie natürlich richtig." 181

Um seine Art der Inquisition besser durchführen zu können, erfand Haack in den siebziger Jahren den Begriff der "Jugendreligion" – obwohl Kennern der Szene bewusst war, dass allenfalls junge Erwachsene den Schritt in eine solche Gruppierung taten und dass dort von Anfang an Menschen aller Altersstufen vertreten waren. Diese "Jugendreligionen" bezeichnete Haack dann als "`religiöse Multis`, die gefährlicher seien als etwa die mörderische, aber örtlich begrenzte ´Manson-Familiy` [die für einen grauenhaften Massenmord in Kalifornien verantwortlich war, Anm. d. A.] und auch gefährlicher als alle extremen politischen Gruppierungen. Sie seien ´die einzige Form der Sklaverei, in der die Sklaven auch noch für ihre Arbeit, ihr Essen und für ihre Bewachung bezahlen müssen`." 182

Wer weiß schon heute noch, dass die Kirche selbst zu den größten Sklavenhaltern der Geschichte zählt und dass der Vatikan zu den letzten europäischen Staaten gehörte, die die Sklaverei offiziell ächteten? 183

Auch die Psychologie muss für die Diffamierung herhalten: "Jugendliche, die mehrere Jahre in einer solchen Gemeinschaft gelebt haben, seien ´psychische und physische Wracks. Die Gehirnwäsche in sowjetischen Gefängnissen ist nichts dagegen`. ... Bei Mitgliedern neuer religiöser Bewegungen handle es sich um ´Opfer der Seelenwäsche`, die sich ´als Zombies der Heiligen Meister missbrauchen lassen`". 184

Angebliche "Gehirnwäschen"

Die psychologische Forschung hat längst festgestellt, dass es für das Funktionieren einer sogenannten "Gehirnwäsche" keinerlei empirische Belege gibt. 185 Vielmehr stehen den Werbern für eine neue religiöse Bewegung lediglich dieselben Möglichkeiten offen wie jedem Wirtschaftsbetrieb: Sie müssen versuchen, ein vorhandenes Bedürfnis anzusprechen (oder ein neues zu wecken) und dann dessen Befriedigung in Aussicht zu stellen. 186 Es lässt sich auch nicht nachweisen, dass Mitglieder neuerer Glaubensbewegungen häufiger unter seelischen Störungen litten als Kirchenmitglieder 187, eher im Gegenteil: Was ein kirchliches Gottesbild des strafenden, willkürlichen, ja grausamen Gottes in den Seelen vieler Menschen anrichten kann, belegen Forschungen über die so genannten "ekklesiogenen" (kirchenbedingten) Neurosen. 188

Auch zu Haacks Zeiten waren keinerlei Belege für seine Behauptungen vorhanden – doch seit wann fragt ein Inquisitor schon nach Belegen, wenn er seine Rundumschläge durchführt, etwa: "Die Jugendreligionen stellen eine Bedrohung unserer Welt dar", oder: "Die wirkliche Gefahr der Jugendreligionen für den einzelnen und die Gesellschaft ist ihre Existenz." 189 Dass es ihm nicht um Objektivität ging, brachte Haack ganz offen zum Ausdruck: Am besten wäre es aus seiner Sicht, "wenn der Begriff Sekte in möglichst großer Unbefangenheit gebraucht werden könnte", auch wenn damit "eine Wertung, ja vom jeweiligen Standpunkt aus auch eine Abwertung verbunden" ist. 190 Es ging ihm um sensationelle Berichterstattung, zu der auch gezielte Übertreibungen gehören. So sprach auch Haacks Kollege aus Berlin, Pastor Gandow, im Jahre 1984 von "7 bis 12 Millionen Menschen im Land", die "möglicherweise von den Gruppen beeinflusst" werden könnten. 191 Eckart Flöther von der AGPF ("Aktion für geistige und psychische Freiheit") sprach im selben Jahr von "300 Gruppen und Grüppchen" 192 – eine Zahl, die sich in den neunziger Jahren plötzlich verdoppelte, weil sich alle möglichen "Sektenbeauftragten" von Kirchen, Behörden und Parteien gegenseitig mit dem überbieten, was Sozialwissenschaftler als "Populärstatistik" (folk statistics) bezeichnen, als wissenschaftlich nicht belegte Zahlen, die aber in den Medien ständig wiederholt werden "und politische Maßnahmen nach sich ziehen können". Sie werden benutzt, um "moral panics", übertriebene Ängste, auszulösen, "gesellschaftlich konstruierte soziale Probleme, die in der Darstellung der Medien und in der Behandlung durch die Politik Reaktionen auslösen, die in keinem Verhältnis zu einer tatsächlichen Gefahr stehen". 193

Natürlich blieb es unabhängig und nüchtern denkenden Zeitgenossen nicht verborgen, mit welchen Methoden hier gearbeitet wurde. "Der liebe Gott im Gruselkabinett ... Haack scheint unter starkem Zeitdruck geschrieben zu haben", so der österreichische Theologe Adolf Holl über ein Buch von Haack. "Es darf gefragt werden, wie leicht (oder schwer) sich ein mehrbändiger Schocker über religiöse Skurrilitäten wohl ´herstellen` ließe, wenn schon dieser eine Band eine fundamentale Armut an Sachlichkeit, wissenschaftlicher Einfühlung, interpretierender Diagnostik verrät." 194

Der Religionswissenschaftler Prof. Röhr aus Frankfurt kam zu dem Schluss: "Wir mussten feststellen, dass das meiste, was von den ´Sektenpäpsten`, allen voran Haack ... gesagt und geschrieben worden ist, gelinde gesagt, mit Vorsicht zu genießen ist." 195 Doch wer hört schon solche Stimmen? Viele Journalisten ziehen sensationelle "Stories", plakative Aussagen und Übertreibungen einer nüchternen Analyse allemal vor.

Kirchliche Lobbyarbeit

Um den neuen Konkurrenten der Volkskirche, der das Volk immer mehr davonläuft, richtig das Wasser abgraben zu können, reichte aber die penetrante Desinformation und Verleumdungsarbeit über die Medien nicht aus. Wie schon die Inquisition im Mittelalter, so spannte auch die Kirche des 20. Jahrhunderts den Staat für ihre Zwecke ein, um zum Ziel zu kommen. Auch hier war Haack der Vorreiter. Er gründete 1975 in München eine "Elterninitiative gegen psychische Abhängigkeit und religiösen Extremismus e.V." Außer dem Vorsitzenden der Initiative und seiner Frau gehörten dem Kreis keine betroffenen Eltern an, sondern hauptsächlich Pfarrer. 1977 gab Haack auch dieses Feigenblatt auf und übernahm die Leitung der Initiative selbst; Stellvertreter wurde der katholische Theologe Löffelmann. Die Initiative fand bald Nachahmer im ganzen Bundesgebiet – immer spielten Pfarrer die Hauptrolle, leiteten oder steuerten die meist nur aus einer Handvoll Personen bestehenden "Bürgerinitiativen". Das Ziel war klar: Um Politiker zu beeindrucken, musste man eine scheinbar von der Kirche unabhängige "Interessenvertretung" aufbauen, die dann öffentlichen Druck auf Medien und Politik ausüben sollte.

So forderte der Vorstand der Münchner Initiative per Rundschreiben die Mitglieder dazu auf, fleißig Lobbyarbeit zu betreiben durch
– Gespräche mit Abgeordneten ...
– Briefe an Bischöfe, Kirchenleitungen
– Briefe an Ministerien ... Beschwerden über Belästigungen in Fußgängerzonen
– Leserbriefe an Zeitungen bei jedem sich bietenden Anlass" 196

Die Elterninitiative diente Haack nicht nur als Instrument einer scheinbar kirchenunabhängigen Öffentlichkeitsarbeit, sondern auch als Informationsbeschaffungs-Agentur. Ende 1984 verlangte Haack von "seinen" Eltern gezielte Berichte über die Vereinigungskirche: "Liebe Mitglieder, wir brauchen Ihre Hilfe ... Eine Stadt [es handelte sich um Regensburg, Anm.d.A.] will den südländischen Munies [man beachte den geschickten Appell an fremdenfeindliche Ressentiments, Anm. des Autors] die Aufenthaltserlaubnis entziehen. Dazu sind neuere Berichte über Erlebnisse mit der Mun-Sekte vonnöten. Bitte schreiben Sie kurz und eindringlich, was Sie ... erlebt haben: Ausbildungsabbruch, psychische Störungen bis hin zu Selbstmordversuchen und Selbstmord, Geldforderungen, Erbschaftsforderungen, gesundheitliche Schäden usw. Die Namen der Berichte werden nicht weitergegeben." 197 Ein Vorstandsmitglied werde dann an Eides Statt versichern, solche Berichte erhalten zu haben. Doch welchen Wert können "Berichte" haben, deren Schwerpunkt bereits vorgegeben wird und deren Verfasser anonym bleiben können? Es ist das Prinzip der anonymen Denunziation, das wie im Mittelalter ganz selbstverständlich wieder angewendet und flexibel an die heutigen rechtlichen Gegebenheiten "angepasst" wird.

Verschiedene "Elterninitiativen", Anti-Sekten-Einrichtungen und sonstige "Experten" gründeten dann 1977 einen Dachverband, die "Aktion für geistige und psychische Freiheit" (AGPF). Mit von der Partie waren neben Haack die Evangelische Zentralstelle für Weltanschauungsfragen (Dr. Reimer) aus Stuttgart, Pfarrer Rüdiger Hauth aus Witten, die Katholische Sozialethische Arbeitstelle in Hamm, Pfarrer Eimuth aus Frankfurt, Pfarrer Keden aus Bonn. 198 Als Sprecher traten ein Ministerialrat im Bundesfinanzministerium, Dr. Karbe, und der CSU-Bundestagsabgeordnete Friedrich Vogel auf. Karbe war so etwas wie ein Glücksgriff für Haack, denn seine 22jährige Tochter schloss sich 1976 der Vereinigungskirche an – und wurde mit Gewalt daraus wieder "befreit": "Nach einem Besuch bei ihrer Familie wurde sie gewaltsam eingesperrt und wochenlang gezwungen, sich Kritik an ihrer Mitgliedschaft in der Vereinigungskirche anzuhören. ... ´Sie machte zwei Fluchtversuche, die dramatisch verliefen.`" 199 Schließlich verließ die Tochter notgedrungen die "Moonies", blieb aber aufgrund der schweren Auseinandersetzungen psychisch nur begrenzt belastbar. Dr. Karbe gab, wie in solchen Fällen üblich, natürlich der "Sekte" die Schuld. Entscheidend war nun, dass er sich in der Bonner Ministerialbürokratie bestens auskannte und über "Insider-Informationen über das Funktionieren des Bonner Apparates" 200 verfügte. Karbe wusste, wie man Kongresse veranstalten, wen man dazu einladen, wie man anschließend Zuschüsse für bestimmte Projekte oder "Forschungsaufträge" beantragen konnte. Es gelang der Clique um Haack und Karbe, nicht nur die Arbeit der AGPF weitgehend aus Steuermitteln zu finanzieren, sondern auch die Verleumdungsarbeit ähnlicher Einrichtungen: in Berlin, wo der Senat die "Elterninitiative" des Pastor Gandow mitfinanzierte – oder in Essen, wo die Stadt Essen das "Sekten-Info" der Frau Cammans unterstützt. Cammans widmet sich auf Kosten des Steuerzahlers schon bald der Lieblingsbeschäftigung jedes "Sektenjägers": dem Denunzieren. Als 1982 ein Anhänger Bhagwans an der Volkshochschule Essen Psychologiekurse gibt, ruft sie dort an und der Mann wird entlassen. 201 Sie arbeitet auch mit der Kriminalpolizei zusammen und erreicht es, dass Behörden und Stadtparlament auf straff kirchlichen Anti-"Sekten"-Kurs gehen. "Wir werden jedweder Jugendsekte solche Schwierigkeiten machen, wie es überhaupt möglich ist", sagt der SPD-Ratsherr Andreas Andor im Jugendwohlfahrtsausschuss. 202

Aber auch auf höherer Ebene gelang es den "Sektenjägern", an Behörden und Politiker heranzukommen. Der Abgeordnete Vogel (später im Kanzleramt tätig) reichte 1977 eine erste Anfrage über die Gefährlichkeit von "Jugendreligionen" im Bundestag ein. Von Anfang an war auch ein Vertreter des Bundesministeriums für Jugend, Familie und Gesundheit, Oberregierungsrat Heimann, bei den Sitzungen der AGPF dabei. 203 Dieses Ministerium erhielt 1978 die Zuständigkeit für die "Neuen Jugendreligionen". Dabei wäre für Kirchen und Religionsgemeinschaften eigentlich das Bundesinnenministerium zuständig gewesen. Doch dieses konnte "trotz sorgfältiger Untersuchungen ein angeblich rechtswidriges Verhalten neuer religiöser Bewegungen nicht belegen". 204 Auch das Bundeskriminalamt, das bei einer interministeriellen Arbeitsgruppe mitgearbeitet hatte, konnte hierzu nichts Einschlägiges beitragen. Doch das brachte die Lobbyisten der Religionsverfolgung keineswegs in Verlegenheit. "Nachdem", so Oberregierungsrat Heimann, "sich schon bald die Erkenntnis durchsetzte, dass der Sektenproblematik vor allem durch präventive Maßnahmen (Aufklärung, Jugend- und Bildungsarbeit, Forschung etc.) begegnet werden muss, konzentrierten sich die Erwartungen der Kirchen, Verbände und Elterninitiativen in erster Linie auf den BMJFG", also das Bundesfamilienministerium. 205 Im Klartext: Wenn es das Problem vom Standpunkt der nüchternen Zahlen her nicht gibt, muss es eben durch entsprechende Wühl- und Verleumdungsarbeit herbeigeredet werden. Das Bundesinnenministerium war nur zu gern bereit, die heiße Kartoffel abzugeben – statt sich auf die Hinterfüße zu stellen und eine derartige Zweckentfremdung des Behördenapparates einer Demokratie für einen Feldzug der Großkirchen gegen die religiöse Konkurrenz zu verhindern.

Die Protestanten als inquisitorische Vorreiter

Inzwischen hatten die Kirchen den neuen Trend, der von einer kleinen, radikalen Minderheit von Religionsverfolgern vorgegeben wurde, aufgegriffen. Alle lutherischen Landeskirchen benannten so genannte "Sektenbeauftragte", die man besser "Verleumdungsbeauftragte" oder "Rufmordbeauftragte" nennen sollte. Die katholischen Diözesen folgten etwas später, zu Beginn der achtziger Jahre. Weshalb der zeitliche Unterschied? Zum einen ist es wohl das "Vorbild" Martin Luthers als fanatischem Kämpfer gegen Andersdenkende, das vielen lutherischen Pfarrern förmlich in den Genen zu sitzen scheint. "Mit Ketzern braucht man kein langes Federlesen zu machen", sagte Luther einmal bei Tisch, "man kann sie ungehört verdammen. Und während sie auf dem Scheiterhaufen zugrunde gehen, sollte der Gläubige das Übel an der Wurzel ausrotten." 206 Zum anderen könnte es mit einer größeren Gelassenheit der älteren katholischen Kirche zu tun haben, die es in der Regel zunächst mit Totschweigen der neuen Konkurrenz versucht und dann lieber die "Evangelischen" sich die Finger dreckig machen lässt – ihre eigenen Krallen kann die alte Katze ja immer noch ausfahren. Der Kirchenkritiker und Theologie-Professor Hubertus Mynarek steuert noch einen weiteren Punkt bei: Viele evangelische Pfarrer leiden offenbar unter einem Minderwertigkeitskomplex der katholischen Kirche gegenüber. "Es wurmt sie, dass die katholische Kirche, zu der nicht wenige von ihnen bewundernd aufschauen, sie nicht ernst nimmt, ihren liturgischen und amtlichen Status nicht anerkennt, dass diese Kirche trotz der ebenfalls vorhandenen Schwierigkeiten und Kontroversen in den eigenen Reihen doch eine ganz andere Einheit und Autorität in der Weltöffentlichkeit repräsentiert als die tausendfach gespaltene und zerrissene protestantische Christenheit. ... Man möchte so gern Kirche sein, weiß aber, dass man im Grunde nur eine abgeleitete Sekte, sozusagen die Abspaltung von einer Abspaltung ist und dass man von der übermächtigen katholischen Institution im Grunde nicht als Kirche anerkannt wird ... Das alles nagt mächtig und giftig am Selbstwertgefühl evangelischer Geistlicher. Um so wütender diffamieren die Sektenbeauftragten unter ihnen die nichtkirchlichen Gruppierungen und Bewegungen als Sekten, weil sie selber einer Sekte angehören, dies aber um jeden Preis zu verdrängen versuchen. Kirche kann man nicht sein, Sekte will man nicht sein – diese unnatürliche Spannung hält keine Psyche lange aus." 207

Der Staat bekämpft seine eigenen Bürger

Doch die über 50 katholischen und evangelischen Verleumdungsbeauftragten ihrer jeweiligen Landeskirche oder Diözese können noch so eifrig Presseartikel und Fernsehinterviews lancieren, können jede Gelegenheit nutzen, andere Glaubensgemeinschaften zu diffamieren – sie bleiben doch die Stimme ihrer Kirchen. Um wirklich etwas zu erreichen, muss man – wie im Mittelalter – den Staat vor seinen Karren spannen. Und tatsächlich: Schon zu Beginn der achtziger Jahre äußern sich staatliche Stellen über das Kuckucksei "Jugendreligionen", das man ihnen als "Problem" ins Nest gelegt hat.

Anfangs zieren sich manche Behörden noch. So schnell kann man gewisse rechtsstaatliche Prinzipien, die man nach dem Krieg erst mühsam gelernt hat, auch nicht gleich wieder aus seinem Kopf verbannen. So verzichtete die Bayerische Staatsregierung aus "verfassungsrechtlichen Überlegungen" im November 1980 noch darauf, in einem Bericht einzelne Glaubensgemeinschaften namentlich zu erwähnen. Eine Schimpfkanonade von Pfarrer Haack und ständige Angriffe der CSU-Jugendorganisation Junge Union führten dann zu einem öffentlichen Druck – und 1984 werden in einem zweiten bayerischen Bericht bestimmte Gruppen erwähnt. 1985 gar verkündet der bayerische Staat stolz, dass in den Lehrplänen der Schule das Thema der neuen religiösen Bewegungen abgehandelt wird. Lernziel ist die "Fähigkeit, echte Religiosität von religiösen Fehlformen zu unterscheiden". 208 Die Frage, wer nun bestimmt, was eine "Fehlform" ist (man könnte auch "Irrlehre" sagen) und was nicht, braucht man gar nicht erst zu stellen. Maßgeblichen Anteil an dieser Entwicklung hat – unter Anleitung von Haack – der JU-Vorsitzende und Bundestagsabgeordnete Alfred Sauter, einer derjenigen, die frühzeitig die angebliche "Sektenproblematik" als Möglichkeit zur politischen Profilierung entdecken. Sauter wird in der Tat später noch eine weitere Karrieresprosse erklimmen und sich beispielsweise im Mai 1993 als Staatssekretär im bayerischen Innenministerium gegenüber dem "Spiegel" 209 dahingehend äußern, dass man gegen das Universelle Leben "zur Gefahrenabwehr Schutzmaßnahmen treffen" müsse. Die Urchristen im Universellen Leben verlangen daraufhin von der Staatregierung eine Klarstellung, ob der Verfassungsschutz gegen sie ermittle. Das Ministerium verneint das, weigert sich aber, die Sache offiziell richtig zu stellen. Als eine solche Richtigstellung vor Gericht eingeklagt wird, lässt Sauter erklären, er habe die betreffende Äußerung nicht als Staatssekretär, sondern als Vorsitzender des Arbeitskreises Juristen der CSU gemacht. Das Gericht geht darauf ein, und die Sache verläuft im Sande.

Auch Markus Sackmann gerät als Arbeitskreisleiter "Jugend und Sport" der Jungen Union Bayern mit in den Einflussbereich Pfarrer Haacks, bei dem er sich für dessen Hilfe bei der Erstellung einer "Dokumentation" über "die neuen Jugendreligionen" sehr herzlich bedankt. Sackmann wird uns später als Landtagsabgeordneter und eifriger "Ketzer"-Bekämpfer wieder begegnen (S. 357.361).

Haack und seinen Kollegen gelingt es also, junge, ehrgeizige Politiker auf ihre Linie zu bringen – und das kann sich noch nach Jahren für sie auszahlen, auch wenn z. B. Sauter wiederum einige Jahre später als "Bauernopfer" für die Versäumnisse seines Ministerpräsidenten Edmund Stoiber wegen der Verluste des Freistaats bei Grundstücksgeschäften in den neuen Bundesländern zum Rücktritt gezwungen wird. Andere stehen schon bereit, den Staat auf Kurs gegen religiöse Minderheiten – also gegen die eigenen Bürger – zu bringen. "Der Staat dürfte nicht zuletzt deshalb dem kirchlichen Ansinnen so willfährig entgegenkommen", so der Religionssoziologe Prof. Neumann, "weil er glaubt, er müsse seine Autorität ´transzendent` begründen, da sie sonst nicht (mehr) durchsetzbar sei. Eine wahrhaft voraufgeklärte Sicht, die jedoch bezeichnend für die politische Kurzsichtigkeit und verzagte Uneinsichtigkeit der heutigen politischen Klasse zu sein scheint." 210

Geballte Staatsmacht gegen religiöse Minderheiten

Bereits in den achtziger Jahren bringen fast alle deutschen Bundesländer sogenannte "Sektenberichte" heraus, meist mit konkreter Nennung von "gefährlichen" Gruppen. Auch wenn dann im Text über eine einzelne Gruppe inhaltlich kaum etwas Konkretes vermerkt wird, so genügt bereits die offizielle Nennung von staatlicher Seite, um eine Gruppierung zu brandmarken: "Die stehen ja auch im Sektenbericht!" In Berlin geht man noch einen Schritt weiter: Damit nicht jemand – aus Versehen – doch einer solchen Gruppe einen Saal vermietet, beschließt das Berliner Abgeordnetenhaus im Sommer 1999, dass "konfliktträchtige religiöse beziehungsweise weltanschauliche Organisationen oder Psychomarktanbieter" in der Hauptstadt keine öffentlichen Räumlichkeiten mehr anmieten dürfen. Und wer als "konfliktträchtig" gilt, das bestimmt Vater Staat aufgrund kirchlicher Einflüsterungen. Auslöser war ein Kongress der Zeugen Jehovas, der 1998 im Olympiastadion stattfinden sollte. Als man feststellte, dass die rechtlichen Voraussetzungen für eine Verweigerung nicht ausreichten, da es ja den Grundsatz der weltanschaulichen Neutralität gibt, zog man eine einfache Konsequenz: "Wenn die rechtlichen Voraussetzungen nicht ausreichen, einer Religionsgemeinschaft Räumlichkeiten zu verweigern, müssen sie eben geschaffen werden", so der Kirchenhistoriker Gerhard Besier in der "Welt" (8.8.1999). Besier weist darauf hin, dass die Zeugen Jehovas seit den zwanziger Jahren ihre Kongresse in öffentlichen Einrichtungen Berlins abhielten. "Nur während der NS-Diktatur war ihnen dies verboten."

Lässt man den Begriff "konfliktträchtig" einmal auf sich wirken, so wird man sich der ganzen Heimtücke bewusst, die sich dahinter verbirgt. Dem unbefangenen Zeitungsleser wird ja von offizieller Seite der Eindruck vermittelt, es handle sich um Gruppierungen, die ständig gegen Recht und Gesetz verstoßen und dadurch "Konflikte" hervorrufen. Dabei wollen die allermeisten nur in Frieden nach ihrem Glauben leben, sonst nichts. In Wirklichkeit ist es die kirchliche und in ihrem Gefolge die staatliche Seite, die gegen die Regeln der Verfassung verstößt und dadurch den Konflikt erst hervorruft. Die Richterin Dorothee Osterhagen stellt dazu fest, "dass sich die Konfliktträchtigkeit der alternativen Gruppen schlicht darin erschöpft, dass sie einem kirchlich definierten Christentum und einem marxistisch inspirierten Gesellschafts- und Menschenbild widersprechen." 211 Sie meint mit letzterem ein Menschenbild, in dem Religion generell als etwas Rückschrittliches, als "Opium für das Volk" angesehen wird.

"Konfliktträchtigkeit" könnte auch heißen: Je mehr Gläubige die Volkskirchen verlassen und nach einer religiösen Alternative suchen, desto mehr Menschen wird bewusst, dass zwischen dem christlichen Anspruch der Großkirchen und ihrer unchristlichen Realität eine Diskrepanz, ein Konflikt, besteht.

Bleiben wir noch einen Moment in der neuen deutschen Hauptstadt, die eigentlich bezüglich der Rechtsstaatlichkeit ein Vorbild für andere Städte sein sollte. Dort hat jedoch Pastor Gandow die staatlichen Stellen offenbar voll im Griff. Als 1997 ein "Sektenbericht" mit dem Titel "Sekten – Risiken und Nebenwirkungen" erschien, teilte die zuständige Senatorin Ingrid Stahmer (SPD) dies der Presse erst dann mit, als bereits 5000 Stück an pädagogische Beratungsstellen, soziale Hilfsdienste und Schulen verschickt worden waren. Und dieser Umstand wurde auf der Pressekonferenz keineswegs verheimlicht, sondern die "Sektenfachfrau" Anne Rühle erklärte, man habe sich damit "vorsorglich gegen juristische Blockaden" gewappnet. 212 Juristische Einsprüche von betroffenen Gruppen, die mit Recht befürchten müssen, einmal mehr öffentlich diskriminiert zu werden, betrachtet man also als "Blockaden", die man durch flinkes Handeln zu verhindern sucht. Dass man sie vorher, wie in einer Demokratie üblich, anhören könnte oder müsste, bevor man über sie etwas Herabsetzendes sagt, kommt offensichtlich weder in Berlin noch anderswo einer staatlichen Stelle in den Sinn. (Aber so schrieb es eine mittelalterliche Regel der Inquisition auch vor: Mit einem Ketzer darf man gar nicht reden!) Dabei hatte Berlin gar nichts zu befürchten. Drei Jahre zuvor, beim vorhergehenden "Sektenbericht", hatte es zwar Einsprüche gegeben, darunter einen des Universellen Lebens, das es nicht hinnehmen wollte, dass in diesem Bericht von 1994 einfach eine Reihe von Verdächtigungen über diese Glaubensgemeinschaft referiert wurden – wobei in der Einleitung alle aufgeführten Gruppen mit geschickter Suggestion als "Ungeheuer", als "antidemokratisch und sozial unverträglich" hingestellt wurden. Doch das Berliner Oberverwaltungsgericht lehnte einen Eilantrag, mit welchem der Stadt Berlin die Nennung des Universellen Lebens untersagt werden sollte, ab und lieferte eine Begründung mit, die blanker Hohn ist: Die Glaubensgemeinschaft werde ja durch einen solchen Bericht nicht daran gehindert, "ihre Tätigkeit, so wie sie es nach ihrem Glauben für richtig" hält, "fortzusetzen".

Staats-Kirchen-Filz auf Schritt und Tritt

Wir werden im dritten Kapitel im einzelnen sehen, wie "einfach" das für eine Gruppe von "Unberührbaren" ist. Der Fall Berlin zeigt nicht nur, dass auch die Justiz, zumindest zum Teil, die alte Liaison von Kirche und Staat bereitwillig deckt – was allerdings weniger verwundert, wenn man weiß, dass Verleumdungsbeauftragte der Kirchen auf Richterakademie-Tagungen stundenlang über die "gefährlichen Sekten" referieren dürfen und danach mit den Richtern fröhliche Abende verbringen. In Berlin, in der Stadt der Filz-Skandale, kann man auch die personelle Verfilzung von Staat und Kirche beobachten: Der Senator für Familie und Jugend, der 1994 den Berliner "Sektenbericht" herausgab, war Thomas Krüger (SPD) – ein lutherischer Pfarrer. Krüger ließ sich anschließend für vier Jahre in den Bundestag wählen, wurde während dieser Zeit auch Präsident des Deutschen Kinderhilfswerks, ebenfalls mit Sitz in Berlin. Doch auch in dieser Eigenschaft vergaß der gelernte Pfarrer sein Lieblingsthema "Sekten" nicht. So forderte er im Herbst 1996 gemeinsam mit dem Frankfurter Rufmordbeauftragten Kurt-Helmuth Eimuth vom Staat "gezielte Aufklärungsmaßnahmen über die Beeinflussung von Kindern und Jugendlichen in Sekten". Es sollten "umfassende Aufklärungsmaterialien für Kindergärten und Schulen" bereitgestellt werden und man solle in den Schulen "Sektenkontaktlehrer" ernennen. Außerdem sei zu überlegen, "inwieweit Eltern, die Mitglieder einer Sekte sind, nicht in konkreten Fällen das Sorgerecht für ihre Kinder begrenzt werden müsse". 213

Wer weiß als Zeitungsleser schon, dass der Herr Präsident, der sich hier für wehrlose Kinder einsetzt, ein Pfarrer ist, der gegen die religiöse Konkurrenz seiner Kirche kämpft? Wer kann solche Biographien über die Jahre hinweg verfolgen? Vor allem aber ist erstaunlich, mit welcher Selbstverständlichkeit ein Mann, der noch in der DDR in der "Kirche von unten" mitgearbeitet hat, jetzt vom Staat Maßnahmen fordert, die auf eine religiöse Gleichschaltung der Schulen und auf eine Bespitzelung der Eltern hinauslaufen würden. Denn was unterscheidet einen "Sektenkontaktlehrer" noch von einem schulischen "Blockwart"?

Doch Krügers Karriere geht weiter. Im Jahr 2000 wird er zum Leiter der Bundeszentrale für politische Bildung ernannt – und will dort vor allem den Rechtsradikalismus bekämpfen. 214 Wie er Rechtsradikale von den Vorzügen der Demokratie und der Toleranz überzeugen will, während er selbst mit Vorliebe religiöse Minderheiten verfolgt, bleibt sein Geheimnis – und das derjenigen, die ihn in dieses Amt gehoben haben.

Sektenjagd als karriereförderndes Element oder als Thema für Politiker, die sonst keines finden, bei dem sie sich profilieren können – da gibt es in Berlin noch Krügers Parteifreundin Renate Rennebach, ebenfalls Bundestagsabgeordnete und "Sektenbeauftragte" der Bundestagsfraktion der SPD. Rennebach ist zwar als gelernte Friseuse weder Theologin noch Pfarrerin, doch sie betätigt sich in der evangelischen Kirche in Berlin-Zehlendorf als gewählte Laienvertreterin.

Berlin wurde etwas ausführlicher dargestellt – aber es ist kein Einzelfall. Politiker, die sich längerfristig oder auch nur gelegentlich mit dem "Sekten"-Thema zu profilieren versuchen, gibt es in allen Bundesländern – und in allen Parteien. Etwa der spätere Forschungsminister und noch spätere Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, Jürgen Rüttgers, der 1994 als Geschäftsführer der CDU-Bundestagsfraktion ein "schärferes Vorgehen gegen Sekten verlangt" und "die Beobachtung einzelner Sekten durch den Verfassungsschutz". 215 Oder der spätere Generalsekretär der SPD und noch spätere Bundesarbeitsminister, Franz Müntefering, der ebenfalls 1994 als Sozialminister von Nordrhein-Westfalen "alle politisch Verantwortlichen" aufruft, "dem wachsenden Sektenunwesen ´den Nährboden zu entziehen`", das "inzwischen zu einem ´gesellschaftlichen Problem` geworden" sei. 216 In Rheinland-Pfalz fordert 1993 Sozialminister Ulrich Galle die Bevölkerung auf, das Ministerium "über alles zu informieren, was Sie in Rheinland-Pfalz an Aktivitäten, Veranstaltungen, Zeitungsannoncen, Informationsständen, Behandlungsangeboten, Wirtschaftsunternehmen und anderes beobachten und das im Zusammenhang mit neureligiösen Gruppen steht." Eine Antwortkarte liegt dem schriftlichen Aufruf gleich bei. In Schleswig-Holstein ändert man gar das Landesdatenschutzgesetz, um "Sekten" von staatlicher Seite besser überprüfen zu können.

Die Hysterie greift um sich

Einige Bundesländer haben sogar eigene staatliche "Sektenbeauftragte" ernannt, bei Parteien gibt es sie auch schon, und selbst bei einigen Polizeidienststellen, so in Leipzig, Sindelfingen, München. Die Schüler der Landespolizeischule Wertheim wurden nach eigenem Bekunden "über die Sekte" – gemeint ist in diesem Fall das Universelle Leben – "schon eingehend informiert", ehe sie sich Anfang 2000 ins Gästebuch der evangelischen Pfarrei Michelrieth eintrugen, deren "zusätzliche Informationen" – gemeint ist eine Sammlung von Gerüchten und Verleumdungen – den Polizeischülern "gerade recht" kamen. In zahlreichen Kommunen haben Religionsgemeinschaften, die Säle anmieten oder Informationstische beantragen wollen, äußerst schlechte Karten – man nimmt lieber Gerichtsprozesse in Kauf, als ihnen ihr verfassungsmäßiges Recht freiwillig zu geben. Dass dies weiter um sich greift, dafür sorgen eifrige Politiker auf Landesebene wie der hessische Sozialminister Clauss, der 1978 das Landesjugendamt anwies, von der evangelischen Kirche herausgegebenes "Informationsmaterial" über "Sekten" an sämtliche Jugendämter des Landes zu verteilen. 217 Auch in den neuen Bundesländern, in denen Kirchenmitglieder eine verschwindende Minderheit sind, wird zur Jagd auf "gefährliche Sekten" geblasen. Wenn dann mal einer aus der Reihe tanzt wie der Mitarbeiter der thüringischen Landesarbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendschutz, der im August 1999 erklärte, er sei "für Religionsfreiheit" und mache "keinen Unterschied zwischen Kirchen und Sekten" – dann wird er in der Presse als "ahnungslos" bezeichnet, und Institutsleiterin Christa Herwig von der Lehrerfortbildungsanstalt in Bad Berka reagiert "mit Unverständnis ob solcher Naivität" und weist darauf hin, dass man in den vergangenen zwei Jahren "auf Beschluss der Landesregierung ... insgesamt 30 Pädagogen zu Ansprechpartnern in Sektenfragen für Kollegen, Schüler und Eltern qualifiziert" hat. 218 Alle, die sich mit diesem Thema beschäftigen, sei es als Politiker, als Behördenvertreter, als Wissenschaftler an einem aus Steuergeldern bezahlten "Forschungsprojekt" oder als ausgebildeter "Sekten-Lehrer", haben natürlich ein Interesse daran, dass die "Gefahr", auf die sie sich "spezialisiert" haben, in der Öffentlichkeit möglichst intensiv "wahrgenommen" wird. Deshalb werden sie Tatsachen, die religiöse Minderheiten entlasten, bestreiten und nicht zur Kenntnis nehmen. Das gilt bis in die höchste Ebene: Auch auf Bundesebene warnten sowohl die damalige Familienministerin Angela Merkel – später CDU-Vorsitzende und ab 2005 Bundeskanzlerin – als auch ihre Nachfolgerin Claudia Nolte vor den "Sekten", die, so Nolte 1995, "in bedrohlichem Maß angewachsen" sind. Ihre Verbreitung habe inzwischen fast die Form einer "Unterwanderung" angenommen. 219 Frau Nolte fand es seinerzeit "höchst ärgerlich", dass eine bereits 1992 geplante "Sekten-Broschüre" noch immer nicht herausgegeben werden konnte, weil sie durch juristische Einsprüche blockiert sei. Keine der sich zur Wehr setzenden Gruppen war aber vor Erstellung des Reports angehört worden.

Man muss sich einmal klar machen, was es bedeutet, wenn über drei Jahrzehnte hinweg, also fast eine Generation lang, die Diffamierung religiöser Minderheiten immer wieder in die Köpfe hineingebracht wird: im Religionsunterricht, im Sozialkundeunterricht, in der Lehrer- und Erzieherausbildung, auf Richterakademien, auf Jugendämtern, in den Medien, von den Kanzeln, auf Parteitagen. Hier werden Vorurteile institutionalisiert, sie werden in das Unterbewusstsein eingraviert. Wie lange wird es dauern, diese Vorurteile wieder aufzulösen, wenn der äußere Einfluss der Kirchen einmal geschwunden sein wird?

Doch davon kann ohnehin noch keine Rede sein. Im 21. Jahrhundert, 30 Jahre nachdem Haack den Begriff "Jugendsekten" in die Welt gesetzt hat, dessen Unwissenschaftlichkeit längst bewiesen ist, werden mit diesem Kampfbegriff noch immer die Gehirne von Schülern bearbeitet. Das Darmstädter Echo meldet am 23. November 2001: "Ein äußerst sensibles Thema griffen drei Schüler des Michelstädter Gymnasiums auf, sie beleuchteten die Jugendsekten: Seit rund 25 Jahren häufen sich schockierende Nachrichten über die Tätigkeiten der so genannten Jugendsekten. Einige Gruppen genießen dabei zum Teil unter dem irreführenden Titel einer Kirche das Privileg der Gemeinnützigkeit. ... Viele Sektenanhänger sind von ihrem Führer abhängig, nirgendwo sozial- oder krankenversichert und erbetteln Millionen für den Luxus ihres Führers ..." Da sind sie immer noch, die grellen Klischees, ohne jeglichen Tatsachenbezug, wie am Tag, an dem Haack sie erfand. Und sie werden so lange durch die Gehirne geistern, wie die Eltern, die Erzieher und der Staat es zulassen, dass Kirchenvertreter unter dem Deckmantel der Gemeinnützigkeit Zwietracht und Konflikte säen und junge Menschen gegen ihre Mitbürger aufhetzen.

Wie um dem hier entstandenen Irrsinn die Spitze aufzusetzen, vereinbarten im Oktober 2001 die Universität Bayreuth und die evangelische Landeskirche in Bayern, gemeinsam ein "Institut zur Erforschung der religiösen Gegenwartskultur" einzurichten. In einer zweijährigen "Probephase" habe man bereits eng mit dem lutherischen "Beauftragten für religiöse Strömungen", Bernhard Wolf, zusammengearbeitet, der nun eigens seinen Dienstsitz nach Bayreuth verlegen werde. Wolf nannte die neue Einrichtung "eine zukunftsträchtige Investition" – für die Landeskirche "könnten die Erkenntnisse wertvolle Einblicke in neue geistige und religiöse Entwicklungen in den bayerischen Regionen geben". 220 Im Klartext: Unter dem Deckmantel der Wissenschaft werden religiöse Minderheiten ausgeforscht – und der Staat bezahlt für diese "Investition".

Die angebliche Gefahr ... gibt es gar nicht

Aber haben die vielen Minister, Politiker, Behördenvertreter nicht vielleicht doch recht, wenn sie immer vor den "Sekten" warnen? Ist da nicht vielleicht doch was dran? Können so viele verantwortungsvolle Amtsträger irren?

Sie können. Oder vielleicht müsste man sagen: Sie wollen es so. Denn wenn sie gewollt hätten, dann hätten sie die Forschungsergebnisse, die ihre Befürchtungen entkräftet hätten, nur zur Kenntnis zu nehmen brauchen.

Schon im April 1981 lagen die Ergebnisse einer Studie der CSU-nahen Hanns-Seidel-Stiftung vor. Demnach hatte eine Umfrage bei sämtlichen deutschen Staatsanwaltschaften und Landgerichten ergeben, dass alle Anzeigen wegen Betrugs, Freiheitsberaubung, Nötigung, Körperverletzung gegen neue religiöse Bewegungen eingestellt worden waren. Geahndet werden mussten allenfalls "minderkriminelle Delikte oder bloße Ordnungswidrigkeiten peripheren Charakters" wie Verstöße gegen das (Spenden-)Sammlungsgesetz oder gegen steuerliche Vorschriften. "Mit Nachdruck" wiesen die Autoren darauf hin, "dass die bestehende Rechtsordnung ausreicht, um Missbräuchen und Auswüchsen, die unter dem Deckmantel der Religionsfreiheit geschehen, entgegenzutreten." 221

An der Tatsache, dass die Gesetze unseres Staates ausreichen, um eventuelle Missbräuche oder Vergehen im Zusammenhang mit Glaubensgemeinschaften zu ahnden, hat sich bis heute nichts geändert.

Schon 1979 hatte Staatssekretär Ruder aus Baden-Württemberg erklärt, dass den "Jugendreligionen" strafbare Handlungen "nicht nachzuweisen" sind. "Anzeigen besorgter Eltern verlaufen im Sande, weil der ´Geschädigte` meist unwiderlegbar behauptet, sich aus freien Stücken der Sekte angeschlossen zu haben." 222 Auch die bayerische Staatsregierung kam 1980 zu dem Schluss: "Nach den bisherigen Erkenntnissen kann nicht davon gesprochen werden, dass von diesen Gruppen eine allgemeine ernste Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ausgeht." 223

Doch wie war das noch: Sind diese Sektierer vielleicht einfach zu raffiniert, als dass man ihnen so leicht etwas nachweisen kann? Ist nicht gerade die Tatsache, dass man ihnen nichts Konkretes nachweisen kann, ein starkes Indiz dafür, wie gefährlich eben die angebliche "Gehirnwäsche" ist, die "Persönlichkeitsveränderung", der sich ihre Anhänger unterziehen müssen?

Mit fast der gleichen "Logik" hat man übrigens während der Hexenverfolgungen argumentiert: Schreit die "Hexe" während der Folterung vor Schmerzen, so muss sie schuldig sein. Schreit sie aber nicht, so muss sie erst recht schuldig sein – denn wie könnte sie das sonst aushalten, wenn nicht mit Hilfe des Teufels?

Doch auch zu der Behauptung der angeblich manipulativen und negativen Veränderung der Persönlichkeit von Mitgliedern einer neuen religiösen Bewegung gibt es schon frühzeitig nüchterne Forschungsergebnisse. So musste der Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit bereits 1979 einräumen: "Der Nachweis, dass eine Jugendreligion allgemein gezielte Methoden und Techniken anwendet, die die Willens- und Entscheidungsfreiheit der Betroffenen einschränken oder gar völlig ausschalten, konnte bisher nicht erbracht werden." 224

Aber damit konnten sich die neuen Inquisitoren nicht zufrieden geben. Die Bundesregierung gab für 300 000 Mark eine Grundlagenstudie in Auftrag, die 1982 als "Wiener Studie" fertig gestellt wurde. Hier wurden Anhänger von vier neuen religiösen Bewegungen mit Tiefeninterviews untersucht: Vereinigungskirche, Ananda Marga, Scientology und Divine Light Mission. Das Ergebnis:

"Aufgrund der Auswertung der Tiefeninterviews und der psychologischen Testverfahren konnte nicht festgestellt werden, dass die NRB (Neue Religiöse Bewegungen) pathologische Syndrome in der psychischen Struktur ihrer Mitglieder hervorbringen. Psychisch labile Personen erfahren häufig durch den Anschluss an eine NRB eine gewisse Stabilisierung. So konnten viele eine frühere Drogenabhängigkeit überwinden. Bei der Ablösung von einer NRB treten zweifellos unterschiedlich schwere psychische Belastungen auf, die bei solchen, die schon vor ihrem Beitritt zur NRB psychische Störungen aufwiesen, zu schweren Krisen führen können. Die Mitglieder der NRB erfahren deutliche Veränderungen ihrer Persönlichkeit und ihrer Verhaltensweisen. Die Mitglieder beurteilen das ausschließlich als positiv, da sie ihrer Ansicht nach an Orientierung, Selbstsicherheit, Beziehungsfähigkeit, Ausgeglichenheit etc. gewonnen haben. Auch die Ehemaligen erwähnen diese Aspekte immer wieder und sehen in der Zeit der Mitgliedschaft meist eine konstruktive Phase ihres Lebens, über die sie jetzt hinausgewachsen sind. ... In keinem Fall konnten wir Hinweise auf eine so genannte Psychomutation finden." 225

Der Hinweis auf psychische Belastungen, die am ehesten noch bei einem Ausscheiden aus einer religiösen Gruppe auftreten können, ist in zweifacher Hinsicht bemerkenswert. Zum einen wird angemerkt, dass dies meist dann geschieht, wenn die betreffenden Personen "schon vor ihrem Beitritt ... psychische Störungen aufwiesen". Dies deckt sich mit den Ergebnissen des Heidelberger Psychiaters Lang, der in einer kleineren Studie zu dem Ergebnis kam, dass "die Zugehörigkeit zu Jugendreligionen vor dem Hintergrund vorgegebener Persönlichkeitsdefizite zu einem Auslöser für die pathologische Entwicklung in Form von psychotischen Entgleisungen werden kann". 226 Ein Auslöser ist etwas anderes als die Ursache. Auslöser für eine pathologische Entwicklung kann bei einer vorbelasteten Person so gut wie alles Neuartige sein, jede Veränderung ihrer Lebensumstände.

Zum anderen ist ein Teil der bei einem Ausscheiden auftretenden Störungen des seelischen Gleichgewichts womöglich darauf zurückzuführen, dass auf die Mitglieder solcher Bewegungen von außen ein massiver Druck ausgeübt wurde. Zu diesem Ergebnis kommt jedenfalls Wolfgang Kuner in einer Studie, die bei Mitgliedern der Kinder Gottes, der Vereinigungskirche und Ananda Margas durchgeführt und die im September 1981 in Psychologie heute veröffentlicht wurde: "Die Hauptursache für die im Zusammenhang mit der Mitgliedschaft in einer der neuen religiösen Bewegungen aufgetretenen ´psychischen Schäden` dürfte im Herausreißen/Hinauswurf der entsprechenden Mitglieder zu suchen sein, also in einer von außen aufgezwungenen Auflösung der intensiven psycho-sozialen Bindung an die Gruppe. Auch scheint eine Mitgliedschaft bei ´psychopathischer Vorbelastung` negative Folgen nach sich ziehen zu können." 227

Sogar eine Studie des Psychologen Petermann, für die man unter Federführung der AGPF nur negative Beispiele auswählte, bestätigt die schwerwiegenden Folgen des Herausreißens – und natürlich auch des gewaltsamen "Deprogrammierens". Dr. Karbe, Sprecher der AGPF, schreibt über diese Studie: "Um die Gruppe der Unfreiwilligen ist es am traurigsten bestellt. ... Diese Gruppe von Jugendlichen wirft die schwierigsten psychologischen und psychiatrischen Probleme auf." 228

Respektiert man hingegen den freien Willen, so kann ein Glaubenswechsel auch bei psychisch Labilen durchaus positive Seiten haben. Prof. Ottoson aus Stockholm kam 1975 in einer epidemiologischen Studie zu dem Ergebnis, "dass psychische Erkrankungen in weltanschaulich alternativen Gruppen 150-200mal weniger vorkommen als im Bevölkerungsdurchschnitt". 229 Das wäre dann das genaue Gegenteil von dem, was die Inquisitoren uns weismachen wollen.
Natürlich existieren neue religiöse Bewegungen nicht im luftleeren Raum. Auch bei ihnen kann es einzelne Mitglieder geben, die einmal straffällig werden oder vielleicht auch unter seelischen Störungen leiden. Eine seriöse Beurteilung wird den Prozentsatz solcher Einzelfälle immer in Bezug zum entsprechenden Prozentsatz in der Gesamtgesellschaft setzen und erst dann Rückschlüsse ziehen. Dies tut z. B. Kuner in der genannten Studie – und er kommt zu dem Ergebnis:

" ... 4. Eine Untersuchung von Mitgliedern dreier neuer religiöser Gruppen zeigt, dass ihre psychischen Profile, insgesamt betrachtet, im Normalbereich liegen.
5. Die Zahl ´psychopathischer Fälle` in den Gruppen entspricht in etwa derjenigen in einer studentischen Vergleichsgruppe und liegt in einem Fall sogar niedriger. ...
7. Ein Vergleich der nach Mitgliedschaftsdauer differenzierten Profilwerte lässt vermuten, dass Langzeitmitgliedschaft resozialisierende und ´therapeutische` Wirkung hat.
8. Ein einheitlicher Persönlichkeitstyp des ´Sektenmitglieds` war nicht vorhanden. Es fanden sich jedoch unterschiedlich starke, gemeinsame narzisstische Persönlichkeitszüge.
9. Eine in etwa entsprechende narzisstische Persönlichkeit kann auch bei einem Teil der betroffenen Eltern angenommen werden, womit sich deren ´Engagement` für die Rückgewinnung ihrer Kinder und gegen die neuen religiösen Bewegungen erklären lässt." 230

Auch in neue religiöse Bewegungen eingetretene junge Menschen spiegeln (wie alle Menschen) teilweise die psychische Struktur ihrer Eltern wider. Der Eintritt in eine neue Glaubensbewegung erfolgt in vielen Fällen aus dem Wunsch heraus, diese Struktur und damit die eigene Persönlichkeit zu verändern. Die Veränderung der Persönlichkeit kann ja durchaus auch etwas Positives sein – und letztlich ist das Ziel jeder Religion eine Veränderung der Persönlichkeit des Menschen, hin zu bestimmten ethischen Zielen, zu einer Hingabe an Gott, zum Frieden mit den Mitmenschen, mit der Natur, mit Gott. Es ist bezeichnend für den geistigen Zustand der Kirchen, dass sie Persönlichkeitsveränderung offenbar nur noch als etwas Negatives, Gefährliches wahrzunehmen vermögen.

Je mehr nun Eltern oder andere bisherige Bezugspersonen Einfluss zu nehmen versuchen, desto schwieriger kann für den Betroffenen die seelische Situation werden – je nachdem, wie unabhängig er innerlich ist. Dabei besteht die Gefahr, dass beispielsweise die Eltern den Kampf gegen die angeblich gefährliche "Sekte" unbewusst zum Vorwand dafür nehmen, eigene Erziehungsdefizite, eigene Anteile an einem Zerwürfnis mit ihren Kindern nicht zur Kenntnis nehmen zu müssen.

Genau dies scheint allgemein ein wichtiger Aspekt beim Verhalten von Kirche und Staat gegenüber neuen religiösen Bewegungen zu sein: Anstatt eigene Defizite wahrzunehmen und anzugehen, wird lieber ein Sündenbock gesucht. Es ist nämlich auffallend, dass die von Verleumdungsbeauftragten immer wieder angegebenen Kriterien für "Sekten" bei näherer Betrachtung samt und sonders auf Defizite der Kirchen selbst hindeuten, also psychologisch gesehen Projektionen sind: Der eigene Fehler wird verdrängt und auf andere projiziert. Der "Guru", der sich mit Personenkult feiern lässt, könnte z. B. auch der Papst sein; den "Absolutheitsanspruch" besitzt keine Religionsgemeinschaft so ausgeprägt wie die katholische Kirche; das "rettende Rezept" ist eigentlich ein Grundmerkmal jeglicher Religion, wird aber von den Amtskirchen kaum noch glaubwürdig vermittelt; welche innerlichen und äußerlichen "Schwierigkeiten" beim Ausstieg aus einer totalitären Gruppe wie der Romkirche entstehen, können viele aus ihr Ausgetretene aus eigener Erfahrung bestätigen – und so geht es weiter. Es gehört zu den eindrucksvollsten Beispielen für das Verdrängungsvermögen der menschlichen Psyche, dass sowohl Kirchenvertreter als auch Politiker und Journalisten immer wieder mit Inbrunst diese "Sekten-Kriterien" herunterbeten – aber dass weder sie selbst noch ihr Publikum merken, dass diese Kriterien am ehesten auf die Kirche selber zutreffen.

Nur selten gibt es Ausnahmen. Zu ihnen gehört Oberkirchenrat Michael Mildenberger, ein früherer Mitarbeiter der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen und als solcher "auch nicht frei von apologetisch-polemisch-tendenziösen Charakterisierungen der ´Sekten-Gefahr`" 231, der jedoch 1979 in seinem Buch "Die religiöse Revolte" schrieb:

"Die Gruppierungen der neuen Religiosität sind inzwischen so pauschal in die Ecke des Abseitigen und Kriminellen gerückt worden, dass nicht nur sie selbst sich mit einigem Recht als Opfer einer allgemeinen Hexenjagd vorkommen, sondern dass tatsächlich der Eindruck entstehen muss, hier werde ein Strohmann aufgebaut. Die These hat einiges für sich, dass die ´Jugendreligionen` in einer breiten Öffentlichkeit wieder einmal als Sündenbock herhalten müssen, den man, mit eigenen Sünden und Versäumnissen beladen, in die Wüste schickt." 232

Sekten sind also etwas sehr Praktisches. "Sekten", so der Sozialpsychologe Philip Jenkins, "üben eine praktische integrative Funktion aus, indem sie einen gemeinsamen Feind darstellen, einen ´gefährlichen Außenseiter`, gegen den die Allgemeinheit sich sammeln und sich der gemeinsamen Normen und Glaubensinhalte versichern kann." 233

Inquisition im Deutschen Bundestag

Die Suche nach einem Sündenbock zur Ablenkung von eigenen Defiziten ist auch unter Politikern beliebt. Mitte der neunziger Jahre, als das Thema Arbeitslosigkeit immer drängender wird, beschließt der deutsche Bundestag nicht etwa eine Enquete- (Untersuchungs-) Kommission zum Thema "Zukunft der Arbeit" (dieses Thema war als Alternative vorgeschlagen worden), sondern eine solche zum Thema "Sogenannte Sekten und Psychogruppen". Bereits der Einsetzungsbeschluss vom Mai 1996 zeigt, dass das Ergebnis der Untersuchung im Grunde vorweggenommen werden soll: Die Kommission soll in einer Analyse "die von diesen Organisationen ausgehenden Gefahren für den einzelnen, den Staat und die Gesellschaft erfassen" sowie "die offenen und verdeckten gesellschaftspolitischen Ziele dieser Organisationen aufarbeiten".

Wohlgemerkt: Die Kommission soll nach dem Willen des Parlaments nicht untersuchen, ob von den Organisationen, die untersucht werden sollen, Gefahren ausgehen, und, wenn ja, welche. Sie soll auch nicht untersuchen, ob diese Organisationen etwa überhaupt gesellschaftspolitische Ziele haben, womöglich sogar verdeckte. Nein, all dies wird als gegeben vorausgesetzt.

Aber auch die Auswahl der "Sachverständigen" ließ klar erkennen, wer hinter der ganzen Aktion steckte: die kleine radikale Minderheit der Rufmordbeauftragten der Großkirchen – in Verbindung mit ihren Zuarbeitern unter den Parlamentariern, die sich selbst die meisten der den Parlamentariern vorbehaltenen Plätze in der Kommission reservierten. "Unter den zugewählten zwölf Sachverständigen", so der Philosoph und Erziehungswissenschaftler Dr. Heiner Barz, "waren drei kirchliche und zwei staatliche Sektenbeauftragte, ein Mitglied stand der Verbandstätigkeit der Psychologen nahe, alle drei Juristen waren ausgewiesene Sektengegner." Damit hatten die Sektengegner unter den Sachverständigen eine Zweidrittel-Mehrheit. Barz fährt fort: "Ein faires Verfahren wäre unter diesen Vorzeichen schon fast einem Wunder gleichgekommen." 234

Das Verfahren verlief auch nicht fair. Zum einen hätte eine solche Kommission, wäre sie denn objektiv gewesen, auch untersuchen müssen, ob von den großen Kirchen Gefahren für deren Mitglieder und für die Gesellschaft ausgehen. Zum anderen wurden zu den untersuchten Glaubensgemeinschaften und Anbietern psychologischer Lebenshilfe fast ausschließlich sogenannte "Aussteiger" eingeladen und hinter verschlossenen Kommissionstüren zu ihren Erfahrungen und Meinungen befragt. Die betroffenen Organisationen erhielten keine Möglichkeit, zu diesen Aussagen Stellung zu nehmen, ja sie erhielten nicht einmal Kenntnis davon, was da besprochen wurde. Wenn sie eingeladen und befragt wurden, dann ohne Bezug zu den Anschuldigungen und mit anderen Themen. Wohl aber erhielten mit den "Sektengegnern" in Verbindung stehende Journalisten unter der Hand Abschriften der bei den Aussteiger-Vernehmungen angefertigten Protokolle. 235

"Es handelt sich um einen mehr als bedenklichen Vorgang", so ein Anwalt, der als Vertreter der Glaubensgemeinschaft Universelles Leben auch von derlei Machenschaften betroffen war. "Ein parlamentarisches Gremium, das über religiöse Gruppierungen den Daumen hebt oder senkt, weigerte sich, den elementaren Rechtsgrundsatz ´audiatur et altera pars` 236, einen der Grundbestandteile europäischer Rechtskultur, auch für sich gelten zu lassen! Derartiges gab es nur bei der mittelalterlichen Inquisitionsbehörde, die an der Wahrheit nicht interessiert war, sondern in jedem Fall verurteilen wollte." 237

Die Absurdität eines solchen Vorgehens wird spätestens dann deutlich, wenn man gedanklich den Spieß einmal umdreht: "Es war ungefähr so", schreibt Dr. Barz, "als hätte man einen staatlichen Untersuchungsausschuss über ´die Gefährdung der pluralistischen Gesellschaftsordnung durch den organisierten Katholizismus` einberufen, in dem die Betroffeneninitiative ehemaliger Kleriker, die Selbsthilfegruppen missbrauchter Messdiener und ehemaliger Pfarrhaushälterinnen und der ´Bund der Atheisten und Konfessionslosen` die Mehrheit hätten und als Experten Karlheinz Deschner (´Kriminalgeschichte des Christentums`), Tilmann Moser (´Gottesvergiftung`) und Prof. Franz Buggle (´Die Bibel propagiert den Genozid`) zugezogen würden." 238 Wobei in einem solchen Fall wenigstens konkrete, weil belegbare Ergebnisse zu erwarten gewesen wären.

Dennoch ging die Rechnung der Kommissionsinitiatoren nicht auf. Die von der Kommission in Auftrag gegebenen begleitenden Forschungsprojekte, die empirische Daten über die tatsächlichen Gefahren der neuen Religionen erbringen sollten, bestätigten das im Vorhinein aufgebaute Negativbild nicht. Wie hätten sie es auch gekonnt – hatten doch schon die zu Beginn der achtziger Jahre zum gleichen Thema durchgeführten Untersuchungen zu einer Entwarnung geführt, die aber von den maßgeblichen Stellen ignoriert worden war.

Die Kommission hatte offensichtlich die Perfektion eines mittelalterlichen Inquisitionsgremiums nicht ganz erreicht. Vermutlich um dies zu kaschieren, veröffentlichte man die mit öffentlichen Geldern durchgeführten Studien 239 erst einige Monate nach dem Abschlussbericht der Kommission vom 9. Juni 1998. Dass die Ergebnisse dieser Studien dennoch gleichzeitig mit dem Abschlussbericht bekannt wurden, verdanken wir dem Restbestand an demokratischen Verfahrensregeln, der in diesem insgesamt alles andere als demokratisch-fairen Verfahren eingehalten wurde: Die Bundestagsfraktion der Grünen entsandte nämlich mit Angelika Köster-Loßack eine Abgeordnete in die Kommission, der die kirchlich geprägte Voreingenommenheit gegenüber neuen religiösen Bewegungen und auch gegenüber den Anbietern psychologischer Lebenshilfe offenbar befremdlich vorkam. Und als Sachverständigen hatte die grüne Fraktion den Leipziger Religionswissenschaftler Hubert Seiwert benannt, der – in diesem Umfeld wird Selbstverständliches bemerkenswert – gemäß den Regeln seiner Wissenschaft große und kleine Religionsgemeinschaften mit denselben Maßstäben zu messen entschlossen war. Köster-Loßack und Seiwert veröffentlichten parallel zum Endbericht der Kommission ein Sondervotum, in dem sie die Ergebnisse der begleitenden Forschungsarbeiten zusammenfassten und dadurch der Öffentlichkeit überhaupt erst zugänglich machten. Sie berichten über die Ergebnisse unter anderem folgendes:
• Stichwort "Gehirnwäsche": "Die oftmals unter dem Stichwort ´Brainwashing`-These zusammengefassten Ergebnisse ... werden in der wissenschaftlichen Debatte sowohl methodisch als auch inhaltlich kritisiert und z. T. widerlegt." 240
• Stichwort "schwieriger Ausstieg": "Die Mitgliedschaft in NRB (neuen religiösen Bewegungen, Anm. des Autors) ist in der Regel relativ kurz und kann unter Umständen als eine Durchgangsphase angesehen werden ... Der von praktisch allen Autoren berichtete hohe Durchlauf in NRB mit relativ geringen Zeiten der Mitgliedschaft spricht gegen die These, dass einmal gewonnene Mitglieder nicht mehr in der Lage sind, sich aus eigener Energie wieder zu lösen." 241
• Stichwort "Abhängigkeit und Ausbeutung": "In allen sozialen Strukturen, die durch Abhängigkeitsverhältnisse und intensive emotionale Beziehungen gekennzeichnet sind, ist die Möglichkeit von absichtlichem Missbrauch ... gegeben. Es liegen entsprechende Erfahrungsberichte zu vielen Institutionen vor, z. B. zu den großen christlichen Kirchen, dem Schulwesen, der Psychiatrie, der Psychotherapie, dem Militär, der Ehe oder abhängigen Arbeitsverhältnissen. ... Der Kommission lagen keine empirischen Befunde vor, die die Annahme einer besonderen Form ´psychischer Abhängigkeit` in neuen religiösen Bewegungen begründen würde. Es gibt keine Hinweise auf das Vorliegen von ´religiöser Abhängigkeit`. Insbesondere lagen keine empirischen Belege vor, die es rechtfertigen würden, bei den Mitgliedern neuer religiöser Bewegungen Symptome wie ´Willenlosigkeit, Realitätsverlust` oder ´Aufhebung der für alle geltenden moralischen Grundsätze` zu konstatieren." 242
• Stichwort "Psychische Schäden": "Es gibt keine Hinweise darauf, dass die psychischen Probleme, die bei einigen Mitgliedern neuer religiöser Bewegungen konstatiert wurden, durch die Mitgliedschaft ausgelöst wurden, wenngleich dies im Einzelfall nicht ausgeschlossen werden kann. ... Es ist in diesem Zusammenhang festzuhalten, dass sich keine allgemeinen Aussagen über die psychischen Folgen einer Mitgliedschaft in einer neuen religiösen Bewegung machen lasen. Während einerseits negative Folgen wie die Verstärkung bestehender psychischer Probleme nicht ausgeschlossen werden können, kann andererseits auch auf positive Effekte verwiesen werden." 243
• Stichwort "Gesetzesverstöße": "Der Kommission lagen keine Hinweise darauf vor, dass Gesetzesverstöße durch neue religiöse Bewegungen oder ihre Mitglieder häufiger vorkommen als in anderen sozialen Kontexten." 244
• Stichwort "Wirtschaftliche Betätigung": "Bei den wirtschaftlichen Betätigungen neuer religiöser Gemeinschaften handelt es sich in der Bundesrepublik Deutschland um ein mit ökonomischen Kategorien nicht greifbares Randphänomen. ... Was als ´Wirtschaftsimperium` apostrophiert wird, entspricht nach den üblichen ökonomischen Kategorien einem mittelständischen Betrieb. Wenn die wirtschaftlichen Betätigungen religiöser Minderheiten mit denen der Großkirchen verglichen werden, müssen sie ebenfalls als unbedeutend angesehen werden." 245
• Stichwort "Unterwanderung": "Der Kommission lagen keine Informationen vor, die es nahe legen würden, dass Bürgerinitiativen und Bürger sowie Unternehmen, Verbände und Interessenvertretungen unbewusst in neue religiöse Bewegungen hineingezogen bzw. von diesen missbraucht werden. ... Es lagen der Kommission keine Informationen vor, die belegen würden, dass neue religiöse und weltanschauliche Bewegungen gesellschaftliche Veränderungen anstreben, die mit dem demokratischen Rechtsstaat nicht vereinbar sind`." Ebenso gab es "keine Belege dafür, dass neue religiöse Bewegungen ´die verfassungsmäßigen Rechte der Mitglieder einschränken oder beseitigen`". 246

Natürlich konnte die Enquetekommission diese Forschungsergebnisse in ihrem offiziellen Mehrheitsvotum nicht völlig ignorieren. Auch im Mehrheitsvotum wird immerhin zugegeben, dass in der wissenschaftlichen Literatur teilweise "therapeutische Effekte durch die Mitgliedschaft" aufgezeigt werden, dass "in aller Regel freiwilliger Ausstieg ohne fremde Hilfe möglich ist", dass keine "generelle Schädlichkeit" der Mitgliedschaft behauptet werden kann, dass "Krisen bei einem Austritt "weniger ein Ausdruck von ´Destruktivität` der vorherigen Mitgliedschaft" als vielmehr "eine Begleiterscheinung (sind), die mit jedem emotional bedeutsamen Rollenwechsel verbunden ist", dass das "psychische Empfinden der Mitglieder ... nach vorliegenden empirischen Studien in einem Normbereich (liegt), vergleichbar mit den Teilen der Bevölkerung, die nicht Mitglieder" sind, dass es keine Zwangsbekehrung zu neuen religiösen Bewegungen gibt, also keine "`Sekten-Konversion` durch eigene ´Psychotechniken` wie ´Gehirn-, Seelenwäsche` oder ´Psychomutation`". 247

Was insgesamt den Schluss nahe legte: "Zum gegenwärtigen Zeitpunkt stellen gesamtgesellschaftlich gesehen die neuen religiösen und ideologischen Gemeinschaften und Psychogruppen keine Gefahr dar für Staat und Gesellschaft oder für gesellschaftlich relevante Bereiche." 248 Dies einfach so stehen zu lassen, hätte aber überdeutlich die Frage aufgeworfen, weshalb diese Kommission dann überhaupt mit so großem Aufwand an Steuergeldern (ca. 2,5 Millionen DM) durchgeführt wurde und in wessen Interesse eigentlich. Also wurde diese klare Feststellung wieder vernebelt durch eine Reihe von Bemerkungen, die einer empirischen Grundlage entbehren. Da ist die Rede von "einigen Gruppen", in denen es "totalitäre Machtverhältnisse" 249 gäbe – welche das sein sollen, wird nicht gesagt, so dass im Grunde wiederum alle verdächtigt werden. Es wird – entgegen der Tatsache, dass es hierfür keinerlei empirische Belege gibt – von "Formen massiver psychosozialer Abhängigkeit" gesprochen, durch die es "durch bestimmte Techniken und Therapieformen" kommen könne. "Gezielt kriminelles Handeln und Verhalten" sei "feststellbar" (wo bitte?) und "ein Teil" (welcher?) "der neuen religiösen und ideologischen Gemeinschaften und Psychogruppen ist massiv konfliktträchtig". 250 Da ist es wieder, das neue Zauberwort, das gesellschaftliche "Un-Wort": "konfliktträchtig". Zur "Begründung" all dieser Vorwürfe verweist man allgemein auf Berichte von "Aussteigern" – als ob es nicht Hunderttausende "Aussteiger" aus den Kirchen gäbe, die allerlei Negatives über ihre ehemalige religiöse Heimat zu berichten hätten.

Es wäre aber auch verwunderlich gewesen, wenn die Drahtzieher der Kommission nach all der apologetischen Vorarbeit so einfach das Feld geräumt hätten. "Wird die Arbeit der Kommission fachlich kritisiert und ein Handlungsbedarf von Staats wegen verneint", so der Jurist Prof. Martin Kriele, "entfallen gut bezahlte Jobs." 251

Der gläserne homo religiosus

Dass die Kommissionsmehrheit nicht bereit war, von ihrer ideologisch vorgeprägten Einseitigkeit abzurücken, wird vollends deutlich, wenn man die Handlungs-Konsequenzen ansieht, die nach ihrer Ansicht aus den Ergebnissen gezogen werden sollten. Denn hier werden nun Forderungen erhoben, die zu den erbrachten Forschungsergebnissen in geradezu eklatantem Widerspruch stehen: Es soll eine staatliche "Informations- und Dokumentationsstelle" eingerichtet werden, die Material über neue religiöse Bewegungen sammeln, auswerten und dieses dann Behörden und öffentlich-rechtlichen Körperschaften – also auch den Kirchen! – zur Verfügung stellen soll. Diese mit Steuergeldern zu errichtende Dokumentationsstelle – eine Art "Glaubens-TÜV" 252, so der ehemalige Bundesverteidigungsminister Hans Apel (SPD) – soll auch die Öffentlichkeit über "die Gefahren im Bereich neuer religiöser und ideologischer Gemeinschaften und Psychogruppen aufklären" – über Gefahren also, die es doch offensichtlich gar nicht gibt oder jedenfalls nicht in höherem Maße, als sie in der Gesellschaft allgemein zu beobachten sind. Denn wenn man schon von "totalitären Organisationen" spricht, so müsste man, wie der Soziologe Prof. Erwin Scheuch anmerkt, dabei auch "Klöster, Kutter für Hochseefischfang oder Gefängnisse" 253 im Auge behalten. Und wenn der Staat vor den Gefahren psychosozialer Abhängigkeit bei neuen religiösen Bewegungen warnt, wie es die Enquete-Kommission fordert, so würde er dabei von dem psychologisch nicht fassbaren Idealbild eines "psychosozial autonomen Menschen" ausgehen: "Die Erziehungsarbeit des Staates hat hier noch gewaltige Aufgaben vor sich", bemerkt der Leipziger Religionswissenschaftler Prof. Seiwert nicht ohne einen gewissen Sarkasmus. "Ehe, Familie, Liebe, Freundschaft: Überall lauert die Gefahr psychosozialer Abhängigkeit. Wie viele Krisen und soziale Konflikte könnten vermieden werden, wenn der Staat seine Schutzpflicht ernster nähme! Wo bleibt die Aufklärung über die psychischen Gefahren der Ehe und ihre Konfliktpotentiale? Wer warnt die Menschen vor den massiven psychosozialen Abhängigkeiten, die die Gründung einer Familie mit sich bringen kann? Wie lange noch will der Staat tatenlos dem Leid unzähliger gescheiterter Beziehungen zusehen? Liebe, Freundschaft und emotionale Bindungen müssen in unseren Schulen endlich als das vermittelt werden, was sie sind: Formen psychosozialer Abhängigkeit!" 254

Ein Sammeln von Informationen über alle möglichen religiösen und weltanschaulichen Gruppierungen, so der Jurist Prof. Martin Kriele, ließe sich nur "durch ein flächendeckendes Netz von Beobachtern und Denunzianten" 255 bewerkstelligen – und das von Staats wegen! Es handelte sich dabei "nicht nur um ein Instrument zur Gedankenkontrolle und zur Einschüchterung, sondern auch zur Befriedigung eines religiösen Voyeurismus. Das sind Tendenzen, wie sie Aldous Huxley in seinem pessimistischen Zukunftsroman ´Brave New World` beschrieben hat." 256 Doch die Kommissionsmehrheit, "die ganz augenscheinlich ein gestörtes Verhältnis zu unserem grundgesetzlich geschützten Recht auf Religionsfreiheit" 257 hat (Hans Apel), stellt weitere Forderungen auf, von denen man den Eindruck gewinnt, dass sie im Vorhinein feststanden und den eigentlichen Zweck der Einrichtung der Kommission bildeten. So wird die Einrichtung einer "Bund-Länder-Stiftung" empfohlen, die in erster Linie zur finanziellen Unterstützung der "privaten Beratungs- und Informationsstellen" zum Thema "Sekten" dienen soll – wozu natürlich vor allem die kirchlichen Stellen zu rechnen sind. Da ist die Katze also aus dem Sack: Man will Steuergelder für die "Sektenverfolgung" locker machen. Die Kirchen, die ohnehin die reichsten privaten Institutionen im Lande sind, wollen sich die Dezimierung ihrer Konkurrenten auch noch vom Staat bezahlen lassen. Die Kommission fordert die Finanzierung von Forschungsvorhaben zu diesem Thema – der erste Auftrag ist inzwischen bereits vergeben worden, allerdings nicht an die schärfsten Sektengegner, wie diese es sich erhofften. Der Staat scheint offensichtlich gemerkt zu haben, dass er sich auf die Dauer lächerlich macht, wenn er den fanatischen Bekämpfern nicht-kirchlicher Gruppierungen in vollem Umfang nachgibt. Doch zu einem klaren Bekenntnis gegen eine Aushöhlung des Rechtsstaats, die mit solchen Forderungen zwangsläufig verbunden ist, haben sich weder die Regierung noch das Parlament durchringen können – der Endbericht der Enquetekommission wurde von der Mehrheit des Bundestages verabschiedet. Darin enthalten sind weitere "Empfehlungen" wie: "Aufklärungsveranstaltungen für Lehrer, Erzieher, Multiplikatoren ... Polizei." Nachdem es eine flächendeckende Kontrolle der Bevölkerung durch die Ortsgeistlichen und die Ohrenbeichte wie im Mittelalter nicht mehr gibt, muss man eben nach neuen Möglichkeiten suchen, um Vorurteile und Vorverurteilungen gegen Andersdenkende flächendeckend unter das Volk zu bringen. Weiter soll der Staat vor "dem Anspruch einer religiösen Gruppe auf die rigide Einhaltung von Lebensregeln" warnen. "Das kann nur heißen", so Prof. Kriele: "Der Staat soll Gruppenmitglieder zum Bruch der selbst eingegangenen Verpflichtungen, z. B. Mönche und Nonnen zum Verlassen ihrer Orden auffordern." 258 Und, ein ganz wesentlicher Punkt, der Staat soll Justiz und Verwaltung "mit höherer Priorität" über dieses Thema aufklären. Vorträge von "Sektenbeauftragten" auf Richterakademien finden ja schon regelmäßig statt – doch offenbar ist man in kirchlichen Kreisen mit den Ergebnissen dieser intensiven "Aufklärung" noch nicht zufrieden; noch nicht jeder Gerichtsprozess, in dem es um die Rechte religiöser Minderheiten geht, endet mit einem Urteil zugunsten der Kirchenvertreter.

Die rot-grüne Regierung (1998-2002) legte bei der Umsetzung der Forderungen der Enquete-Kommission zwar keinen sonderlichen Arbeitseifer an den Tag. Doch man weiß aus Erfahrung, dass aufgeschoben für die Kirchen noch lange nicht aufgehoben bedeutet.

Für das Gebiet der psychologischen Beratung müssen sich die Kirchen allerdings eine neue Strategie überlegen. Ein Entwurf eines Gesetzes zur "gewerblichen Lebensbewältigungshilfe" wurde Anfang 1998 wieder zurückgezogen, nachdem man offenbar gemerkt hatte, dass davon die Kirchen, die auf dem Gebiet der "Lebensberatung" zunehmend auch gewerblich tätig sind, selbst betroffen wären. Ein kirchlicher Inquisitor wie der langjährige Mitarbeiter der Ev. Zentralstelle für Weltanschauungsfragen, Hans-Jörg Hemminger, von dem weite Teile des Abschlussberichts der Enquete-Kommission stammen sollen 259, war zeitweise selbst bei einer obskuren "Gesellschaft für Biblisch-Therapeutische Seelsorge" tätig – obwohl er von seiner Ausbildung her gar kein Psychologe ist. 260 Hemminger und andere Kirchenvertreter gehen mit Verleumdungen und öffentlichen Kampagnen auch gegen Psychotherapeuten und Lebensberater vor. Gerhard und Maria Besier 261 berichten z. B. vom Fall des Nürnberger Gestalttherapeuten N.N., dessen Praxis vom katholischen Rufmordbeauftragten Ludwig Lanzhammer als "Psychosekte" mit "totalitärer Gruppenstruktur" bezeichnet wurde. Tatsache war lediglich, dass N.s Klienten gerne gemeinsame Wochenenden auf einem Reiterhof verbrachten und dabei in Reiterkleidung herumliefen. N. und sein Kompagnon wurden durch den Rufmord in ihrer beruflichen Existenz vernichtet.

"Faschistische Züge" der Sektenjagd

Kein Wunder, dass Prof. Martin Kriele von "faschistischen Zügen" solcher Sektenjagd spricht. In einer Presseerklärung vom 24. August 1998 stellt er klar: "Ich werfe den Sektenjägern nicht vor, dass sie ´Faschisten` seien. ... Es geht um bestimmte Elemente ihres Denkens und Agierens, die stark an die dreißiger Jahre erinnern." Kriele nennt unter anderem die "Aggressivität gegen wehrlose Minderheiten", die "Rechtsfremdheit" von Verfolgern, die immer wieder versuchen, die Rechtsregeln, die Minderheiten schützen sollen, zu durchlöchern, den "diffamierende(n), oftmals geradezu hysterische(n) Stil der Sektenjagd, der dem Stil der Nazipresse durchaus vergleichbar ist", die "intellektuelle Primitivität", die sich mit einfachsten Negativ-Etikettierungen begnügt sowie die Einschüchterung und das Mitläufertum, die dadurch bei vielen Zeitgenossen hervorgerufen werden, kurzum: "... ein Klima des Terrors und der Hysterie ..." 262

Den Kirchen ist es auf diese Weise gelungen, die "Sekten" zum "beliebtesten" Feindbild unserer Tage zu machen. In einer Umfrage sprachen sich 80 Prozent der Befragten dafür aus, "die Sekten zu verbieten" 263 – und das, obwohl höchstens ein halbes Prozent der Bevölkerung neuen religiösen Bewegungen angehört. 264

Auf diesem Hintergrund lässt sich auch verstehen, weshalb kirchliche Verleumdungsbeauftragte mit Parteivertretern sowohl des linken als auch des rechten Spektrums intensiv zusammenarbeiten. Das liegt wohl nicht nur an der Kirchenbindung der Politiker: der eher katholischen in der CSU und der eher protestantischen in der SPD. Es liegt möglicherweise auch daran, dass sowohl die Kirche als auch eine gewisse "linke" Weltanschauung in einem Punkt übereinstimmen: Der Mensch als solcher ist schwach, ein "Sünder", und das soll auch so bleiben; er braucht deshalb fürsorgliche "Betreuung" von Kirche und Staat. Jegliche Ethik und Moral, die höhere Anforderungen an ihn stellt, ist von Übel, da sie ihn in der "freien Entfaltung" seiner schwachen und sündhaften Persönlichkeit nur behindern würde. Ein geistig-religiöser Weg, der dem Menschen die Möglichkeit vor Augen stellt und das Ziel vorgibt, sich persönlich zum Besseren zu verändern, ist zu bekämpfen, da dies erstens unmöglich ist und zweitens zur Folge hätte, dass die Menschen sich am Ende einbilden, sie könnten besser wissen, wie sie ihr Leben gestalten wollen, als ihre religiösen und politischen Heilslehrer. Der Konstanzer Jurist Prof. Heinrich Wilms bescheinigt denn auch der Mehrheit der Enquete-Kommission "ein quasi-totalitäres Fürsorgeverhalten, das von dem Streben beherrscht wird, nicht-konformistische Glaubensüberzeugungen möglichst zu verhindern". 265 Und die Richterin Dorothee Osterhagen fügt hinzu: "Das hier transparent werdende Menschenbild eines weltanschaulich und bei der Sinnfindung staatlich konfliktgeschützten und dadurch in seiner Persönlichkeitsentwicklung degenerierenden Verbrauchers/Bürgers ist erschütternd." 266

Auch Martin Kriele 267 konstatiert eine merkwürdige Koalition von linken mit kirchlichen Kräften. Ein militanter Atheismus, ein "fanatischer Eifer zur Ausrottung der Religion an sich" verbinde sich mit der kirchlichen Hierarchie gegen neue religiöse Strömungen. In der Theologie sei vieles an den Zeitgeist angepasst worden: ein "theologischer Rationalismus" habe Einzug gehalten, in dessen Rahmen Jesus Christus nicht mehr Gottes Sohn, sondern nur ein besonders moralischer Mensch gewesen sei usw. Doch viele Menschen fühlen sich in den Kirchen nicht zu Hause, sie suchen anderswo eine innere Orientierung. "Damit hatten die modernen Theologen nicht gerechnet. Sie sahen sich um ihren endgültigen Triumph gebracht ... Sie waren aufs Äußerste alarmiert und bliesen zum Kampf gegen ein religiöses und spirituelles Leben, das sich ihrer Kontrolle einfach entzog." Die Bekämpfer jeglicher Religion hingegen sahen für ihre Sache "nichts gewonnen, wenn die Kirchen schwinden und sich trotzdem ein neues religiöses Leben entfaltet. Dieses ist zunächst in die Kirchen zurückzutreiben, um dann zusammen mit ihnen unterzugehen."

Auch durchaus kirchenkritische Journalisten wie Peter Wensierski vom Spiegel werden plötzlich völlig unkritisch, wenn es gegen die "Sekten" geht – und übernehmen dann kirchliche Behauptungen, ohne sie zu überprüfen: "In Deutschland ist eine unüberschaubare Vielzahl von neuen religiösen und ideologischen Gemeinschaften und Psychogruppen entstanden. Rund 800 hat die Evangelische Zentralstelle für Weltanschauungsfragen bislang registriert ... In manchen dieser Zirkel sind Folter, Vergewaltigung und psychischer Terror üblich ... Eltern beklagen der Verlust ihrer Kinder, Freiheitsberaubung, Nötigung, Betrug, Urkundenfälschung und Wucher, Körperverletzung und Vergewaltigung. Kinder werden Opfer körperlicher Misshandlung oder sexuellen Missbrauchs." 268

Wohlgemerkt: Der "kritische Journalist" spricht hier nicht von Fällen sexuellen Missbrauchs durch katholische Geistliche, die in großer Anzahl gerichtsbekannt sind. Er unterstellt dies den "Sekten", ohne irgend etwas davon nachzuprüfen – und ohne zu erfassen, dass es ja dann eine Flut von Aufsehen erregenden Prozessen geben müsste.

Den Koalitionären gegen die neue Religiosität kam es zugute, so Kriele weiter, "dass die liberale Tradition in Deutschland nie sehr gefestigt war". "Es ist, als bräuchten die Deutschen Ersatz dafür, dass sie sonst nicht mehr diskriminieren dürfen." Auf allen Gebieten werden in der Tat Diskriminierungen bekämpft: gegen die Ausgrenzung von Ausländern, Frauen, Juden, Behinderten, Farbigen wird mit Recht vorgegangen. Doch ausgerechnet "der Respekt vor Religion und Weltanschauung", so Kriele, ist für die Deutschen "das letzte, was sie begreifen". Das mag auch daran liegen, dass nirgendwo in Europa der Hexenwahn, die "Tradition des Grauens vor Magie und Esoterik", so intensiv wütete wie in Deutschland. Hier wurden "die Hexenrichter als Beschützer und Befreier empfunden, denen man so dankbar vertraute wie heute den Sektenbeauftragten. Dem Unrecht entgegenzutreten wäre nicht populär gewesen. Man wollte sich nicht exponieren ... Wie der Wind geht, so neigt sich der Halm."

Es wird von uns allen abhängen, ob es den Großkirchen gelingt, das Gift des Feindbilds "Sekte" immer tiefer in die Gesellschaft einzuträufeln – und dabei weiterhin ihre eigenen Privilegien abzusichern. Oder ob das "Ross Staat" den "Reiter Kirche" endlich abwirft, der immer noch das Ross lenkt und sich von ihm tragen lässt. Solange der Staat nicht dafür sorgt, dass alle Glaubensrichtungen gleich behandelt werden, so lange muss man sich um die Religionsfreiheit in diesem Lande (und auch in einigen Nachbarländern) Sorgen machen. Denn: "Nicht die neuen religiösen Bewegungen sind ein Problem, sondern der Umgang von Kirche und Staat mit religiösen Minderheiten." 269 Genau dieses Problem wird uns im folgenden Kapitel exemplarisch begegnen, wenn die Verfolgung einer religiösen Minderheit als ein Beispiel dargestellt wird.



Fußnoten
:
165  Ernst Klee, "Die SA Jesu Christi", Frankfurt 1989, S. 113 f.
166  Der Theologe, "Die evangelische Kirche und der Holocaust", Wertheim 1999, S. 34, theologe.de/theologe4.htm
167  Göttinger Tagblatt, 6.8.1993
168  Der Theologe, a.a.O., S. 45
169  ebenda, S. 47
170  Karlheinz Deschner, "Die Politik der Päpste im 20. Jahrhundert", 1991, Teil II, S. 77
171  Rainer Schepper, "Das ist Christentum", Neustadt am Rübenberge 1999, S. 219
172  Deschner, a.a.O., Teil I, S. 252
173  ebenda, Teil II, S. 351
174  vgl. zum Thema Kirche und Geld: Carsten Frerk, "Finanzen und Vermögen der Kirchen in Deutschland", Aschaffeburg 2002
175  "Nachrichten der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern", 1967, S. 326 f.
176  Norbert Thiel, "Der Kampf gegen neue religiöse Bewegungen", Mörfelden 1986, S. 72 f.
177  Passauer Neue Presse, Lokalteil Landau, 10.11.2001 (Internet-Datum)
178  Hubertus Mynarek, "Die neue Inquisition", Marktheidenfeld 1999, S. 302
179  Deschner, Kriminalgeschichte, Bd. I, S. 481
180  Mynarek, a.a.O., S. 185 ff.
181  Brief liegt dem Autor vor
182  Thiel, a.a.O., S. 71
183  Deschner, Abermals krähte der Hahn, S. 436
184  Thiel, a.a.O., S. 71
185  vgl. Massimo Introvigne, "Religiöse Minderheiten und ‘moral panics`" in: Besier/Scheuch (Hg.), "Die neuen Inquisitoren", Zürich 1999, Bd. 1, S. 78 ff.
186  vgl. H. Newton Malony, "Bewusstseinskontrolle aus psychosozialer Perspektive" in: Besier/Scheuch, a.a.O., Bd. 1, S. 100 ff., insbes. S. 118
187  vgl. Konrad Löw, "’Auf, auf zum fröhlichen Jagen`: Erfahrungen mit Manichäern" in: Besier/Scheuch, a.a.O., Bd. 1, S. 255 ff., insbes. S. 266: "Bei seinen Nachforschungen sei er [Dr. Gunther Klosinski, Univ. Tübingen, Anm. des Autors] zu dem Ergebnis gekommen, dass mehr Menschen in dieser Vereinigung [hier: Bhagwan, Anm. des Autors] eine Stabilisierung ihres labilen psychischen Zustandes gewonnen hätten, als Destabilisierungen zu verzeichnen seien."
188  Wynfrith Noll, "Wenn Frommsein krank macht”, Planegg 1989; Wendell W. Watters, "Tödliche Lehre", Neustadt/Rbge 1995; Richard Picker, "Krank durch die Kirche", Köln 2000
189  Thiel, a.a.O., S. 72
190  ebenda, S. 70
191  ebenda, S. 55
192  ebenda, S. 56
193  Introvigne in Besier/Scheuch, a.a.O., Bd. 1, S. 78 f.
194  Welt am Sonntag, 29.9.1974
195  Religion heute, Nr. 4/1979
196  Thiel, a.a.O., S. 82
197  ebenda, S. 84
198  ebenda, S. 88
199  ebenda, S. 179
200  ebenda, S. 137
201  ebenda, S. 100
202  ebenda, S. 162
203  ebenda, S. 88
204  ebenda, S. 172
205  ebenda
206  Mynarek, a.a.O., S. 28
207  ebenda, S. 278 f.
208  Thiel, a.a.O., S. 138
209  Der Spiegel, 17.5.1993
210  Johannes Neumann, "Wenn Juristen ´Schutzengel` spielen, ist die Religionsfreiheit in Gefahr", in: Besier/Scheuch, a.a.O., Bd. 1, S. 254
211  Besier/Scheuch (Hg.), a.a.O., S. 444
212  Berliner Morgenpost, 20.12.1997
213  Nordelbische Zeitung, 11.10.1996
214  Süddeutsche Zeitung, 1.9.2000
215  AP-Meldung, 7.10.1994
216  dpa-Meldung, Landesdienst NRW, November 1994
217  Thiel, a.a.O., S. 139
218  Berliner Morgenpost, 25.8.1999
219  Berliner Morgenpost, 25.3.1995
220  Süddeutsche Zeitung, 28.10.2001; Ev. Sonntagsblatt (Bayern), 4.11.2001
221  Thiel, a.a.O., S. 108 f.
222  ebenda, S. 109
223  ebenda, S. 111
224  ebenda, S. 115
225  ebenda, S. 116
226  ebenda, S. 118
227  ebenda, S. 117 ff.
228  ebenda, S. 119
229  Besier/Scheuch, a.a.O., Bd. 2, S. 440
230  Thiel, a.a.O., S. 117
231  Mynarek, a.a.O., S. 415
232  Thiel, a.a.O., S. 123
233  Besier/Scheuch, a.a.O., Bd. 1, S. 82
234  ebenda, S. 379
235  ebenda, S. 335
236  Auch die andere Seite soll angehört werden
237  ebenda, Bd. 2, S. 384
238  ebenda, S. 379 f.
239  "Neue religiöse und ideologische Gemeinschaften und Psychogruppen – Forschungsprojekte und Gutachten der Enquete-Kommission", Hamm/Hoheneck 1998
240  Endbericht der Enquete-Kommission "Sogenannte Sekten und Psychogruppen", Bundestags-Drucksache 13/10950, S. 163
241  ebenda, S. 165
242  ebenda, S. 167
243  ebenda, S. 168
244  ebenda, S. 171
245  ebenda, S. 171 f.
246  ebenda, S. 175, 185
247  ebenda, S. 60, 149
248  ebenda, S. 149
249  ebenda, S. 40
250  ebenda, S. 149
251  Besier/Scheuch, a.a.O., Bd. 1, S. 304
252  ebenda, S. 276
253  ebenda, S. 288
254  ebenda, S. 345 f.
255  ebenda, S. 316
256  ebenda, S. 317
257  ebenda, S. 279
258  ebenda, S. 328
259  Westfalenblatt, 11.6.1998
260  Gerhard und Maria Besier, "Die Rufmordkampagne", Editions La Colombe, Bergisch Gladbach 2002, S. 101 ff.
261  ebenda, S. 13 ff.
262  Besier/Scheuch, a.a.O., Bd. 1, S. 403
263  ebenda, S. 311
264  ebenda, S. 315
265  Besier/Scheuch, a.a.O., Bd. 1, S. 226
266  ebenda, Bd. 2, S. 444
267  Martin Kriele, "Religiöse Diskriminierung in Deutschland", Zeitschrift für Rechtspolitik Nr. 11/2001, S. 495 ff.
268  "Krieg gegen Dämonen", Der Spiegel Nr. 41/2001
269  Besier/Scheuch, a.a.O., Bd. 2, S. 433

 



13) Die Inquisition – Nachrichten


3.2.2012 –
Der Krieg der Kirche gegen die Wahrheit – 17.2.1600: Giordano Bruno auf dem Scheiterhaufen lebendig verbrannt. Was dachte Giordano Bruno? – Er lehrte die Unendlichkeit des Kosmos. In seinem Werk De l'Infinito, Universo e Mondi (Über die Unendlichkeit, das Universum und die Welten) erklärte der Naturphilosoph, dass die Sterne wie die Sonne seien, dass es eine unendliche Anzahl von Welten gebe und diese mit einer unendlichen Anzahl intelligenter Lebewesen bevölkert seien. Er lehnte damit die katholische Lehre von der Erde als dem Mittelpunkt des Kosmos und der Sonderstellung des Menschen und dem Papst als "Lenker des Erdkreises" ab. Die kirchliche Vorstellung steht im Gegensatz zur Einheit der Natur und führt nun im 21. Jahrhundert in seinen Folgen auch mehr und mehr zum Niedergang des ganzen Planeten Erde (siehe hier).
Bruno lehnte auch den katholischen Marienkult und die Heiligenverehrung ab und wurde wegen verschiedener Thesen in Deutschland zunächst von den Lutheranern und Reformierten, den Calvinisten exkommuniziert. So lehrte er z. B. die Willensfreiheit, die von den Lutheranern abgelehnt wird. Giordano Bruno stimmte auch den evangelischen und katholischen Vorstellungen über eine Gottessohnschaft von Christus im Rahmen einer Dreieinigkeitslehre und den kirchlichen Lehren vom Jüngsten Gericht nicht zu.
Er musste aus vielen Ländern Europas (auch Schweiz, Frankreich, England, Tschechien) immer wieder fliehen, da er überall mit der Macht der Kirche in Konflikt geriet. Bei seinem Aufenthalt in Venedig wurde er gefangen genommen und 1593 in der Engelsburg im Vatikan fest gesetzt. Auf das Todesurteil antwortete er mit den Worten: "Mit größerer Furcht verkündet Ihr vielleicht das Urteil gegen mich, als ich es entgegennehme."
"Von fast achtjähriger Kerkerhaft körperlich gebrochen, wurde der 52-jährige Giordano Bruno am 17. Februar 1600 auf dem Campo de` Fiori in Rom auf dem Scheiterhaufen hingerichtet.
Vor der Hinrichtung wurde Giordano Bruno angeblich die Zunge festgebunden, damit er nicht zum anwesenden Volk sprechen konnte" (Wikipedia: Stand 3.2.2012). Seine Bücher standen seither ununterbrochen auf dem Index verbotener Bücher der römisch-katholischen Kirche (den es bis 1966 gab). Das Giordano-Bruno-Denkmal auf dem Campo de´ Fiori wurde 1889 trotz des Protestes von Papst Leo XIII. errichtet.
Erst 400 Jahre später, im Jahr 2000, sagte der päpstliche Kulturrat, dass es nicht richtig gewesen sei, Bruno einst ermordet zu haben (das haben alle anderen aber schon viel früher gesagt). Rehabilitiert wurde er wegen seines "Pantheismus" nicht. Denn Bruno lehrte, dass "Gott allem innewohne" (so wie Jesus lehrte: "Das Reich Gottes ist  
i n
   euch"); der ganze Kosmos sei geistig, was weiterhin auf erbitterten Widerstand der Kirche stößt. Giordano Bruno nahm viele naturwissenschaftlichen Erkenntnisse vorweg, vor allem die Ergebnisse der modernen Quantenphysik.

Weitere Nachrichten zum Thema "Inquisition" und "Moderne Inquisition" finden Sie in:
Der Theologe Nr. 60 – Ein Mahnmal für die Opfer der Kirche in jeder Stadt, in jedem Dorf

Der Theologe Nr. 23 – Der Staatsross und sein kirchlicher Reiter

darin z. B.
 Böser Missbrauch unseres Staates – Bundesverdienstkreuz für evangelischen Sektenbeauftragten Thomas Gandow, der religiöse Minderheiten bekämpft / Entwertung des Ordens
 



26.8.2014 / 27.10. / 28.10.2015 – Galilei wurde gar nicht rehabilitiert – Am 22. Juni 1633 wird Galileo Galilei (1564-1542) von einem Inquisitionstribunal unter Androhung des Todesurteils dazu verurteilt, seine wissenschaftlichen Erkenntnisse über die Bewegung der Himmelskörper nicht nur zu widerrufen, sondern zu verfluchen und zu verwünschen. Er musste also unter Androhung der Hinrichtung verfluchen, dass sich die Erde um die Sonne und um sich selbst dreht, und er wurde verurteilt, wieder daran zu glauben, dass sich die Sonne und alle anderen Planeten um die Erde drehen; nämlich um den Planeten, auf dem die Vatikankirche die Herrschaft ausübt und auf dem sich jeder Mensch dem Papst unterwerfen müsse. Dieser Planet mit seinem angeblichen Zentrum, dem Stuhl Petri in Rom, muss auch der Mittelpunkt des ganzen Kosmos sein, so die Zwangslehre der Vatikankirche, die Kritiker auch als größenwahnsinnig bezeichnen.

346 Jahre später, am 10. November 1979, bedauerte Papst Wojtyla in der Päpstlichen Akademie der Wissenschaften, dass Galileo "von den Männern und Organen der Kirche viel zu leiden gehabt" habe. (Wohlgemerkt: nicht von der Kirche selbst!) Bei dieser Gelegenheit sprach der Papst den Wunsch aus, "dass Theologen, Gelehrte und Historiker, vom Geist ehrlicher Zusammenarbeit beseelt, die Überprüfung des Falles Galilei vertiefen und in aufrechter Anerkennung des Unrechtes, von welcher Seite es auch immer gekommen sein mag, das Misstrauen beseitigen, das dieses Ereignis noch immer in vielen Geistern gegen eine fruchtbare Zusammenarbeit von Glaube und Wissenschaft, von Kirche und Welt hervorruft." (Zitat von Johannes Paul II., auf das er selbst in seiner eigenen Ansprache an die Teilnehmer der Vollversammlung der Päpstlichen Akademie der Wissenschaften am 31.10.1992 noch einmal verweist, zit. nach vatican.va)

Foto: Briefmarke mit Galileo Galilei aus der Sowjetunion (1964; gemeinfrei lt. Part IV of Civil Code No. 230-FZ der Russischen Föderation von 2006) 

Die Papstrede von 1979 ist ein anschauliches Beispiel dafür, wie die Kirche der Öffentlichkeit Sand in die Augen streut, indem sie ihr weismacht, sie würde ihre Vergangenheit bewältigen. Doch Papst Karol Wojtyla hatte im Jahr 1979 das Urteil des Inquisitionsgerichts von 1633 nicht angetastet. Er hatte stattdessen die Entscheidung darüber auf unbestimmte Zeit verschoben ("die Überprüfung des Falles ... vertiefen") und er hatte die Schuld der Kirche weder eingestanden noch bereut. Mehr noch: Er hat Galileo zwischen den Zeilen erneut verurteilt: "... von welcher Seite es [das Unrecht] auch immer gekommen sein mag" – etwa von Galileo? Die Schuld an den Vorwürfen, die seither auf der Kirche lasten, hat er dabei elegant den Kritikern zugeschoben und deren Misstrauen, "das dieses Ereignis noch immer in vielen Geistern ... hervorruft". Im Geist und im Gemüt der Kirchenoberen bewegt sich diesbezüglich offenbar nichts! Oder nur sehr, sehr, sehr wenig. Von 1981-1992 hatte immerhin eine Studienkommission im Vatikan den päpstlichen Wunsch aus dem Jahr 1979 nach "vertieften Überprüfungen" erfüllt und dem Papst übermittelt.

Und so dauerte es weitere 13 Jahre, bis Papst Johannes Paul II. aus diesem Grund noch einmal auf Galilei zurückkam, in einer erneuten Ansprache vor der Vollversammlung der Päpstlichen Akademie der Wissenschaften am 31.10.1992, über 350 Jahre nach Galileis Tod. Hat er wenigstens jetzt Galilei rehabilitiert? Am Vorabend des 21. Jahrhunderts? So haben es Journalisten in alle Welt verkündet. Doch der Papst vermied auch bei diesem Anlass klare Worte. Mit spürbar zerknirschten Unterton gab er zu: "In Zukunft wird man die Ergebnisse der Kommission berücksichtigen müssen" (zit. siehe oben).  Doch was heißt das nun konkret? Was müsse nun berücksichtigt werden, wofür die päpstlichen Gelehrten 11 Jahre Studien benötigten?
 
Vorab ein Aspekt der Lehre des Jesus von Nazareth, eine Aussage aus seiner Bergpredigt: "Euer Ja sei ein Ja, euer Nein ein Nein; alles andere stammt vom Bösen." (Matthäus 5, 37)
Nun zum Vergleich etwas von dem "Anderen",  das demnach "vom Bösen stammt":
Für die Vatikankirche lief die "vertiefte Überprüfung" des "Falles Galilei" Ende des 20. Jahrhunderts (!) darauf hinaus "dass es jenseits zweier einseitiger und gegensätzlicher Ansichten eine umfassendere Sicht gibt, die beide Ansichten einschließt und überwindet", so der Papst wörtlich im Jahr 1992 zusammenfassend. Dabei dachte Karol Wojtyla an die Relativitätstheorie von Albert Einstein einerseits und an modernere Deutungen der Bibel durch die Romkirche andererseits. Trotz des vielen Honigs, den Papst Wojtyla Galileo notgedrungen um den Mund rieb (vatican.va), ist das keine Rehabilitation. Sollte es anders sein, hätte man ja nur zu sagen brauchen: "Das Inquisitionsgericht unserer Kirche hat ein falsches Urteil gefällt. Wir nehmen es hiermit zurück."
Stattdessen bedeutete die angebliche "Rehabilitation Galileis" in Wirklichkeit:
1) Das Inquisitionstribunal von 1633 habe dem Sinn nach nicht geirrt, sondern habe nur "einseitig" geurteilt, indem man die Bibel mit dem damaligen Stand der Wissenschaft interpretiert habe und einen möglichen Fortschritt der Wissenschaft nicht einkalkuliert hatte, was ein Fehler gewesen sei.
2) Galileo Galileis Erkenntnisse seien aber ebenfalls einseitig gewesen, weil sie angeblich "tiefere" Aspekte des katholischen Glaubens nicht berücksichtigten und selbstverständlich auch noch nicht die moderne Weltinterpretation der "Relativität" beinhalteten. Galileis Einsichten würden durch die Vatikanlehre der Gegenwart nun "überwunden", indem man das, was sich von seinen Aussagen nicht mehr bestreiten lässt, einfach im Katholizismus mit "einschließt", also vereinnahmt.

Doch so geht das nicht. Papst Johannes Paul II. spekulierte womöglich darauf, dass keinem wachen Zeitgenossen dazu der dogmatisch für "unfehlbar" erklärte Lehrsatz des 1. Vatikanischen Konzils einfällt, welcher lautet:
"Wer sagt, es sei möglich, dass man den von der Kirche vorgelegten Glaubenssätzen entsprechend dem Fortschritt der Wissenschaft gelegentlich einen anderen Sinn beilegen müsse als den, den die Kirche verstanden hat und versteht, anathema sit, der sei verflucht" (zit. nach Neuner/Roos, Nr. 57). Anders herum formuliert: "Deshalb muss auch immer jener Sinn der Glaubenswahrheit beibehalten werden, der einmal von der heiligen Mutter Kirche dargelegt worden ist; nie darf man von diesem Sinn unter dem Schein und Namen einer höheren Erkenntnis abweichen." (zit. nach Neuner/Roos Nr. 386)

Solange der Vatikan also behauptet, dass Im Verdammungsurteil gegen Galilei nur die damalige Interpretation der Bibel fehlerhaft gewesen wäre, nicht jedoch das Urteil als Ganzes, solange legt man dem Urteil praktisch nur einen neuen, einen "anderen Sinn" bei. Auf diese Weise verurteilt man sich aber lt. diesem Lehrsatz unter Nr. 57 bei Neuner und Roos "unfehlbar" selbst in eine angeblich ewige Verdammnis. Also auf gut Deutsch: "Ab in die Hölle mit der Päpstlichen Kommission und dem damaligen Kirchenführer!"

Mit Logik und gesundem Menschenverstand hat das alles nichts zu tun, und es ist für Außenstehende Energievergeudung, hier eine Logik hinein konstruieren zu wollen. Deshalb warnte ja Papst Franziskus auch vor dem Gebrauch des gesunden Menschenverstands. Die ganzen vatikanischen Verrenkungen und Absurditäten haben aber erst dann ein Ende, wenn die Menschen dafür keine Kirchensteuern und Abgaben mehr bezahlen und sich auch nicht mehr als gläubige "Lemminge" vereinnahmen lassen.

Doch das Trauerspiel des Vatikans um Galilei hat noch eine weiteres Kapitel: Die Päpstliche Akademie der Wissenschaft, deren Forschungsergebnis der Papst seither "berücksichtigen müsse", wollte im Jahr 2009 für Galileo Galilei ein Denkmal in den Gärten des Vatikan aufstellen. Denn das Jahr 2009 war von den Vereinten Nationen als "Internationales Jahr der Astronomie" ausgerufen, zur Erinnerung an den ersten Gebrauch eines Teleskops durch Galilei. Ein Sponsor war auch schon gefunden, es wäre also nicht mit Kosten verbunden gewesen. Doch der Vatikan hat sich geweigert, "ohne Angabe von Gründen". Die Gründe kann sich jeder selbst denken.
"Zum Teufel mit dem Astronom", so dachte sich das Inquisitionstribunal 1633, und wie ist es heute? Jetzt müsse man sich schon wieder mit diesem Mann beschäftigten, nachdem die päpstlichen Verrenkungen aus dem Jahr 1992 doch den abschließenden Eindruck vermitteln sollte, die Kirche hätte
ihn rehabilitiert. Nicht, dass man da noch einmal näher hinschaut, so dachte sich vielleicht so mancher. Was tun?
"
Der Vatikan habe dem Sponsor vorgeschlagen, stattdessen Institutionen zur Förderung von Philosophie und Wissenschaften in Afrika zu unterstützen." (focus.de, 29.1.2009; focus.de)


 



Links:

Der Theologe Nr. 86 – 20 Jahrhunderte Verfolgung: Die Bedeutung der Inquisition

Der Theologe Nr. 89 – Der Inquisitor, "der alle Register zog": Kirchenrat und Sektenbeauftragter Dr. Wolfgang Behnk

Wie ausgerechnet aus dem kirchlichen Finanzimperium heraus kleinere Betrieben einer urchristlichen Gemeinschaft verleumdet werden


Der Autor dieser Untersuchung: Dieter Potzel, Evangelischer Theologe und ehemaliger evangelischer Pfarrer

Der Text  kann wie folgt zitiert werden
:
Zeitschrift "Der Theologe", Hrsg. Dieter Potzel, Ausgabe Nr. 12: Sektenbeauftragte – die neuen Inquisitoren, Würzburg 1996, zit. nach
theologe.de/theologe12.htm, Fassung vom 24.9.2024;
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